Читать книгу Der Chor in den Tragödien des Sophokles - Bastian Reitze - Страница 26

Stasimon (v. 676–729)1

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Der Fortgang des ersten Epeis­odions nach dem Auftritt des angeblichen Kaufmanns wurde bereits angedeutet. Hier soll ein kurzer Überblick zur Einordnung genügen.

In seiner Unterredung mit Neoptolemos entfaltet der aufgetretene Akteur den (vorgeschobenen) Grund seines Kommens: Er sei hier, um Neoptolemos zur Eile zu mahnen, denn Phoinix und die Söhne des Theseus verfolgten ihn bereits (διώκοντες v. 561). Odysseus und Diomedes seien dagegen bestrebt, Philoktet zu fassen und ihn nach Troia zu bringen. Unmittelbarer Beweggrund der angestoßenen Rückholaktion sei ein Orakelspruch des Seher Helenos: Ohne Philoktet in ihren Reihen sei es den Griechen nicht möglich, Troia einzunehmen. Odysseus habe sich daher bereiterklärt, den vormals Ausgesetzten nötigenfalls mit Gewalt ins Heerlager zu bringen. Nach Philoktets entsetztem Aufschrei, er werde gezwungen werden, gleich einem Toten erneut ans Licht zu kommen (v. 622–625), verlässt der Kaufmann zügig die Bühne.

Philoktet ist sich im Folgenden der gebotenen Eile voll und ganz bewusst; er fordert Neoptolemos nachdrücklich auf, sich gleich in Bewegung zu setzen (χωρῶμεν v. 635, ἴωμεν v. 637). Dieser verweist auf die Notwendigkeit günstigen Windes und schlägt seinem Gesprächspartner vor, gemeinsam in der Höhle die Dinge zusammenzusuchen, die Philoktet am nötigsten hat. Neben einem bestimmten Kraut (φύλλον τι v. 649), das zur Schmerzlinderung beiträgt, findet dabei der Bogen Philoktets besondere Erwähnung. Neoptolemos, der sich aus den Belehrungen des Odysseus der überragenden Bedeutung dieser Waffe bewusst ist (vgl. v. 68, 77f., 113), fragt mit ehrfurchtsvoller Scheu nach der Erlaubnis, das Requisit berühren, ja, es sogar einem Gott gleich küssen und verehren zu dürfen (v. 656f.). Philoktet gestattet seinem zukünftigen Retter freimütig den Umgang mit seinem ganzen Besitz – im Besonderen mit seinem Bogen, den er als Lohn für eine gute Tat erhalten habe (v. 667ff.). Vor dem gemeinsamen Abtritt in die Höhle bekundet schließlich Neoptolemos seine enge Bindung zum Prot­agonisten: Es betrübe ihn nicht, Philoktet kennen gelernt und als Freund gewonnen zu haben; denn einer, der nach erlittenen Widrigkeiten gutes Verhalten an den Tag legt, sei als Freund nützlicher als jeder Besitz.2 Nach Vers 676 verlassen die Akteure schließlich den für das Publikum sichtbaren Teil der Bühne, worauf der Chor sein Standlied beginnt.

Machen wir uns die Situation kurz bewusst. Der Auftritt des Kaufmanns hat der Szene ungeahnte Dynamik verliehen: Vor der durch das doppelte Verfolgungsszenario aufgebauten Drohkulisse zeichnet sich der baldige Aufbruch von Lemnos als unvermeidlicher nächster Schritt innerhalb der Intrige lebhaft ab. Die Thematisierung des Orakels ruft dabei – wie bereits erwähnt – bei Neoptolemos und dem Publikum die Ausführungen des Odysseus vom Beginn der Tragödie ins Bewusstsein. Dem über die wahren Zusammenhänge informierten Leser und Zuschauer ist damit erneut vor Augen geführt, dass die Einnahme Troias als Endzweck hinter den Maßnahmen zur Täuschung des Prot­agonisten steht. Das Bühnengeschehen rund um die Akteure Philoktet und Neoptolemos ist damit schlagartig in den größeren Zusammenhang der gesamten Intrige gerückt. Anders gesagt: Der durch den Auftritt des dritten Schauspielers erfolgte Impuls hat die Perspektive des Geschehens geweitet und dabei grundlegende Momente der Handlung (den Orakelspruch, die beabsichtigte Einnahme Troias sowie Odysseusʼ hinterszenischen Einfluss) überdeutlich ins Gedächtnis gerufen.

Ihre bühnenwirksame Umsetzung in dramatische Handlung erfährt die in der Kaufmannsszene angerissene Thematik schließlich im Spiel um den Bogen in den Versen 652ff., das einen Kulminationspunkt des bisherigen Handlungsverlaufs darstellt: Als Moment höchster Vertrautheit zwischen Philoktet und Neoptolemos führt die Szene zugleich das Zielobjekt der Intrige mitsamt ihrem Endzweck – der Einnahme Troias – geradezu handgreiflich vor Augen.3 Dabei steht der Bogen zugleich sinnbildlich für die aktuelle Lage des Prot­agonisten, der auf seinen Einsatz als Jagdwaffe angewiesen ist (vgl. Neoptolemosʼ Vermutungen v. 165 sowie Philoktets eigene Ausführungen 287 v.). In diesem Sinn laufen beide motivische Linien – der Bogen als Waffe zur Eroberung Troias auf der einen, als notwendiges Jagdinstrument Philoktets auf der anderen Seite – an diesem Punkt zusammen und konzentrieren die Aufmerksamkeit des Publikums auf den Kern der dramatischen Situation.4

