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Kommos Philoktet-Chor (v. 1081–1217)

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Mit dem Wechselgesang v. 1081–1217 kommen wir zur letzten umfangreichen Chorpartie der Tragödie. Bevor die Gesprächssituation, die formale Anlage der Passage, ihre Motivik und Thematik sowie die dramaturgischen Implikationen erläutert werden, soll ein kurzer Überblick die Einordnung des Kommos in den Handlungsablauf ermöglichen.

Nach dem Aufwachen des Prot­agonisten hatte Neoptolemos die Wahrheit nicht mehr zurückhalten können und Philoktet mit den Gegebenheiten konfrontiert: Es sei notwendig (δεῖ v. 915, πολλὴ κρατεῖ ἀνάγκη v. 921f.), gemeinsam nach Troia zu fahren und dort die Stadt einzunehmen. Philoktet reagiert erschüttert; in einem ersten Monolog (v. 927–962) konfrontiert er seinen Gesprächspartner mit schwerwiegenden Vorwürfen: Er, ein Schutzbedürftiger (προστρόπαιος, ἱκέτης v. 930) sei getäuscht, geradezu hinters Licht geführt worden (besonders eindrücklich die Perfektformen ἠπάτηκας v. 929 und ἠπάτημαι v. 949). Wenigstens den Bogen solle man ihm zurückgeben, denn mitsamt diesem Utensil habe man ihm das Leben selbst geraubt (v. 931ff.). Dementsprechend fällt das Urteil über seinen eigenen Zustand vernichtend aus: οὐδέν εἰμʼ ὁ δύσμορος (v. 951). Neoptolemos antwortet trotz der mehrfachen direkten Ansprache durch Philoktet nicht (v. 934f., 951), bekundet allerdings nach der an ihn gerichteten Frage des Chors nach dem weiteren Vorgehen (v. 963f.) sein überaus großes Mitleid (οἶκτος δεινός), das ihn nicht erst jetzt, sondern schon vor längerer Zeit befallen habe.

Bevor es zu einer Übergabe des Bogens und Entscheidung für oder gegen die Abfahrt nach Troia bzw. in Philoktets Heimat kommen kann, betritt Odysseus ohne Vorankündigung die Bühne. Zum ersten Mal treten so die drei wesentlichen Akteure der Handlung in direkte Auseinandersetzung. Philoktet wird sich rasch bewusst, dass letztlich Odysseus für seine momentane Lage verantwortlich ist (v. 978f.), und droht schließlich, sich der Situation durch einen Sprung vom Felsen zu entziehen (v. 999f.). Odysseusʼ Gehilfen packen den Prot­agonisten daraufhin und verhindern so die Selbsttötung. Philoktet, nunmehr festgehalten von Statisten, greift in einem zweiten Monolog (v. 1004–1044) Odysseus scharf an: Dieser habe Neoptolemos, den Philoktet unbekannten Knaben (παῖδα ἀγνῶτʼ ἐμοί v. 1008), geradezu als Schutzwehr (πρόβλημα) benutzt, um sein Vorhaben umzusetzen. Ein entschiedenes ὄλοιο (v. 1019) bringt Philoktets Verachtung und Entrüstung gegenüber Odysseus wirkungsvoll zur Sprache. Selbst die erfolgte Festsetzung und Überführung seiner selbst nach Troia, so Philoktet, werde für die Griechen keinen Vorteil bringen: In seinem Zustand – lahm und stinkend (χωλός, δυσώδης v. 1032) – stelle er bei der Eroberung Troias eher ein Hindernis als eine Unterstützung dar. Die Ursache seiner Aussetzung auf Lemnos, d.h. seine Krankheit und die daraus erwachsenen Probleme, seien schließlich noch immer virulent. Philoktet schließt mit einer Anrufung der Götter seiner Heimat (v. 1040ff.): Diese sollten die für sein Leid Verantwortlichen allesamt (ξύμπαντας) bestrafen; denn selbst unter diesen widrigen Lebensbedingungen (ζῶ οἰκτρῶς v. 1043) könne Philoktet die Gewissheit um die Bestrafung seiner Widersacher geradezu als Befreiung von seiner Krankheit em­pfinden.

Wieder ist es der Chor, der nach dem Monolog des Prot­agonisten eine kurze Einschätzung gibt, diesmal in Form einer direkten Anrede an Odysseus (v. 1045f.): Philoktet habe eine heftige Rede gehalten, die kein Anzeichen eines Nachgebens erkennen lasse. Der Angesprochene bekundet, er wolle nun nicht viele Worte machen. Zwar wünsche er, Odysseus, in der Regel, den Sieg aus einer Situation davonzutragen, Philoktet aber lasse er freiwillig zurück. Denn, so die Einschätzung, mit dem Besitz des Bogens bestehe keine Notwendigkeit, Philoktet selbst nach Troia zu bringen. Er gibt schließlich den Befehl, Philoktet loszulassen, und fordert Neoptolemos auf, nun mit ihm selbst zum Schiff zu gehen. Nacheinander wendet sich Philoktet daraufhin in je einem Doppelvers an Odysseus (v. 1063f.), Neoptolemos (v. 1066f.) und den Chor (v. 1069), verfehlt allerdings sein Ziel, die übrigen Akteure durch seine erschüttert-ungläubigen Fragen zum Bleiben zu bewegen. Der Chorführer macht sein weiteres Vorgehen von Neoptolemosʼ Vorgaben abhängig. Dieser gibt daraufhin in den Versen 1074ff. eine – zumindest für den Moment – klare Handlungsanweisung: Er fordert den Chor auf, bei Philoktet zu bleiben, während er selbst mit Odysseus zu den Göttern beten wolle. Vielleicht, so seine Hoffnung, werde Philoktet noch zu einem anderen, der eigenen Sache günstigeren Entschluss kommen. Sobald er jedenfalls das Signal zum Aufbruch geben werde, sollten sich auch die Schiffsleute rasch aufmachen. Nach diesen Worten verlassen Neoptolemos und Odysseus das Geschehen, zurück bleiben Philoktet und der Chor.

