Читать книгу Der Chor in den Tragödien des Sophokles - Bastian Reitze - Страница 22
I. Chöre wehrfähiger Männer 1. Philoktet Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur
ОглавлениеNeben dem Oidipus auf Kolonos ist die vorliegende Tragödie die einzige in Sophoklesʼ überliefertem Werk, deren Aufführung sich sicher, d.h. auf Basis externer Quellen, datieren lässt: Sie fand im Jahr 409 im Rahmen der städtischen Dionysien statt.1 Zunächst soll hier kurz die Handlung repetiert werden.
Philoktet, der vom sterbenden Herakles als Dank für letzte Dienste seinen Bogen samt Pfeilen geschenkt bekommen hatte, war den Griechen vor Troia zu einer unerträglichen Last geworden: Auf Grund eines Schlangenbisses am Fuß verletzt war er zum einen militärisch nicht mehr zu verwenden, zum anderen verhinderten seine Schmerzensäußerungen sogar die Durchführung kultischer Handlungen im Heereslager (vgl. v. 8f.). Die Atriden beschlossen daraufhin, ihn auf der Insel Lemnos auszusetzen, wobei Odysseus diese Aufgabe übernahm. Philoktet steht seitdem den militärischen Führern sowie insbesondere Odysseus mit besonderer Abneigung gegenüber.
Als die Belagerung Troias nach neun Jahren schließlich keinen erkennbaren Fortschritt mehr zeigt, erinnern sich die Griechen eines Orakels: Zur Eroberung der Stadt seien Philoktet, sein Bogen sowie die zugehörigen Pfeile notwendig.2 Auch die Rückholaktion übernimmt Odysseus, dem Neoptolemos, Achills Sohn, zur Seite gestellt ist. Das vorliegende Drama nun schildert beginnend mit der Ankunft dieser griechischen Gesandtschaft die Geschehnisse auf Lemnos selbst: Odysseus, der um Philoktets Groll gegen ihn weiß, kann Neoptolemos davon überzeugen, mit einer List das Vertrauen des Einsiedlers zu gewinnen, um so in den Besitz des Bogens zu kommen und die Rückführung nach Troia vorzubereiten. Trotz seiner moralischen Vorbehalte willigt Neoptolemos ein und führt Odysseusʼ Plan zunächst zielstrebig aus, bis ein akuter Krankheitsausbruch bei Philoktet sein Mitleid erregt und er sich schließlich in offener Konfrontation mit Odysseus dazu durchringt, den zwischenzeitlich an sich genommenen Bogen an Philoktet zurückzugeben und ihm die Fahrt in die Heimat in Aussicht zu stellen. Erst der Auftritt des Herakles als eines deus ex machina kann Philoktet kurz vor der in Angriff genommenen Abfahrt davon überzeugen, sich dem Willen der Heeresführung zu beugen und mit Neoptolemos nach Troia zu segeln. Mit dem Auszug des Personals in Richtung Kriegsschauplatz endet die Tragödie.
Das vorliegende Drama ist, wie noch gezeigt werden wird, gerade in formaler Hinsicht bemerkenswert:3 Der im Rahmen der uns überlieferten Tragödien unseres Dichters einmalige Einsatz des deus ex machina,4 die fast ausschließliche Dialogisierung chorischer Partien und die besonderen Implikationen, die die von Odysseus erdachte Intrige sowie ihr Scheitern für den Ablauf des Stücks mit sich bringen, werden dabei im Folgenden besonders zu untersuchen sein. Eine Entscheidung unseres Dichters hebt sein Philoktet-Drama gegenüber den Bearbeitungen desselben Stoffs durch die beiden anderen Tragiker5 heraus: Sophokles lässt Lemnos unbewohnt sein, sodass Philoktet als Einsiedler sein Leben fristet.6 Den Chor, der so nicht aus Einwohnern der Insel bestehen kann, bilden, wie bereits erwähnt, die Schiffsleute des Neoptolemos, die zu ihrem Herrn in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis stehen, gegenüber Philoktet allerdings eine je eigene Haltung an den Tag legen. Dass ihnen dabei einzig in der Mitte der Tragödie eine rein chorische Reflexion in Form eines Stasimons zukommt, ist ein besonders eigenwilliges Kompositionsmoment, dessen dramaturgische Implikationen zu beleuchten sein werden.
Zu den bereits erwähnten, genuin mythologischen Personen – d.h. solchen, die namentlich aus dem troianischen Sagenkreis bekannt sind – tritt des Weiteren ein Späher auf, dem als vermeintlichem Kaufmann in der durch Odysseus lancierten Intrige besondere Bedeutung zukommt.7