Halten wir daher fest: Die Aussendung des Kaufmanns durch Odysseus hat ihren innerdramatischen Zweck erfüllt und die beteiligten Akteure in betriebsame Eile versetzt. Dramaturgisch gesehen macht sie die enorme Brisanz der Bühnensituation deutlich: Sie ruft die hinterszenische Präsenz des Odysseus sowie den von ihm intendierten Fortgang der Geschehnisse erneut ins Gedächtnis und bietet die Gelegenheit, in einer motivischen Engführung den Bogen als zentrales Utensil des Intrigenkomplotts (vgl. v. 113) zu inszenieren.5

Mit dem Abtritt der beiden Akteure nach Vers 676 kommt die dramatische Spannung zu einem vorläufigen und vordergründig harmonischen Ruhepunkt. Die augenfällige Intimität zwischen Neoptolemos und Philoktet schließt den ersten Teil der Intrige und damit der gesamten Handlung: Das Vertrauen des Prot­agonisten ist erlangt, die anfängliche Fremdheit und Unsicherheit im Umgang miteinander ist einem freundschaftlichen Austausch gewichen, dem weiteren Ablauf der Intrige scheint nichts mehr im Wege zu stehen. Seinen sinnfälligen Ausdruck findet der erreichte Status der Handlung in einem bis dahin nicht genutzten Effekt: Zum ersten Mal innerhalb der Tragödie – also seit mittlerweile über 670 Versen – leert sich die Bühne vollständig, worauf der Chor ungestört die dramatische Situation reflektiert.6

Das Lied entfaltet in zwei Strophenpaaren eine Gesamtschau der bisher entwickelten Handlung, wie sie sich vor den Augen der Choreuten abgespielt hat. Erneut steht dabei die Figur des Prot­agonisten im Mittelpunkt, dessen leidvoller Vergangenheit der Chor eine hoffnungsfrohe Zukunftsaussicht entgegenstellt.

Das Lied beginnt mit einem sprachlich scharf gezeichneten Kontrast:7 Der Chor habe durch Erzählung (λόγῳ) zwar gehört, jedoch nie mit eigenen Augen gesehen (ὄπωπα δʼ οὐ μάλα), wie Zeus seinen ehemaligen Lagergenossen an einem umlaufenden Rad gefangen hielt (δέσμιον ἔλαβεν). Der mythologische Bezug ist durch die Erwähnung der Einzelheiten – Teilhabe am Lagerplatz der Götter sowie das drehende Rad als Folterinstrument – auch ohne namentliche Nennung des Helden8 klar: Die Rede ist von Ixion, der als Strafe für die missbrauchte Gastfreundschaft des Göttervaters an ein drehendes (Sonnen-)Rad geheftet wurde.9

Der Bezug zum unmittelbar Vorangegangenen innerhalb der dramatischen Handlung ist dabei an unserer Stelle noch nicht klar,10 das plötzliche mythologische Schlaglicht wirkt überraschend. Dagegen lässt der Hinweis auf die mangelnde Augenzeugenschaft hinsichtlich der Ereignisse um Ixion eine Kontrastierung mit tatsächlich Erlebtem erahnen, zumal die Formulierung des ersten Verses (676) besonderen Nachdruck auf diesen Umstand legt: Das zunächst völlig unbestimmte λόγῳ eröffnet das Stasimon und erweist sich sogleich als genauere Bestimmung des folgenden Prädikats ἐξήκουσα, dem das kontrastierende ὄπωπα direkt folgt. Von besonderem Interesse sind die Tempora der beiden Formen: Drückt der Aorist ἐξήκουσα das (einmalige) Hören der Ixion-Geschichte in der Vergangenheit aus, so forciert das negierte Perfekt ὄπωπα die fehlende Kenntnis aus eigener Erfahrung. Nach der betont an den Schluss der Periode gestellten Subjektsangabe des ὡς-Satzes – παγκρατὴς Κρόνου παῖς – setzt das folgende Perfekt οἶδα den spezifischen Tempusgebrauch des Eingangs fort. In den beiden Partizipien κλυών und ἐσιδών findet zudem die Begrifflichkeit „Hören und Sehen“ aus dem ersten Vers des Liedes eine Fortsetzung. Der Chor konstatiert, er kenne sonst keinen anderen Menschen, der mit einem feindlicheren Los zusammengetroffen sei, als es das Schicksal dieses (τοῦδʼ v. 681) Menschen ist.11 Der sich anschließende Relativsatz klärt den vielleicht zunächst missverständlichen Bezug des Demonstrativpronomens: Der in Rede Stehende hat niemandem etwas zu Leide getan, niemanden getötet, sondern ist als Gleicher unter Gleichen (ἴσος ἐν ἴσοις) so unverdient zu Grunde gegangen (ὤλλυθʼ v. 685). Gemeint ist damit freilich Philoktet, wobei eine Namensnennung, wie schon bei Ixion zu Beginn der Strophe, nicht nötig ist.

In Analogie zu τοῦδʼ v. 681 sticht auch hier das hinweisende ὧδʼ (v. 685) hervor.12 Es lohnt dazu erneut ein Blick auf den Tempusgebrauch: Der demonstrative Aspekt verbindet sich mit dem Aorist ὤλλυθʼ und schildert so ein Geschehen aus der Vergangenheit. Anders gesagt: Der Chor ist nach dem mythologischen Schlaglicht an unserer Stelle zwar bei Philoktet als der für die Reflexion entscheidenden Person, allerdings explizit (noch) nicht in der dramatischen Gegenwart angekommen; was sich im Folgenden anschließt, versteht sich dezidiert als Blick in die Vergangenheit. Dem entspricht der konsequente Gebrauch der verbalen Vergangenheitsformen (Indikativ der Nebentempora sowie iterative Aoriste) im Folgenden.