Machen wir uns an diesem Punkt die Bühnensituation erneut klar: Mit Neoptolemosʼ Eingeständnis in den Versen 895ff. hat die bisher virulente Doppelbödigkeit der Handlung ein Ende gefunden. Schrittweise erfährt nun auch der Prot­agonist die eigentlichen Hintergründe der Geschehnisse, wobei der überraschende Auftritt des Odysseus in Vers 974 die Klimax der Szenerie darstellt: Zum ersten Mal stehen sich nun die beiden Antipoden der Handlung konkret gegenüber. Die seit dem Prolog bereits antizipierbare Konfrontation des ‚Strippenziehers‘ Odysseus mit dem Hauptleidtragenden seiner Intrige bringt damit den Kern der Personenkonstellation auf die Bühne; Neoptolemos und der Chor folgen dementsprechend dem Streitgespräch der beiden Akteure lange Zeit wortlos, einzig die kurze Einschätzung des Chorführers v. 1045 unterbricht diese Zurückhaltung. Erst die Antwort auf Philoktets direkte Ansprache und die darauf von Neoptolemos gegebenen Handlungsanweisungen (v. 1072ff.) bilden die erste Einschaltung der durch die Bühnenpräsenz des Odysseus und die Intensität des wortreichen Konflikts geradezu ins Abseits geratenen weiteren Charaktere.

Mit Odysseusʼ Auftritt im entscheidenden, geradezu aporetischen Moment (vgl. Neoptolemosʼ hilflose Frage „Was sollen wir tun, Männer?“ und Odysseusʼ entsetzte Auftrittsworte „Was tust du da?“ v. 974) erfährt also die festgefahrene Szenerie eine ungeahnte und überraschende Dynamisierung und personelle Verschiebung. Während bis zu diesem Punkt die im „Schlaflied“ bereits antizi­pierte Problematisierung des Neoptolemos und seines Verhaltens dramatisch umgesetzt wurde, weitet und vertieft sich durch Odysseusʼ Auftreten die Dimension des Geschehens. Die Feindschaft zwischen ihm und Philoktet wird dabei drastisch inszeniert: Das hochemotionale Rededuell der beiden, die Ankündigung des Selbstmords, die anschließende Fesselung des Prot­agonisten sowie seine Freilassung bringen einige Aktion auf die Bühne. Neoptolemos steht dabei geradezu zwischen den Fronten und kann erst am vorläufigen Ende des Streits als Herr der Schiffsleute aktiv in das Geschehen eingreifen bzw. dessen weiteren Fortgang ordnen.

Für Philoktet scheint an diesem Punkt der Handlung alles verloren, seine Lage hat sich durch Odysseusʼ Eingreifen und den Abgang der Akteure in Vers 1081 noch einmal akut zugespitzt. Der sich anschließende Kommos überbietet in dieser Hinsicht die bereits emotionalen Monologe in den Versen 927–962 sowie 1004–1044 und leuchtet so die erreichte Situation expressiv aus.

Der eigentliche Wechselgesang besteht augenscheinlich aus zwei Teilen, die sich hinsichtlich ihrer Metrik, der Dialogstruktur und der jeweiligen Bühnenwirkung unterscheiden:1 Auf die beiden Strophenpaare in den Versen 1081–1168 folgt eine Epode2 von beträchtlichem Ausmaß (v. 1169–1217). Die Verse 1218–1221 bilden im Anschluss daran als Auftrittsankündigung für Odysseus und Neoptolemos den konkreten Übergang zur folgenden Szene. Die Spre­cherverteilung in den Strophen ist dabei von ausgesuchter Regelmäßigkeit: Auf eine längere Partie des Prot­agonisten (im ersten Strophenpaar jeweils 14 Verse, im zweiten je 17) antwortet der Chor mit einer kürzeren Einschätzung und Bewertung (je zweimal 6 Verse in jedem Strophenpaar), sodass der Redeanteil Phil­oktets deutlich überwiegt (62 Verse gegenüber 24 Versen des Chors). Die Epode setzt gegen diese durchsichtige Struktur einen virulenten Akzent: Der rasche Sprecherwechsel, das Nebeneinander von kurzen und längeren Äußerungen und das gegenseitige Ins-Wort-Fallen der Gesprächspartner (v.a. in den Versen 1182f.) lassen den Eindruck einer lebhaften und hochemotionalen Kommunikation entstehen, die sich schon rein formal vom eher statischen Austausch in den beiden Strophenpaaren abhebt.3

