Читать книгу Der Chor in den Tragödien des Sophokles - Bastian Reitze - Страница 30
Zusammenfassung
Оглавление1. Mit Blick auf das erste der in der Einleitung entworfenen Spektren (Spektrum I: der tragische Chor als (kollektive) dramatis persona) lässt sich im Anschluss an die Einzelanalyse Folgendes festhalten: Wie auch im Aias ist der Chor der vorliegenden Tragödie hinsichtlich seiner Rollenidentität, d.h. als dramatis persona, wesentlich an einen Akteur, in diesem Fall an Neoptolemos gebunden. Als Subordinierte stehen die Choreuten dabei in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem Herrn, den sie in kritischen Situationen (vgl. erstes Epeisodion, im Besonderen v. 391ff.) vorbehaltlos unterstützen und dessen Position sie in Auseinandersetzungen (vgl. Kommos Philoktet-Chor v. 1081) vertreten.
Dem Austausch zwischen dem Chor und Neoptolemos kommt dabei innerhalb der Tragödie entscheidende Bedeutung zu: Bereits die in Form einer Unterweisungsszene gestaltete Parodos inszeniert die entsprechende Gesprächssituation als bedeutsamen Rahmen der chorischen Präsenz. Das (zumindest partielle) Wissen des Chors um die eigentlichen Absichten der auf Lemnos gelandeten Gesandtschaft des griechischen Heeres lässt den Chor dabei zum Mitintriganten werden und unterlegt den Austausch zwischen Neoptolemos und seiner Mannschaft zudem mit besonderer Brisanz. Die Gesprächssituation dient gerade in ihrer Reinszenierung im Anschluss an das „Schlaflied“ (v. 827ff.) zur Einblendung der virulenten Intrigensituation; in Abwesenheit des Odysseus übernimmt so die chorische Präsenz und ihre Einbindung in das Bühnengespräch die Funktion, die mit der Intrige gegebene doppelte Ebene im Bewusstsein zu halten.
Mit der Aufdeckung der Intrige durch Neoptolemos selbst (v. 895ff.) verliert daraufhin auch der Austausch zwischen dem Chor und seiner rollenimmanenten Bezugsperson an Relevanz: Der einzige lyrische Austausch des letzten Teils der Tragödie ist dementsprechend der Kommos zwischen Philoktet und dem Chor (v. 1081ff.). Die spärlichen iambischen Einwürfe des Chors (v. 963f., 1045f., 1072f. sowie die Auftrittsankündigung v. 1218ff.) nach der Aufdeckung der Intrigensituation sind dahingegen kaum mehr als zum Teil dramaturgisch klar funktionalisierte Äußerungen, die zum einen die Ratlosigkeit des Chors, zum anderen seine ungebrochene Ausrichtung auf Neoptolemos verbalisieren; einen inhaltlich bedeutsamen Beitrag zur Handlung leisten sie nicht. Während die chorische Präsenz so im ersten Teil der Tragödie (d.h. vom Ende des Prologs bis zur Aufdeckung der Intrige) die der Handlung zu Grunde liegende Intrigenkonstellation inszeniert und so mitten im Geschehen verankert ist, verschiebt sich ihre dramaturgische Funktion zum Ende der Tragödie: Statt am Handlungsfluss aktiv teilzuhaben und, wie im „Schlaflied“, den Gang der Ereignisse beeinflussen zu wollen, kommt dem Chor mehr und mehr eine betrachtende Position zu, während sich das eigentliche Geschehen zwischen den Akteuren Odysseus, Neoptolemos und Philoktet (in wechselnden Kombinationen) abspielt.