Ein weiteres Demonstrativpronomen markiert den Fortgang der Reflexion: Dieser staunenswerte Umstand (τόδε θαῦμα v. 686) hält den Chor in seinem Bann: Wie nur, so die angeschlossene Frage, konnte Philoktet, der doch ganz alleine das Brausen der Brandung hört, so sein tränenreiches Leben behaupten (κατέσχεν v. 690)? Auch hier gesellt sich zum Demonstrativpronomen τόδε (v. 686) mit οὕτω (v. 689) ein hinweisendes Adverb, das den Blick deutlich auf die geradezu vor Augen liegenden Lebensumstände des Prot­agonisten lenkt. Unter Rückgriff auf den Beginn des Stasimons hat sich bereits hier ein Kreis geschlossen: War dort die fehlende Augenzeugenschaft inhaltlich ein bestimmendes Moment, so macht die Häufung der Demonstrativa an unserer Stelle klar, dass der Chor in Philoktets Fall auf eigene Erfahrung zurückgreifen kann und sich diese unter Verweis auf die Bühnensituation und das eben Erlebte aktuell ins Bewusstsein ruft. Der thematisch-perspektivische Rahmen ist damit abgesteckt: Es folgt ein erneuter Blick auf die Lebensumstände des Prot­agonisten, der unter der Leitmotivik vom Beginn des Stasimons zum Panorama des feindlichen Schicksals (v. 681f.) Philoktets wird, das – und das ist die Besonderheit dieses Liedes – aus Sicht des Chors der Vergangenheit angehört.

Die Gegenstrophe nimmt dementsprechend Philoktet selbst (αὐτός v. 691) in den Blick und stellt syntaktisch die Fortführung der bereits begonnenen Periode dar: Mit ἵνα (v. 691), „wo“, ist auf das konkrete Umfeld des Helden, seine Umwelt und damit die erlebte Bühnensituation verwiesen. Der ausgreifende Nebensatz präzisiert damit das „tränenreiche Leben“ (v. 659), erfüllt den abstrakten Begriff mit Leben und setzt die demonstrativen Gesten der vorangegangenen Strophe fort.

Zunächst erfährt Philoktets Einsamkeit (und in Verbindung damit seine furchtbare Krankheit) ihre poetische Ausgestaltung: Der Heros sei alleine gewesen (ἦν) und habe weder Zugang zu einem Nachbarn13 noch einen Einheimischen als Leidensgenossen gehabt, bei dem er seine Krankheit hätte beweinen können. Die konkrete Ausgestaltung dieser Passage ist von herausgehobener und bisher ungekannter Drastik: Folgen wir dem Text von LLOYD-JONES/WILSON (1990), so kommen der Krankheit (νόσον) als dem Gegenstand von Philoktets Klage die Adjektive βαρυβρῶτα und αἱματηρόν – „tief nagend“ und „blutenden“ – zu, während das Stöhnen selbst (στόνον) als ἀντίτυπον – „widerhallend“ – charakterisiert wird.14 Damit ist eine Funktion des nicht vorhandenen Leidensgenossen bestimmt: Er hätte als Gegenüber des gequälten Helden zu dessen Tröstung beitragen können. Damit nicht genug: Die in αἱματηρόν angerissene Blutmotivik erhält im folgenden, mit οὐδʼ ὅς angeschlossenen Relativsatz (v. 696ff.) ihre konkrete Ausgestaltung: Philoktet habe niemanden gehabt, der den aus seinem Fuß hervorbrechenden warmen Blutstrom mit aufgehobenen Blättern hätte stillen können. Das Lied hat hier seinen Höhepunkt an anschaulicher und wortgewaltiger Schilderung gefunden. Dabei ist die Darstellung des Krankheitsanfalls keineswegs Selbstzweck und erschöpft sich nicht in der reinen Wiedergabe möglichst abstoßender Details. Sie ist vielmehr eingebunden in die Einsamkeitsthematik und stellt mit der Schilderung eines Anfalls (σπασμός15 v. 699) den bitteren Alltag des einsamen Helden dar: Als Mittel der äußersten Drastik entwirft der Chor das Bild des einsamen Philoktet, dem nicht nur kein Gesprächspartner zur Verfügung stand, sondern der seinen Krankheitsanfällen hilflos ausgeliefert war.16

Vom fehlenden Eingreifen eines Nachbarn wendet sich der Blick in Vers 701 wieder auf Philoktet selbst, wobei der Subjektswechsel durch δʼ forciert wird: Der Held kroch hin und her und wandte sich dabei wie ein der Amme entrissenes Kind zu den Plätzen, wo sich auf Grund der Beschaffenheit des Weges Erleichterung einstellte (πόρου εὐμάρεια), sobald die Not nachließ. Der eingebundene Vergleich des Prot­agonisten mit einem Knaben (παῖς v. 703) variiert das Motiv der unbedingten Hilflosigkeit und Einsamkeit unter anderen Vorzeichen und findet nach der farbigen Schilderung des Krankheitsanfalls ein intimeres, aber nicht weniger eindrucksvolles Sprachbild. Durch δακέθυμος ἄτα (v. 705) schließt die Gegenstrophe den Blick auf die Beschwernisse des Helden mit einem gewichtigen Begriff, der die umfassende Leidensthematik des Stasimons in dessen Mitte verbalisiert.

Syntaktisch schließt die zweite Strophe an das Vorangegangene an und setzt die umfangreiche Periode mit Philoktet als ihrem Subjekt fort. Thematisch hat sich der Fokus allerdings verschoben: Nicht mehr die umfassende Einsamkeit und Hilflosigkeit des von seinem Leiden geplagten Helden, sondern sein entbehrungsreicher Lebenswandel hinsichtlich der Ernährung steht nun im Blick der chorischen Reflexion. So habe der Heros als Nahrung keine Saat der Erde aufgesammelt (ἱερᾶς γᾶς σπόρον v. 707) noch irgendetwas anderes, von dem sich die betriebsamen Menschen sonst ernähren; einzig die Jagd mit Pfeil und Bogen habe es ihm gestattet, seinem Bauch etwas Nahrung zu verschaffen (ἀνύσειε γαστρὶ φορβάν v. 711).