Blicken wir nach dieser ersten formalen Einschätzung zunächst auf die im Kommos behandelten Themen und Motive, um den inhaltlichen Aufbau der Partie zu erfassen. Philoktet gibt nach dem Abgang von Odysseus und Neoptolemos seiner Erschütterung und dem Gefühl der Ausweglosigkeit in einem direkten Anruf seiner Höhle Ausdruck: Diesen Ort werde er nun nicht mehr verlassen, ja sogar an ihm sterben (v. 1084f.). Nach einer Klageinterjektion (ὤμοι μοί μοι) folgen zwei schmerzerfüllte Fragen Philoktets: Warum (τίπτʼ v. 1089) werde die mit Leid angefüllte unselige Behausung ihm nun zur täglichen Umgebung (τὸ κατʼ ἦμαρ), und woher solle er jetzt noch – d.h. nach Verlust des Bogens – die Hoffnung auf Nahrung schöpfen? Der Blick zu den am Himmel entlangziehenden Vögeln ist dementsprechend resignierend: Philoktet kann sie nicht mehr einfangen.4

Der Prot­agonist scheint in dieser ersten Äußerung an einem wirklichen Austausch mit den Schiffsleuten nicht interessiert: Der Fokus seiner Einschätzung liegt ganz auf den Umständen seines eigenen Daseins, wobei vor allem die Höhle und das Problem der Nahrungsbeschaffung im Vordergrund stehen. Eine direkte Ansprache der Choreuten findet nicht statt, die Anwesenheit derselben spielt für Philoktet an dieser Stelle (noch) keine Rolle.

Dennoch melden sich die Choreuten im Folgenden zu Wort (v. 1095–1100) und versuchen, die von Philoktet aufgeworfenen Fragen zu beantworten: Er selbst sei für seine Situation verantwortlich. Nicht das Schicksal (ἁ τύχα) sei hier geradezu „von außen“ (ἄλλοθεν) am Werk, sondern er allein, der die Möglichkeit gehabt hätte, die günstigere Alternative zu wählen, habe sich entschlossen, dem Übleren (τὸ κάκιον) zuzustimmen. Diese alleinige Verantwortung Philoktets wird in der vorliegenden Passage prominent ausgestaltet: So eröffnet das betonte σύ τοι die direkte Wendung an den Prot­agonisten und rückt ihn selbst in den inhaltlichen Fokus. Indem die beiden einzigen finiten Verbformen (κατηξίωσας und εἵλου) sich gerade auf Philoktet beziehen, ist er als der eigentlich verantwortlich Handelnde gezeichnet, dessen Wahl die Ursache der momentanen Situation darstellt. Die betonte Anrede evoziert dabei eine Gesprächssituation, die so vom Prot­agonisten in seiner ersten Äußerung nicht intendiert war. Eine Antwort scheint Philoktet nämlich nicht erwartet zu haben und fährt auch im Folgenden fort, ohne direkt auf die Schuldzuweisung von Seiten des Chors näher einzugehen.

Die Gegenstrophe eröffnet mit Vers 1101 ein erneuter Anruf, mit dem Philoktet diesmal konkret seine eigene Person (ὢ ἐγώ) thematisiert: Er selbst, elend (verdoppeltes τλάμων) und von Mühsal geradezu misshandelt (μόχθῳ λωβατός), werde nun zu Grunde gehen (ὀλοῦμαι). Drei Partizipien geben Gründe und Begleitumstände dieser vernichtenden Selbsteinschätzung an: die Wohnsituation (ναίων) in völliger Einsamkeit, die problematische Nahrungsversorgung (οὐ φορβὰν προσφέρων) sowie der Verlust der eigenen Waffen (οὐ … ἴσχων). Dem gerade in den beiden letzten, verneinten Partizipien verbalisierten Mangel setzt Philoktet mit ἀλλά (v. 1111) seine Sicht der Vorgeschichte entgegen: Undeutliche und verborgene Worte eines betrügerischen Verstandes hätten sich eingeschlichen (ὑπέδυ). Philoktet schließt mit einer Verfluchung: Er wolle denjenigen, der das ersonnen habe, die gleiche Zeit seine eigenen Schmerzen erleiden sehen.

Die mit einiger Sicherheit gegen Odysseus gerichtete Invektive (vgl. die folgende Strophe) veranlasst den Chor zu einer unmittelbaren Richtigstellung: Was den Philoktet hier in Besitz genommen habe (ἔσχʼ v. 1119),5 sei das Geschick von δαίμονες, keine List von Seiten des Chors (ὑπὸ χειρὸς ἐμᾶς). Mit Verfluchungen anderer solle er sich daher zurückhalten; denn dem Chor liege daran (ἐμοὶ τοῦτο μέλει), dass Philoktet die gegenseitige Freundschaft nicht von sich stoße.