2. Wie lassen sich die Chorpartien des Philoktet nun innerhalb des zweiten Spektrums (Spektrum II: Reflexionsstrategien) verorten? Zur Beantwortung dieser Frage ist es zunächst geboten, sich die in den Partien verhandelten Themen und Gegenstände erneut vor Augen zu führen. Neben Neoptolemos als rollenimmanenter Bezugsperson und hauptsächlichem Gesprächspartner des Chors bildet die Gestalt des Protagonisten das eigentliche inhaltlich-thematische Zentrum der chorischen Aussagen: Sein aktuelles Schicksal und der jeweilige Grad seiner Präsenz sind in geradezu monothematischer Ausrichtung Gegenstand aller lyrischen Partien. Während die Choreuten dabei in den dialogischen Partien, d.h. im Besonderen im direkten Austausch mit Neoptolemos und dem Protagonisten selbst eine als pragmatisch zu beschreibende Haltung gegenüber Philoktet an den Tag legen, dominiert in den rein chorischen Passagen (v.a. im zweiten Strophenpaar der Parodos v. 169ff. sowie im Stasimon 676ff.) ein emotionaler Zugang, der im Besonderen das Moment des Mitleids und Bejammerns betont.
In ihrer thematischen Ausrichtung auf den Protagonisten sind die chorischen Passagen immer punktgenau im dramatischen Geschehen zu verorten. Sie bedienen sich dabei im Wesentlichen imaginierender Reflexionsstrategien: Im Vordergrund steht jeweils die möglichst anschauliche Darstellung der Situation des Protagonisten sowie einzelner Details (v.a. die Einsamkeit des Haupthelden sowie die Schwierigkeit der Nahrungsversorgung), die – über das ganze Stück betrachtet – geradezu leitmotivischen Charakter tragen.
Die geradezu exklusive thematische Zentrierung der chorischen Reflexion auf den Protagonisten und die jeweilige dramatische Situation bringt eine besondere Verengung der Perspektive und die Ausblendung einiger mit der Handlung assoziierter Momente mit sich: So kommt innerhalb der chorischen Reflexion weder der Vorgeschichte der Handlung (konkret: der Aussendung der Mission nach Lemnos, dem Helenos-Orakel oder gar den Ursachen für Philoktets Leiden) noch der moralischen Dimension der intendierten Intrige oder auch der Zielsetzung des Unternehmens, d.h. der Einnahme Troias, sowie der Bogen-Mann-Problematik besondere Bedeutung zu.1 Die Einblendung anderer Zeitebenen ist dementsprechend kein strukturelles Moment der chorischen Reflexion;2 auch die das eigentliche Geschehen subtil konterkarierende zeitliche Verortung des entworfenen Panoramas innerhalb des Stasimons dient dabei der Ausleuchtung des dramatischen „Hier und Jetzt“, das seinerseits als mittlerweile überwundene Stufe ausgedeutet wird und damit als Ausgangspunkt einer allenfalls angedeuteten Zukunftsaussicht fungiert.
Auch hinsichtlich des personellen Rahmens bieten die Chorpartien keine Weitung des Bezugsrahmens: Einzig Anfang und Ende des Stasimons mit ihrer mythischen Parallele (Ixion) sowie der Erwähnung des Herakles greifen über das eng umrissene Personenspektrum der bis zum Zeitpunkt des Liedes unmittelbar mit der Handlung in Zusammenhang stehenden Gestalten aus. Während Ixions Beispiel dramaturgisch nicht funktionalisiert wird, steht Herakles freilich in engem Zusammenhang mit dem Geschehen.3
3. Bis auf das einzige Stasimon sind alle Chorpassagen der vorliegenden Tragödie entweder dezidiert als Beitrag eines Austauschs mit einem der Akteure funktionalisiert oder in einen derartigen Unterredungskontext eingepasst (v.a. zweites Strophenpaar der Parodos). Sowohl die eigentlichen Amoibaia bzw. epirrhematischen Partien als auch die in den Lauf des Bühnengesprächs eingesetzten Strophen des Chors verstehen sich so bewusst als Bestandteil der Handlung und des dramatischen Fortschritts, auch wenn, wie im Fall der Parodos, genuin reflektorische Partien enthalten sind.