Die Mitte der Strophe nimmt darauf ein mitleidsvoller Ausruf ein:17 ὦ μελέα ψυχά (v. 712) – „Oh elendes Leben/oh elender Mensch!“18 Die lebhafte Imagination des Prot­agonisten gipfelt an unserer Stelle in einer direkten Ansprache, die keinen Zweifel an der emotionalen Verfasstheit des Chors zulässt.19 Ein fol­gender Relativsatz bringt den Blick auf die Vergangenheit des Prot­agonisten zu seinem Abschluss und reichert die Nahrungsthematik der Strophe um ein weiteres konkretes Bild an: Philoktet hat über die Dauer von zehn Jahren keinen Wein mehr genossen, sondern stehende Gewässer genutzt. Der Aorist ἥσθη (v. 715) ist dabei bewusst gesetzt: Er kontrastiert mit dem folgenden, die Gewohnheit Philoktets verbalisierenden Imperfekt προσενώμα (v. 717) und macht so überdeutlich, dass dem Helden im angegebenen Zeitraum von zehn Jahren selbst einmaliger Weingenuss versagt blieb.

Vor dem Hintergrund der Imagination des am Boden kriechenden Helden aus der ersten Gegenstrophe ergibt sich auch hier ein eindrucksvolles und lebhaftes Bild: So hielt Philoktet zunächst Ausschau (λεύσσων), um eine geeignete Wasserstelle ausfindig zu machen, und bewegte sich dann darauf zu (προσενώμα).

Machen wir uns im Überblick klar: Das Motiv „Nahrung“ rahmt den ersten Teil der Strophe durch die Klammerstellung von φορβάν v. 707 sowie 711 begrifflich. Die Verbindung zur vorangegangenen Gegenstrophe ist dabei von assoziativer Bildhaftigkeit: War schon in der Krankheitsschilderung die Rede vom Aufnehmen der Blätter und Kräuter von der nährenden Erde (φορβάδος τι γᾶς v. 700), so nutzt die zweite Strophe die verwendeten Begrifflichkeiten zur poetischen Umsetzung der Nahrungsthematik. Kontrastiert werden dabei, ähnlich wie in der zweiten Gegenstrophe, zunächst ein Mangel bzw. eine nicht an den Tag gelegte Verhaltensweise sowie die tatsächlichen Handlungen bzw. Zustände des Helden. Der zweite Teil der Strophe (v. 714ff.) thematisiert in ähnlicher Gegenüberstellung die Einschränkungen Philoktets hinsichtlich seines Trinkverhaltens, wobei, wie SCHMIDT zu Recht anmerkt, der Mangel an Weingenuss die Implikation der Ausgeschlossenheit von menschlicher Gesellschaft beinhaltet.20

Eingebunden in dieses letzte Moment der Vergangenheitsbetrachtung ist dabei der betonte Hinweis auf die Dauer der Entbehrungen (δεκέτει χρόνῳ v. 715). Die mehr oder minder unbestimmten Angaben des Liedes werden so mit einer konkreten Zahl unterfüttert, deren Nennung gerade am Schluss des Leidenspanoramas einen wirkungsvollen Kontrast zum sich anschließenden νῦν δʼ herstellt.21

Ein betontes, die abschließende Gegenstrophe einleitendes „jetzt aber“ (v. 719) bildet das Gegengewicht zum ausführlichen Blick in die Vergangenheit, wie ihn die ersten Strophen dargeboten haben. An unserer Stelle ist der Chor explizit in der Gegenwart, d.h. beim momentanen Stand der Dinge angekommen. Nun, da Philoktet auf den Sohn „anständiger“ Männer (ἀνδρῶν ἀγαθῶν) getroffen sei, werde er glücklich und groß (εὐδαίμων καὶ μέγας v. 720) aus jenen Übeln (ἐκ κείνων) hervorgehen.22

Auf den angesprochenen „Sohn“ (παῖς v. 719) bezieht sich der folgende Relativsatz: Dieser bringe Philoktet nach der Dauer vieler Monate23 auf dem Schiff zurück in dessen thessalische Heimat. Deren „mythologisch“24-geographische Bestimmung bildet den Schluss des Stasimons. Konkret spricht der Chor dabei von der heimatlichen Wohnstatt der maliadischen Nymphen (πατρίαν αὐλὰν Μηλιάδων νυμφᾶν) und den Ufern des Spercheios (Σπερχειοῦ ὄχθαι) – dem Ort, wo Herakles – der „Mann mit dem ehernen Schild“ (ὁ χάλκασπις ἀνήρ) – seine Apotheose erlebt und sich als Gott (θεός),25 hell erleuchtet von göttlichem Feuer, den Göttern genähert habe. Die erneut geographische Angabe Οἴτας ὑπὲρ ὄχθων – „über den Hügeln des Oita“ – schließt die Gegenstrophe ab.