Offensichtlich haben die Schiffsleute den Prot­agonisten zumindest leicht missverstanden: Die deutliche Betonung der eigenen Unschuld an Philoktets Leid (vgl. die betonte Hervorhebung der eigenen Person im Possessivpronomen ἐμᾶς v. 1119 sowie das Personalpronomen ἐμοί v. 1121) macht die eingenommene Abwehrhaltung augenscheinlich; dass Philoktet bei seiner Verwünschung konkret Odysseus vor Augen gehabt haben könnte, spielt für den Chor zunächst keine Rolle. Schwerer wiegt für die Schiffsleute der implizite Vorwurf, den die Junktur δολερᾶς φρενός v. 1112 möglicherweise beinhaltete; dementsprechend bildet die entschiedene Zurückweisung eines Betruges (δόλος v. 1117) den wörtlichen Anknüpfungspunkt zur Vorrede des Prot­agonisten. Der so aufgenommene Begriff δόλος wird scharf von πότμος δαιμόνων unterschieden und findet so seinen Platz in der bereits in den Versen 1095ff. etablierten Terminologie. War dort Philoktet als βαρύποτμος angesprochen worden, der unter Einfluss eines besseren Daimon (λωίονος δαίμονος) anders entschieden hätte, so ist diese Motivik an unserer Stelle zur Junktur πότμος δαιμόνων verschmolzen, die in Abgrenzung zu δόλος erneut besonderes Gewicht erhält. Anders gesagt: Die zweite Wortmeldung des Chors stellt eine Konkretisierung und Verdichtung seiner ersten Aussagen dar, wobei der aus Philoktets Beitrag übernommene Begriff δόλος als virulenter Gegenpol innerhalb der Bewertung die deutliche Selbstverortung des Chors im Geschehen evoziert.

Ein wirklicher Dialog kommt allerdings auch an dieser Stelle nicht zustande, die Gesprächspartner reden vielmehr aneinander vorbei. Philoktet fährt in Vers 1123 erneut in seiner Klage fort, ohne konkret auf den Einwurf des Chors einzugehen,6 wobei er thematisch da einsetzt, wo er vor der Einschaltung des Chors stehen geblieben war: bei Odysseus als dem für sein Leid Verantwortlichen.

Das in Vers 1123 direkt nach der Klageinterjektion οἴμοι μοι eingefügte καί macht den direkten Anschluss an die vorherigen Äußerungen Philoktets greifbar: Subjekt der folgenden Periode ist der in den Versen 1113ff. in den Blick geratene Urheber von Philoktets Leid und damit Odysseus, dessen Name allerdings nicht genannt wird – und auch nicht genannt werden muss. Dieser, so die Imagination, sitzt nun auf der Fläche des Meers und verlacht Philoktet, während er mit dem Bogen des Helden geradezu dessen Nahrungsversorgung (τροφά) in den Händen schwingt. Ein Anruf der Waffe verleiht der Verzweiflung des Prot­agonisten besonderen Nachdruck (v. 1128ff.): Der Bogen selbst sehe – wenn er Verstand habe –, dass ihn der jammervolle Gefährte des Herakles im Folgenden nicht mehr benutzen werde; vielmehr werde er nun einem listenreichen (πολυμήχανος v. 1135) Mann übergeben und könne dabei mitansehen, wie dieser verhasste Unhold eine Unzahl an betrügerischen und schändlichen Taten aufblühen lasse (ἀνατέλλοντα), die er gegen Philoktet ersonnen habe.

Der Prot­agonist ist auch an dieser Stelle ganz auf seine eigene Ausdeutung des Geschehens konzentriert: In einem schlaglichtartigen Bild stellt er sich Odysseus vor Augen und lenkt daraufhin den Blick ganz explizit auf den nunmehr endgültig verlorenen Bogen. Die Ansprache der Höhle aus der ersten Strophe als einer unbelebten und doch für das Geschehen eminent wichtigen Entität wird dadurch noch gesteigert: Der Bogen, die zentrale Lebensversicherung Philoktets und essentielles Requisit des Dramas, wird hier nicht nur angeredet, sondern geradezu beseelt und als Handlungs- bzw. Perspektivträger wahrgenommen. Der Besitzerwechsel der Waffe ermöglicht so einen erneuten intensiven Blick auf Odysseus und dessen schändliches Tun. An die Herkunft der Waffe erinnert die Selbstbezeichnung Philoktets als Ἡράκλειον (v. 1131), „Gefährte des Herakles“. Damit klingt neben der bereits entfalteten Nahrungsthematik kurz eine weitere Bedeutungsebene des Bogens an, wie sie bereits in der Anfallsszene eingeflochten war (v. 799ff.) und auch im Monolog des Prot­agonisten v. 943 angedeutet wurde: Die Waffe als Geschenk des Herakles ist fassbarer Beweis der engen Bindung zwischen diesem mittlerweile vergöttlichten Helden7 und dem Prot­agonisten. Gegen jedes Recht hat sich Odysseus, so die implizite Konsequenz, in diese vertrauensvolle Beziehung eingemischt und wird im Folgenden den geraubten Bogen zum stummen Augenzeugen seiner verwerflichen Handlungen machen.