Auf die regelmäßige Einschaltung chorlyrischer Stasima, wie sie den Ablauf anderer Tragödien maßgeblich prägen, verzichtet Sophokles im vorliegenden Stück dabei bewusst. Indem er die geradezu standardisierte Form chorischer Präsenz auf ein Mindestmaß reduziert, macht er die eigentlich konventionelle Situation des alleine auf der Bühne reflektierenden Chors zu einem besonderen Moment im Ablauf der Tragödie. Dieser Einmaligkeit des Stasimons wird durch die ihm eigene, in mehrfacher Hinsicht gebrochene Beziehung der Reflexion zur Handlung besondere Brisanz verliehen.
Die chorische Stimme ist so weitestgehend dramatisiert, d.h. in den Austausch der Personen eingebunden und als eine Stimme unter anderen klar funktionalisiert.
4. Welche genuin dramaturgischen Implikationen ergeben sich nun aus dieser Funktionalisierung der Chorpassagen (Spektrum III)? Einen umfassenden Reflexionsrahmen, in den das Geschehen eingeordnet würde, bietet die chorische Reflexion nicht. Zwar setzt der Chor im zweiten Strophenpaar der Parodos Philoktets Schicksal in Beziehung zur allgemeinen Verfasstheit des menschlichen Lebens (v. 177ff.) und beginnt das Stasimon mit einem mythischen Vergleich, der die Schwere des dem Haupthelden zugefallenen Schicksals herausstellen soll; diesen Verweisen kommt allerdings keine ausgreifende strukturelle oder thematische Bedeutung zu: So bleibt die kurze Apostrophierung der „Menschengeschlechter“ in Vers 178 einzig ein Ausruf innerhalb der Imagination der Lebensumstände des Protagonisten, der Verweis auf Ixion zu Beginn des Stasimons dient nur als Kontrastfolie und spielt für den Fortgang des Liedes keine Rolle. Eine Auseinandersetzung mit den der Handlung zu Grunde liegenden Wirkmechanismen oder mit den durch sie aufgeworfenen Problemen (so z.B. das Verhältnis von Gemeinschaft und Individuum, Fragen nach dem Wert der Pflichterfüllung, der Instrumentalisierung anderer, des Konflikts von Veranlagung des Einzelnen und Anspruch der Gemeinschaft) werden nicht behandelt. Anders gesagt: Der Chor deutet das Geschehen nicht aus, er interpretiert es nicht und unterlegt es keinem größeren Sinnzusammenhang. Dementsprechend beansprucht der Chor auch keine besondere Autorität bei seinen Äußerungen: Weder intendiert er, allgemeine Wahrheiten vorzutragen, noch aus einer dem Geschehen enthobenen Position ein Gesamtbild der mit der Handlung assoziierten Momente zu liefern.
Im Ganzen lässt sich festhalten, dass der Chor des Philoktet im besonderen Maß an der Handlung teilnimmt und sich als in das Geschehen eingebunden versteht. Die chorischen Partien dienen dementsprechend weniger der Ausdeutung und Kontextualisierung der Geschehnisse, sondern nehmen wiederholt den Haupthelden in den Blick, fokussieren also auf ein entscheidendes Moment der Handlung. Der weitgehende Verzicht auf eine Strukturierung der Tragödie durch regelmäßig eingeschaltete reine Chorpartien garantiert dem Stück im Ganzen einen durchgängigen Handlungsfluss, in den der Chor sowohl hinsichtlich seiner Person als auch der von ihm getätigten Äußerungen eingewoben ist. Einzig für die Dauer des Stasimons wird das Voranschreiten der Handlung kurzzeitig angehalten und das dramatische Tempo gedrosselt – um sich im direkten Anschluss mit dem Krankheitsausbruch des Haupthelden mit ungeahnter Dynamik wieder zu beschleunigen.