Die Interpretation der Gegenstrophe ist in mancher Hinsicht problematisch. Die mit νῦν δʼ eingeleitete Periode bietet einen Blick in die Zukunft: Das Futur ἀνύσει steht zu den Vergangenheitsformen der verklungenen Strophen in augenfälligem Kontrast und bildet geradezu den Fluchtpunkt der gesamten Gedankenbewegung (vgl. ἐκ κείνων). Dabei verbalisiert das Partizip ὑπαντήσας (im Kontrast zum vorigen οὐκ ἔχων v. 691) den der positiven Zukunftsaussicht zu Grunde liegenden Umstand. Vor dem Hintergrund der im Lied entfalteten Vergangenheit des Prot­agonisten ist damit die radikale Wende für Philoktet dargestellt: War gerade seine Einsamkeit und die daraus resultierende absolute Hilflosigkeit das bestimmende Moment seines Daseins auf Lemnos, so ist es die Begegnung mit dem namentlich ungenannten Neoptolemos, die sein „tränenreiches Leben“ (v. 689) zu Glück und Größe wenden wird.

Wie schon in den vorherigen Strophen (v. 684, 694, 696, 713) konkretisiert daraufhin ein Relativsatz die aufgeworfene Thematik und schildert die unmittelbar bevorstehende Überführung Philoktets in dramatischer Vergegenwärtigung als bereits gegenwärtiges Ereignis (ἄγει). Mit der mythologischen Ausleuchtung der geographischen Angaben löst sich das Stasimon an seinem Ende (scheinbar) aus der unmittelbaren Fokussierung auf Philoktet zu Gunsten eines farbig ausgestalteten Schlaglichts auf die Apotheose des Herakles. Wie schon zu Beginn des Liedes, so scheint sich auch hier sein Ende vom unmittelbaren Zusammenhang innerhalb der Handlung abzuheben.26

Ich gehe aus den gegebenen Gründen (kontrastierender Tempusgebrauch, syntaktische Parallelen zwischen den Strophen, Bündelung der entfalteten Motive in der zweiten Gegenstrophe sowie strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Beginn und Ende des Liedes), wie auch SCHMIDT, grundsätzlich von der „einheitlichen Konzeption“27 des Stasimons aus.

Das augenscheinliche Auseinanderfallen des vom Chor gezeichneten positiven Bildes der bevorstehenden Heimholung Philoktets und der tatsächlichen dramatischen Situation28 gab Anlass zu vielfältigen Lösungsvorschlägen. Die von VISSER erstellte kenntnisreiche Übersicht29 lässt dabei zwei Grundpositionen deutlich hervortreten: Während auf der einen Seite versucht wird, die Aussage des Chors dramenimmanent, d.h. als dezidierte Ausdeutung der Situation aus der Perspektive der Choreuten zu verstehen – wobei im Besonderen der mögliche Wiederauftritt bzw. das Erscheinen der abgetretenen Akteure bereits in Vers 719 in Erwägung gezogen wird –, plädiert man auf der anderen Seite für eine Herauslösung der Partie aus dem unmittelbaren Kontext. So seien hier wahlweise die Erwartungen Philoktets, die Gedanken des Neoptolemos oder die auf das Ende der Tragödie hinweisende Stimme des Dichters zu vernehmen. Eine ausführliche Diskussion dieser Positionen soll hier nicht erfolgen, ebenso wenig eine favorisierende Übernahme einer Ansicht. Man wird sich VISSER anschließen, wenn sie zugibt:

Eine Entscheidung zwischen den Möglichkeiten (1) und (2) [d.h. der dramenimmanenten Interpretation der Gegenstrophe oder ihrer Herauslösung aus dem Kontext] scheint mir hier – allein von der Basis des Textes aus – nicht mehr möglich zu sein.30

Demgegenüber will die vorliegende Interpretation versuchen, auf der Basis des durchaus ambi- und polyvalenten Texts einige genuin dramaturgische Implikationen des Liedes herauszustellen, die seine Positionierung, Gestaltung und Funktion erhellen.31 Ich gehe dabei mit BURTON davon aus, dass sowohl ein Wiederauftritt von Philoktet und Neoptolemos vor dem eigentlichen Ende des Liedes, d.h. in Vers 719,32 als auch die Annahme, die Choreuten sprächen in der Meinung, zumindest von den Akteuren gehört zu werden,33 nicht notwendig sind, um das Stasimon mitsamt seiner zweiten Gegenstrophe zu verstehen – ja dass sogar ein Wiederauftritt vor Vers 730 den intendierten Kontrasteffekt im Übergang vom Lied zur Szene mindern, wenn nicht gar zerstören würde.34

Es wird nun nötig sein, den unmittelbaren Kontext des Liedes und seine Wirkung zu beleuchten. Zu diesem Zweck soll zunächst noch einmal der Aufbau des Liedes rekapituliert werden.

Nach dem abrupten Beginn mit seinem Bezug auf Ixion konkretisiert die erste Strophe den dramatischen Bezug: Als Rahmenthema der folgenden Reflexion ist das unverhältnismäßige Leid des Prot­agonisten abgesteckt, dessen Schilderung den Mittelteil des Stasimons darstellt. Dabei sind die Einsamkeit und die konkreten Entbehrungen hinsichtlich der Versorgung mit Nahrung die zentralen Motive. Die in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Schilderungen versteht der Chor als der Vergangenheit zugehörig, wohingegen die zweite Gegenstrophe die grundsätzliche Wende des Geschehens thematisiert. Ganz in der imaginierten Szene aufgehend verschiebt der Chor dabei seinen Fokus vom unmittelbar greifbaren Umfeld, d.h. der konkreten Bühnensituation als dem Ort von Philoktets Vergangenheit, hin zur außerhalb des lokalen Rahmens liegenden Heimat des Prot­agonisten.