Die in Vers 1140 folgende Bemerkung des Chors versucht, der vernichtenden Kritik Philoktets an Odysseus eine andere Perspektive entgegenzusetzen. Den Anfang macht dabei eine gnomische Feststellung (v. 1140–1142):8 Es sei Aufgabe eines Mannes, sein eigenes Rechtsverständnis (τὸ μὲν ὃν δίκαιον) vorzubringen; allerdings müsse er sich davor hüten, damit neidvollen Schmerz hervorzurufen. Der Bezug des folgenden, konkret die Situation ins Auge fassenden κεῖνος (v. 1143) scheint nach Philoktets vorangegangenen Ausführungen deutlich: Odysseus müsste gemeint sein. Jener habe, so der Chor, als Einzelner auf Anweisung (ταχθείς) vieler gehandelt und damit seinen Freunden gemeinsame Hilfe (κοινὰν ἀγωράν) geleistet.

KAMERBEEK9 macht allerdings mit Blick auf den Bezug von κεῖνος auf eine durch den überlieferten Text bedingte Feinheit aufmerksam: Lesen wir in Vers 1144 das überlieferte Demonstrativpronomen im gen. sg. masc. τοῦδʼ,10 so sind mit κεῖνος (v. 1143) und der Form von ὅδε (v.1144) verschiedene Personen gemeint. Der eigentlich Handelnde (κεῖνος) wäre dann Neoptolemos, der auf Geheiß des Odysseus (τοῦδʼ ἐφημοσύνᾳ) seinen Auftrag auszuführen suchte. Was zunächst wie eine textkritische Quisquilie wirkt, wäre für die Gesprächssituation dennoch symptomatisch. Nicht nur, dass der Chor an unserer Stelle ganz und gar loyal gegenüber der Obrigkeit das Vorgehen gegen Philoktet in den Zusammenhang von Beauftragung und Dienst einordnet und so der emotionalen und zutiefst persönlichen Redepartie Philoktets ein abgeklärteres, den größeren Zusammenhang betrachtendes Moment entgegengestellt. Mit der feinen Differenzierung zwischen Odysseus und Neoptolemos verwehrt sich der Chor gegen eine Generalkritik des Prot­agonisten. Die gedankliche Hinwendung zu Neoptolemos (der zum Chor ohnehin in engerer Beziehung steht als Odysseus) zeugt dabei nicht etwa von einem Missverständnis des Chors gegenüber Philoktets Aussagen – im Gegenteil: Gerade auf dieser Basis könnte sich ein Gespräch über Auftrag und Verantwortung entwickeln. Nichts davon geschieht: Auch dieser Einwurf des Chors verhallt, ohne bei Philoktet eine wirkliche Reaktion hervorzurufen.11

Mit einem erneuten Anruf der ihn umgebenden Natur leitet der Prot­agonist die zweite Gegenstrophe ein: Sowohl Vögel als auch die einheimischen Landtiere werden von nun an nicht mehr fluchtartig aus ihren Behausungen eilen, da Philoktet seine bisherige Stärke (ἀλκά) nicht mehr in Händen halte; eine wehmütige Selbstansprache v. 1152 rundet das Bild des verzweifelten Helden. Daraufhin wendet sich Philoktets Blick erneut den Tieren zu: Diese könnten nun unbesorgt herumkriechen – er stelle in seinem lahmen Zustand keine Gefahr mehr für sie dar –, ja, selbst zur Rache am eigenen Leib fordert er die Tiere indirekt auf, da er sein Leben ohnehin in Kürze verlieren werde. In zwei Fragen gibt er die Begründung dieser hoffnungslosen Zukunftsperspektive: Woher solle der nötige Lebensunterhalt kommen? Und wer könne sich selbst ernähren, wenn er über nichts mehr verfüge, das die lebensspendende Erde hervorbringt?

Dem vernichtenden Bild des dem sicheren Untergang Geweihten setzt der Chor in seiner Erwiderung v. 1163ff. geradezu eine Einladung entgegen. Philoktet solle sich, so die Aufforderung der Choreuten, nähern, wenn er dem Fremden, d.h. dem Chor, gegenüber die nötige Ehrfurcht habe (εἴ τι σέβῃ). Dieser jedenfalls sei ihm ein Nachbar in aller Wohlgesonnenheit. Allerdings solle Philoktet wissen, dass es an ihm liege, dem so sicher scheinenden Verderben zu entfliehen: Jammervoll sei es, dieses Verderben zu nähren (βόσκειν v. 1167), Philoktet dagegen unkundig, das damit einhergehende vielfache Leid zu ertragen.12