Innerhalb der ausgreifenden Imagination des Mittelteils erfahren wir also nichts wesentlich Neues. Vielmehr können wir sogar sagen: Sämtliche Motive, die im Stasimon ihre Ausgestaltung finden, sind im bisherigen Verlauf der Tragödie zumindest angeklungen, wenn ihnen nicht sogar zentrale Bedeutung zukam. Dabei fallen zunächst die zum Teil begrifflichen Bezüge zur Par­odos ins Auge. Die Einsamkeit des Helden war schon in der Auftrittsszene des Chors bestimmendes Thema: Mit dem programmatischen μόνος (v. 688) ist ein Zentralbegriff dieser Partie (v. 172 sowie 182) wieder aufgenommen. Zudem wiederholt die Partizipialkonstruktion οὐκ ἔχων […] τινʼ ἐγχώρων (v. 691) die Wortwahl der Par­odos, in der es hieß μή […] σύντροφον ὄμμʼ ἔχων (v. 170f.). Die Schilderung des Anfalls liest sich vor diesem Hintergrund geradezu als Konkretisierung der in der Par­odos konstatierten νόσος ἀγρία (v. 173) und ὀδύναι (v. 185). Die dort aufgeworfene Frage nach dem schier unermesslichen Durchhaltevermögen des Prot­agonisten πῶς ποτε πῶς […] ἀντέχει (v. 175f.) findet ihr Echo in Vers 687ff.: πῶς ποτε πῶς […] κατέσχεν. Das einleitende τόδε […] θαῦμά μʼ ἔχει ist dabei die späte Antwort auf Neoptolemosʼ entschiedenes οὐδὲν τούτων θαυμαστὸν ἐμοί v. 192. Weitere bereits in der Par­odos angedeutete Nebenmotive und Parallelen sind außerdem das jammernde, widerhallende Klagen des Prot­agonisten (στόνος ἀντίπυρος ἀντίτυπος) schon in v. 186ff., 208f., 216f. und das Bild des kriechenden Helden aus v. 206f. (unter Wiederholung des Begriffs ἕρπω in v. 701, während das drastische εἰλυόμενος v. 702 Philoktets eigene Wortwahl εἰλυόμην aus v. 291 widerspiegelt).

Auch die Nahrungsproblematik war bereits im Auftrittslied des Chors angesprochen worden (Neoptolemosʼ Erklärung v. 164f. sowie λιμῷ v. 186); die konkrete Ausgestaltung im Standlied speist sich dagegen im Einzelnen aus der Schilderung des Prot­agonisten, die er in den Versen 287ff. gegeben hatte (vgl. v.a. die Angabe γαστρί v. 287 sowie 711 und die Thematisierung der Trankbeschaffung v. 292ff.). Dass dabei Philoktet auf Lemnos keine „helfende Hand“ zur Seite stand (v. 694ff.), hatte er in seiner umfassenden Schilderung der eigenen Situation bereits selbst angedeutet (v. 280ff.).

Auch der zweite ausführlichere Monolog des Prot­agonisten (v. 468–506) dient dem Chorlied geradezu als motivische Fundgrube: So sind die geographischen Details – der Fluss Spercheios sowie das Oita-Gebirge – am Ende des Liedes bereits in Philoktets Bitte v. 488ff. genannt worden.

Eine subtilere Reminiszenz innerhalb des Stasimons erfährt des Weiteren die im direkt vorangegangenen Gespräch virulente Bogenthematik. So entsprechen die Aussagen zur Nahrungsbeschaffung mit Hilfe der Waffe in der zweiten Strophe (v. 710f.) zwar durchaus der von Philoktet selbst gegebenen Schilderung, wiederholen damit die bereits etablierte Motivik und Bildersprache und insinuieren in keiner Weise einen direkten Bezug auf die Bedeutungsaufladung, die das Requisit im ersten Epeis­odion erfahren hat. Andererseits stellt die prominente Bezugnahme auf die Apotheose des Herakles am Ende des Liedes einen – wenn auch zunächst vielleicht nicht direkt greifbaren – Bezug zur Bogenthematik dar: Mit dem Wissen um die Vorgeschichte der Waffe als eines Geschenks an Philoktet für dessen aktives Einschreiten bei der Verbrennung des Herakles (v. 801f.) erscheint die Schlussszene des Liedes in neuem Licht. Sie fungiert so nicht mehr als kontextfreier, mythologischer Abschluss eines Liedes, das seinen Fokus vom unmittelbaren dramatischen Geschehen abgewendet hat. Vielmehr berührt das Lied in dieser Partie ein zentrales Motiv der Tragödie in imaginativ-assoziativer Manier und leistet einen Beitrag zur unterschwelligen Heraklesthematik der Tragödie,35 die im Auftritt des Vergöttlichten in Vers 1409 kulminieren wird.36

Es ist klar geworden: Das Stasimon verarbeitet und intensiviert unter leichter Verschiebung der Perspektive Motive aus zentralen Partien der Tragödie teils expressis verbis, teils auf subtile Weise, die erst ein Blick über die gesamte Tragödie und die ihr zu Grunde liegenden Motivstränge zu Tage fördert. Das Lied beantwortet als rein chorische Passage im Besonderen die Par­odos als bisher längste lyrische Partie sowie den Bericht des Prot­agonisten v. 254–316. Von entscheidender Bedeutung ist bei dieser Spiegelung und Wiederaufnahme die zeitliche Einordnung: Der Chor bezeichnet bewusst einen Wendepunkt innerhalb des Geschehens, indem er die Bündelung und drastische Ausarbeitung entscheidender Motive als Blick in die Vergangenheit inszeniert, dem eine dezidierte Zukunftsaussicht entgegengestellt wird. Das Standlied füllt so den nach dem Abgang der Akteure erreichten Ruhepunkt mit einer Gesamtschau über das Drama, wie es sich bis zu diesem Punkt ereignet hat. Dieser herausgehobenen Funktion entspricht seine bewusste Positionierung im Rahmen der Binnenstruktur der chorischen Partien: Es markiert mit seinem Panorama bewusst die Mitte der Tragödie37 und kontrastiert mit den im ersten Epeis­odion eingepassten Strophen. Während diese jeweils zur Intensivierung des aktuellen Moments dienten und dabei nur einen begrenzten argumentatorischen bzw. emotionalen Aspekt entfalteten, bietet das Lied an unserer Stelle einen umfassenden, die unmittelbaren Grenzen des Bühnengeschehens übersteigenden Rundumblick. In diesem Sinn bereitet es Zuschauer und Leser auf eine Wende innerhalb des Geschehens vor:38 Es markiert die Gelenkstelle der Handlung durch motivische Engführung im Rahmen einer sinnstiftenden Einteilung des Geschehens in Vergangenheit und Gegenwart/Zukunft.