Erst an diesem Punkt (v. 1169), d.h. nach knapp 90 Versen des einseitigen lyrischen Austauschs, wird Philoktet zum ersten Mal auf die Einlassungen des Chors reagieren. Der erste, statische Teil des Kommos hat damit sein Ende gefunden. Machen wir uns daher kurz bewusst, was die lyrische Passage bis zu diesem Einschnitt geprägt hat. In ausgreifenden und hochemotionalen Beiträgen kreiste Philoktet um das für ihn zentrale und folgenschwere Ereignis des scheinbar endgültigen Bogenverlustes, auf dessen Grundlage sich die Einschätzung seiner Situation in bisher unbekanntem Maß dramatisiert hat. Während dabei die Angst, nunmehr der gewohnten Nahrungsbeschaffung nicht mehr nachgehen zu können und dadurch entweder dem Hunger oder den wilden Tieren schutzlos ausgeliefert zu sein, als Grundthema in allen Strophen anklingt, entfaltet Philoktet ein weites Panorama größtenteils bereits bekannter Motive: seine Wohnsituation und Einsamkeit, die erlittene Täuschung, der Hass auf Odysseus sowie das nahende Ende des eigenen Lebens. In einen Dialog mit dem Chor tritt er dabei nicht ein; auf die teils moralisierend-mahnenden, teils richtigstellenden Einwürfe des Chors zeigt der Prot­agonist keine erkennbare Reaktion. Vielmehr verharrt er in einer geradezu monologischen Versunkenheit, die die Rolle seiner eigenen Person im lokalen, personalen und zeitlichen Rahmen der Handlung grell ausleuchtet.

Das sich anschließende Gespräch mit dem Chor können wir hinsichtlich der in ihm behandelten Thematik kurz zusammenfassen: Philoktet wendet sich in den Versen 1169ff. zum ersten Mal direkt an die Choreuten, wirft ihnen vor, ihn an das alte Leid erneut zu erinnern, und fragt sie sichtlich erregt, warum sie ihn zu Grunde gerichtet und was sie ihm angetan hätten, als sie planten, ihn in das ihm verhasste Troia zu bringen (v.1175). Diese Überführung des Helden sei, so die Schiffsleute, allerdings die aus ihrer Sicht beste Lösung (v. 1176). Philoktet fordert daraufhin den Chor auf, ihn zu verlassen (v. 1177). Dieses Ansinnen des Prot­agonisten scheint ganz der Intention der Schiffsleute zu entsprechen (φίλα ταῦτα παρήγγειλας ἑκόντι v. 1177f.). Schon fordern sie einander zum Abtritt auf (ἴωμεν ἴωμεν v. 1179), da unterbricht sie Philoktet: Unter dem Anruf des Zeus erbittet er von ihnen, nicht fortzugehen (μὴ ἔλθῃς), sondern hier zu bleiben (μείνατε). Das Gespräch erreicht an dieser Stelle (v. 1180ff.) einen ersten Höhepunkt: Nachdem die Absicht des Chors, nun den Ort des Geschehens zu verlassen, die Szenerie unversehens dynamisierte und das vermeintliche Ende der Gesprächssituation in Aussicht stellte,13 wendet sich hier die Situation erneut. Philoktet scheint in seinem Sprechen ganz seinen Emotionen und dem ihn überkommenden Leid zu folgen, eine rationale Auseinandersetzung mit ihm ist unmöglich. Der rasche Sprecherwechsel unserer Stelle (vgl. v.a. v. 1181ff.) steht dabei in wirkungsvollem Kontrast zu den ausgreifenden Redepartien des ersten Teils. War dort die an den Tag gelegte Emotionalität besonders von eher distanzierter Betrachtung und Reflexion geprägt, so entlädt sie sich nun in kurzen, konkrete Handlungen in den Blick nehmenden Anrufen.

Philoktet bricht trotz der Mahnung des Chors, sich zu mäßigen, in Vers 1186 in eine erneute Wehklage aus, die nach der Anrufung seines δαίμων und seines Fußes in der Bitte an den Chor gipfelt, nun wiederzukommen. Die vorsichtig optimistische Frage des Chors v. 1191 nach einer möglichen Meinungsänderung sowie dem weiteren Vorgehen wird von ihm allerdings zurückgewiesen: Jemandem, der von wildem Schmerz geplagt werde, dürfe man nicht zürnen, selbst wenn er gleichsam von Sinnen klage. Der Aufforderung des Chors, sich nach seinen Anweisungen in Bewegung zu setzen (v. 1196), erteilt der Prot­agonist eine entschiedene Absage: Mit größtem Nachdruck betont er, selbst wenn Zeus ihn mit den Strahlen seines Blitzes nach Troia senden wolle, nicht zu folgen. Ilion und alle Untergebenen des Odysseus, die ihn damals aussetzten, sollten, so der Wunsch des entschlossenen Helden, zu Grunde gehen. Eine Bitte richtet Philoktet daraufhin an die Schiffsleute des Neoptolemos: Ihn verlangt, wie das folgende Wechselgespräch (v. 1204–1211) herausstellt, nach einem Schwert, einem Beil oder einer sonstigen Waffe, mit der er sich selbst töten könne, um so seinen Vater im Hades aufzusuchen. Prägnant fasst Philoktet dabei sein momentanes Trachten in Vers 1209 zusammen: φονᾷ φονᾷ νόος ἤδη „Nach Mord, nach Mord steht mir schon der Sinn!“ Wie schon in den Versen 1180ff., so intensiviert sich auch an dieser Stelle das Gespräch: Die teilweise extrem kurzen Zwischenfragen des Chors (v. 1204, 1206, 1210, 1211) lassen den Eindruck einer hastigen, geradezu fieberhaften Kommunikation entstehen, die von den stür­mischen und wild auffahrenden Einwürfen des Prot­agonisten geprägt ist. Mit Vers 1213 scheint bei Philoktet dagegen die Resignation erneut die Oberhand zu gewinnen. Ein Anruf seiner Heimatstadt, die er, nachdem er sie als Unterstützer der verhassten Danaer verließ, wohl nie wieder zu Gesicht bekommen werde, gipfelt in den niederschmetternden Worten ἔτʼ οὐδέν εἰμι (v. 1217) „Darüber hinaus bin ich nichts mehr“. Dass Philoktet nach diesen Worten in seine Höhle geht und damit das unmittelbare Bühnengeschehen verlässt, zeigen die späteren Aufforderungen des Neoptolemos v. 1261f. Halten wir daher fest: Die ausgreifende lyrische Passage mündet an unserer Stelle in den Abtritt des Prot­agonisten, nachdem bereits in den Versen 1177ff. das Abtreten des Chors unmittelbar bevorstand. Mit Philoktets Abgang hat die prägende Gestalt der vorangegangenen Szene das Geschehen verlassen und die außergewöhnliche Gesprächssituation so ein Ende gefunden.

Die Passage soll nun als Ganze in den Blick genommen werden. Motivisch schöpft der Wechselgesang in beiden Teilen aus den Monologen des Prot­agonisten in der vorangegangenen Szene. Anders gesagt: Etwas wesentlich Neues teilt Philoktet nicht mit. Die teilweise begrifflichen Reminiszenzen an die vorangegangene Szene sind dabei offensichtlich; es genügt, die folgenden Punkte aufzuzählen: Der Anruf der Felsenbehausung zu Beginn des Wechselgesangs (v. 1081f.) nimmt Vers 952 wieder auf; das nunmehr problematische, d.h. gefahrvolle Verhältnis Philoktets zu den ihn umgebenden Tieren, wie es im Besonderen die zweite Gegenstrophe verbalisiert, war bereits in den Versen 956ff. ähnlich drastisch geschildert worden; die vernichtende Selbsteinschätzung, nunmehr dem Tode näher zu sein als dem Leben, ja geradezu nichts mehr zu sein (v. 1217), fand ihren prägnanten Ausdruck bereits in Vers 951. Die Bitte des Prot­agonisten an die Schiffsleute um eine geeignete Waffe zur Selbsttötung (v. 1204ff.) spiegelt dazu die Androhung Philoktets in den Versen 999ff., sich in den Tod zu stürzen, wenn auch die unmittelbare Gefahr für das Leben des Helden an der früheren Stelle wesentlich virulenter war.

Es dürfte bereits aus diesen Andeutungen klar geworden sein: Der Wechselgesang setzt die vorangegangenen Monologe des Prot­agonisten motivisch fort14 und stellt zugleich mit seinem statischen ersten Teil einen Kontrapunkt zur belebten vorangegangenen Szene dar. Nach der überraschenden Einschaltung des Odysseus in die Bühnenhandlung und dem aktionsreichen Rededuell zwischen ihm und dem Prot­agonisten kehrt so zunächst Ruhe ein. Die Gesprächssituation Prot­agonist-Chor ist im Ablauf der Tragödie dabei einmalig und markiert den vorliegenden Kommos als besonderen emotionalen Höhepunkt des Stückes. Seine Ausdehnung (über 130 Verse) ermöglicht die wort- und effektreiche Beleuchtung der zutiefst verfahrenen Situation. Wie gesehen, versenkt sich Philoktet dabei zunächst ganz in die Klage über das erlittene Unrecht und stellt in einem umfassenden Blick sich und seine hoffnungslose Lage dar. Die Kommunikation mit dem Chor ist dabei einseitig: Auf die Bemerkungen der Schiffsleute geht Philoktet nicht ein, sondern setzt seine Klage geradezu monologisch fort.

Der zweite, wesentlich dialogischere und aktivere Teil des Kommos greift die abgeklungene Dynamik wieder auf: Mit dem Spiel um den Abgang des Chors und der effektvollen Meinungsänderung Philoktets kommt einige Aktion auf die Bühne. Die Schlusspartie der Passage entfaltet daraufhin erneut das bereits mehrmals angeklungene Todesmotiv und mündet dabei in den spannungsreichen Abtritt des Prot­agonisten. Die energische lyrische Partie findet so einen dramatischen, d.h. aus dem Geschehen selbst motivierten, Endpunkt.

Dabei entsprang die Belebung des zur Ruhe gekommenen Bühnengeschehens in Vers 1169 der Initiative des Prot­agonisten, d.h. sie erwuchs aus der lyrischen Partie selbst. Nicht die Einschaltung eines weiteren Akteurs leitete nach dem statischen und wenig handlungsintensiven Passus der Verse 1081–1168 zum eigentlichen Fortgang der Handlung über,15 sondern die dem Impetus Philoktets entspringende Wendung zum Chor sowie die damit einhergehenden Aufforderungen zum Abtritt bzw. Bleiben. Philoktet dominiert so erneut die lyrische Passage, die durch sein Sprechen und Handeln zu einer besonders dynamischen und betont brisanten Liminalszene wird.

Die motivische Bündelung an unserer Stelle entfaltet erneut ein Panorama der Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit Philoktets und erlaubt so einen letzten ausführlichen Blick auf die Lebensumstände und die vermeintliche Zukunft des Haupthelden.