Seine besondere dramaturgische Brisanz erfährt das Stasimon aus der bewussten Differenz zwischen dem in ihm ausgedeuteten Zeitverhältnis und dem unmittelbaren Zusammenhang innerhalb des Handlungsverlaufs. Konkret gesagt: Das Wissen des Zuschauers um die dramatische Situation mitsamt der zu ihrem Höhepunkt entwickelten Intrige macht ein affirmatives Nachvollziehen der chorischen Ausdeutung schwierig, geradezu unmöglich. Dabei fällt nicht nur die umstrittene zweite Gegenstrophe aus dem Rahmen. Schon der Blick in die Vergangenheit, wie ihn das Stasimon entwirft, ist dabei problematisch: So entspricht das hier in den ersten drei Strophen gezeichnete Bild des Prot­agonisten nur zum Teil der im Drama bisher erlebten Präsenz. In seiner ausführlichen Drastik und Zentrierung auf das Leid stellt es einen leichten Gegenpol zum bereits zitierten Monolog des Helden (v. 254–316) dar, der – neben Klage und Jammer – den Fokus eher auf die Bewältigung der einzelnen Probleme legte.39 Anders gesagt: Philoktet war auf der Bühne zwar durchaus als Leidender präsent, die ausgreifende Farbigkeit und Drastik entspringt allerdings an unserer Stelle – wie schon in der Par­odos – der Imagination des Chors und hat keinen direkten Rückhalt im dramatischen Spiel. Diese subtile Akzentverschiebung findet ihren Gegenpart im Ausblick auf die Zukunft: Dass Philoktet nun „glücklich und groß“ aus den gegenwärtigen Übeln hervorgehen werde, entspricht genauso wenig der Erwartung des informierten Zuschauers und der sich anschließenden Szene wie die drastische Zeichnung der Vergangenheit der bisherigen Realisierung von Philoktets Leid auf der Bühne. Das reale, d.h. dramatische Zeitverhältnis, ist im Vergleich zum Stasimon gerade umgekehrt: Während die Bühnenhandlung bis jetzt einen zwar leidenden, jedoch standhaften und ausdauernden Philoktet inszeniert hat, gehört der vom Stasimon im Rahmen einer Vergangenheitsschau geschilderte Ernstfall der Einsamkeit und Hilflosigkeit, d.h. der Krankheitsanfall, der kommenden Szene an. Nicht nur, dass damit der optimistische Ausblick schlagartig mit der eindrucksvollsten, emotionalsten und eindringlichsten Szene kontrastiert; die Ausgestaltung der Vergangenheit realisiert sich als entscheidendes, die Peripetie auslösendes Moment der Tragödie in ungeahnter Drastik. Dass dabei dem leidenden Prot­agonisten bei seinem Anfall ein „Freund“ zur Seite steht, stellt natürlich eine gewisse Abweichung zu dem in der ersten Gegenstrophe präsenten und bestimmenden Einsamkeitstopos dar. Die unverhohlene Anschaulichkeit der Szene ruft allerdings das im Stasimon evozierte Bild in seiner ganzen Wirkmächtigkeit wieder auf, während die von Neoptolemos an den Tag gelegte Hilflosigkeit angesichts der konkreten Phänomene des Anfalls und das völlige Schweigen des Chors bis Vers 827 die Krankheitssituation nur wenig beeinflussen.

Halten wir fest: Die geradezu standardisierte Funktion eines Stasimons, die einbrechende Katastrophe bzw. Wendung auf der Folie einer positiven Zukunftsaussicht umso greller hervortreten zu lassen,40 ist an unserer Stelle meisterhaft erreicht: Das Stasimon forciert den Wendepunkt innerhalb der Tragödie, untergräbt allerdings mit einer eigenen sinnstiftenden Zeitverortung des Geschehens das eigentliche Handlungsgefüge. Die Kontrastierung der unterschiedlichen Bildwelten und Emotionen am Ende des Stasimons (Heimkehr und Größe Philoktets, Vergöttlichung des Herakles) und am Beginn der folgenden Szene (Ausgeliefertsein des Helden an Krankheit, Leiden und Schmerz sowie generelle Hilflosigkeit) potenziert dabei geradezu ihre Wirkung, da die positive Stimmung der Schlussstrophe gerade aus der Negierung just dessen gewonnen wurde, was das folgende Epeis­odion inszeniert. Aus einem „nicht mehr“ wird so ein überdeutliches „jetzt gerade“. Das Zeitgefüge der chorischen Reflexion ist damit gebrochen: Die dramatische Realität pervertiert das vom Chor entworfene Deutungsschema, so wie das Lied in seinem Blick in die Vergangenheit bereits die Handlung selbst umgedeutet hatte. Man mag in diesem Zusammenhang von einer geradezu doppelten Pervertierung sprechen.