Beim Blick auf die Binnenstruktur der chorischen Partien innerhalb der Tragödie fällt ein besonderes Moment der Kompositionsabsicht ins Auge: Die vorliegende letzte Chorpartie des Dramas korrespondiert hinsichtlich der Gesprächssituation und Thematik in besonderer Weise mit der Par­odos als der ersten chorischen Passage und beantwortet sie als deren Gegenstück. Unterhielten sich nach dem Prolog des Dramas die Schiffsleute mit Neoptolemos über Philoktet, seine Lebensumstände und sein Schicksal, so ist hier der Prot­agonist selbst Gesprächspartner und zugleich inhaltlicher Hauptbezugspunkt. Die Rollenverteilung zwischen Chor und Akteur ist dabei geradezu vertauscht: In der Par­odos waren die Aussagen des Chors von Mitleid und Anteilnahme geprägt, während Neoptolemos versuchte, durch das Aufzeigen konkreter Handlungsempfehlungen und den Verweis auf das göttliche Wirken in Philoktets Schicksal eine abgeklärtere Position einzunehmen. Die Dominanz des Chors und seiner emotionalen Ausleuchtung war dabei gerade durch das eingeschobene rein chorische Strophenpaar (v. 169–190) offensichtlich, entfielen doch von den über 80 Versen der Passage nur rund 24 auf Neoptolemos. An unserer Stelle nun ist es der Prot­agonist, d.h. der dem Chor gegenüberstehende Akteur, dessen emotional aufgeladenes Selbstmitleid mit der zur Mäßigung ratenden Einordnung des Chors kontrastiert. Dementsprechend überwiegt hier, wie oben schon bemerkt, der Redeanteil Philoktets deutlich.

Ein weiterer Vergleichspunkt bietet sich an: In der Par­odos stand das Auftreten des Prot­agonisten unmittelbar bevor und wurde besonders von den Choreuten mit einer Mischung aus Angst, Mitleid und einer Art von Neugierde bzw. Schaulust erwartet. Das Herannahen der Schritte belebte dabei die ausgreifende Reflexion im Mittelteil der Passage in Vers 201ff., worauf das Rufen Philoktets seinen Auftritt in greifbare Nähe rücken ließ. Das vernehmliche ἰὼ ξένοι (v. 219) beendete schließlich die Par­odos und damit das Gespräch zwischen Neoptolemos und seinen Schiffsleuten. Die Par­odos bereitete so den Auftritt des Prot­agonisten und damit den Beginn der im Prolog intendierten Intrigenhandlung vor. Ihre ‚Stretta‘ ab Vers 201 ließ sie dabei zu einer geradezu gedoppelten Liminalszene werden: Nicht nur wurde zu Beginn der Partie der Auftritt des Chors ereignis- und effektvoll in Szene gesetzt, ihren eigentlichen Kulminationspunkt fand sie im Erscheinen des Prot­agonisten.

Der Kommos an unserer Stelle spielt erneut mit der Bühnenpräsenz des Prot­agonisten: Nachdem der Auftritt des Odysseus in der vorangegangenen Szene der dominierenden Präsenz Philoktets einen natürlichen Widerpart entgegensetzte, ist die lyrische Partie, wie gesehen, ganz von Philoktet bestimmt. Sein Abtritt ist der effektvolle Schlusspunkt der lyrischen Passage, die damit die ausgreifende und ununterbrochene Szene schließt, die mit dem Erwachen des Haupthelden v. 865 begonnen hatte.16

Die durchgehende Lyrisierung der Partie (in der Par­odos kamen Neoptolemos bis auf die kurzen Beiträge im abschließenden Strophenpaar nur anapästische Verse zu) unterstreicht dabei die gesteigerte Emotionalität und Brisanz.

Aus der Perspektive des mit dem Mythos in Grundzügen vertrauten Zuschauers bildet der Kommos die spannungsreiche Einleitung der Schlusspartie des Stücks. So ist mit dem Abtritt des Prot­agonisten die Handlung zu einem Ruhepunkt gelangt, der allerdings nicht das Ende der Tragödie darstellen kann: Letztlich – so das Vorwissen des informierten Betrachters – wird Philoktet doch mit nach Troia fahren und dort seinen Beitrag zur Einnahme der Stadt leisten. Wie allerdings die Situation innerhalb der Tragödie aufgelöst werden kann, ist nach der umfangreichen lyrischen Partie nicht abzusehen. Eine Versöhnung des Haupthelden mit Odysseus scheidet nach der im Kommos deutlich herausgestellten Verbitterung Philoktets jedenfalls aus. Sophokles forciert so an unserer Stelle gerade durch den scheinbar endgültigen Abtritt des Prot­agonisten den Fortgang der Handlung. Eine weitere grundlegende dramaturgische Funktion der umfangreichen und sowohl formal wie auch emotional herausragenden lyrischen Partie ist damit bestimmt: Sie fordert die Erwartungshaltung des Publikums in besonderem Maß heraus. Was zunächst geradezu als lyrisches Anhängsel an die vorangegangene Szene wirkte, wird so zur effektvollen und spannungsreichen Einleitung der Schlusspartie der Tragödie.

Der Chor in den Tragödien des Sophokles

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