Im bewussten Auseinanderfallen der dramatischen Sachlage sowie der chorischen Deutung liegt – wenn man sich von anderen Deutungsversuchen distanziert und zudem versucht, den Text des Liedes ohne parallel einhergehendes Bühnengeschehen (Auftritt oder Erscheinen der Akteure41) als chorische Ausdeutung zu lesen42 – die Spannung des Stasimons und letztlich seine dramaturgische Absicht. Es fügt sich nicht in die Erwartungen des Publikums, sondern konterkariert diese bewusst. Die (antiken) Zuschauer werden sich der vorliegenden Ambivalenz und der doppelten Pervertierung bewusst gewesen sein. Geht man neben einer zumindest rudimentären Informiertheit über die Grundstrukturen des dramatisch verarbeiteten Mythos von einer gewissen Vertrautheit mit den basalen Techniken der (sophokleischen) Tragödie, ihren Formteilen und deren genregemäßem Einsatz aus, dann wird man die (freilich unbewiesene und wohl auch unbeweisbare) Hypothese aufstellen dürfen, der Zuschauer im Theater habe ahnen oder gar wissen können: Je positiver der Chor in einer kritischen bzw. ambivalenten Situation die Zukunft zeichnet, desto näher, umfassender und katastrophaler ist die meist im direkten Anschluss folgende Wende. In anderen Worten: Die augenscheinliche Differenz zwischen Bühnenhandlung und chorischer Ausdeutung erlaubt an unserer Stelle einen Blick hinter die dramatische Fiktion – die dennoch nicht aufgehoben ist – und lässt gerade einen informierten bzw. vertrauten Zuschauer die dramaturgische Funktion und den weiteren Fortgang des Bühnengeschehens erkennen.43

Mit diesem Deutungsversuch nehme ich eine mögliche Inkonsequenz innerhalb der Charakterisierung des Chors hinsichtlich seiner Stellung innerhalb der Intrige bewusst in Kauf. Ich stimme in diesem Punkt allerdings ganz BURTON zu, der im Bezug auf „Sophoclesʼ habit of using his choruses as an instrument with which to guide the mind and emotions of his audience in any direction required by the immediate dramatic context“44 anmerkt:

This role of the chorus leads in occasion to inconsistencies between parts of the same song and between one song and another which can only be explained if we always remember the presence of an audience whose thoughts and feelings have to be engaged and directed.45

Dass das Publikum an einer so motivierten Inkonsistenz Anstoß genommen haben könnte, erscheint mir dabei zweifelhaft.

An der grundsätzlichen Einbindung des Chors als Rolle innerhalb des Dramas will diese Ausleuchtung dagegen in keiner Weise rütteln.46 Will man das Verhalten des Chors, genauer: das der Matrosen des Neoptolemos erklären, so wird man sich am besten MÜLLER47 anschließen und von einem Irrtum, d.h. einer falschen Einschätzung der Lage, ausgehen. Diese Anschauung bleibt allerdings für sich gesehen unbefriedigend; die funktionellen, d.h. publikumswirksamen Konsequenzen dieses Irrtums kann erst eine genuin dramaturgische Betrachtung wie die hier vorgelegte erweisen.

Bis zur Hälfte der Tragödie hat Sophokles bereits ein reiches Panorama unterschiedlicher Formen chorischer Präsenz zum Einsatz gebracht: die dialogische Par­odos mit anapästischen Einschüben des Neoptolemos und umrahmter Kurzode, die korrespondierenden Strophen innerhalb des ersten Epeis­odions sowie das traditionelle Standlied des Chors auf leerer Bühne.

Während dabei die Par­odos als dialogische Szene unter Dauerpräsenz des Neoptolemos und die in das erste Epeis­odion eingestreuten Strophen sich in den dramatischen Fluss eingeordnet haben, fügt Sophokles an unserer Stelle eine bewusste Pause innerhalb der Handlung ein. Das Stasimon kommt dabei zwischen zwei äußerst dynamischen Szenen zu stehen: Während das vergangene Epeis­odion die Annäherung zwischen Neoptolemos und Philoktet unter struktureller Präsenz des Chors inszenierte und die entscheidende Verschärfung der dramatischen Brisanz in Form eines außerszenischen Impulses verwirklichte, wird der kommende Auftritt der Akteure die bisher drastischste Szene der Tragödie darstellen.

Es hat sich bei der Behandlung des Liedes gezeigt, dass Sophokles durchaus standardisierte strukturelle Eigenschaften und Motive eines Stasimons zur Anwendung bringt, die vereinfachend zusammengefasst werden können: Bezug zur Par­odos unter Verschiebung der Perspektive; damit einhergehende Intensivierung und gesteigerte Drastik der Motivik, was den dramatischen Handlungsfortschritt abbildet; der unmittelbaren Handlung scheinbar abgelöste Beginn- und Schlussmotivik, dazwischen die ausgreifende Konkretisierung dramatischer Vergangenheit; positive Zukunftsaussicht unmittelbar vor dem Einbrechen der entscheidenden Wende. Die Singularität des Liedes verleiht dabei gerade diesen Strukturmerkmalen die entscheidende Wirkung: Indem die Reflexion des Chors hier zum ersten und einzigen Mal unter Rückgriff auf den bekannten Formenschatz des Stasimons erfolgt, ist die standardisierte Art chorischer Präsenz innerhalb der Tragödie zu einem einmaligen Ereignis geworden. Es konnte dabei gezeigt werden, dass die Verwendung der aufgezählten Merkmale des Stasimons an unserer Stelle durch ihre Einpassung in den dramatischen Kontext und ihre spannungsvolle Bezugnahme aufeinander (v.a. die doppelte Pervertierung innerhalb des Zeitgefüges) eine virulente dramaturgische Funktion erfüllt, die die Aufmerksamkeit des Publikums in besonderer Weise herausfordert.48

Der Chor in den Tragödien des Sophokles

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