Читать книгу Der Chor in den Tragödien des Sophokles - Bastian Reitze - Страница 27
(Schlaf-)Lied (v. 827–864)
ОглавлениеKommen wir zum zweiten Epeisodion, das bereits mit dem Wiederauftritt der beiden Akteure einen effektvollen Akzent setzt. Auf Neoptolemosʼ Aufforderung, die Höhle zu verlassen, antwortet Philoktet zunächst nicht (σιωπᾷς κἀπόπληκτος ἔχῃ v. 731). Seine Schmerzensschreie und Klagen (v. 732, 736, 739) wirken daraufhin als Realisierung des im Stasimon thematisierten „widerhallenden Stöhnens“ (v. 694) und lassen das Publikum wohl bereits den wahren Sachverhalt erahnen: Ihn hat ein akuter und heftiger Krankheitsanfall ergriffen, der eine sofortige Abfahrt mit Neoptolemos unmöglich macht.
Blicken wir kurz auf die Gliederung und Ausgestaltung der Szene, bevor wir uns der chorischen Äußerung zuwenden. Das emotionale Wechselgespräch der beiden Akteure vollzieht sich zunächst in der Form von Frage und Antwort: Neoptolemos sieht sich zur eigenen Überraschung mit dem leidenden Protagonisten konfrontiert und sucht nach einer ersten Vermutung – „Hast du etwa Schmerzen auf Grund der an dich herangetretenen Krankheit?“ (v. 734) – die genauen Gründe für Philoktets Klagen und Jammern zu erfahren. Die Reaktionen des Angesprochenen sind durch ein hohes Maß an Emotionalität und Situativität gekennzeichnet: So scheinen ihm die Schmerzen teils das Reden unmöglich zu machen (so schon v. 731, ebenso 740f.), teils bricht es aus ihm heraus, wobei vor allem die bemerkenswerte Häufung der verschiedenen Interjektionen (ἆ, ἰώ, ἀτταταῖ, παπαῖ, παπᾶ sowie der ganz aus Interjektionen bestehende Vers 746), die drastische und wiederholte Wortwahl (ἀπόλωλα v. 742 und 745, διέρχεται 743f., βρύκομαι 745) sowie die gehäuften (Selbst-)Anrufungen (Philoktet an Neoptolemos: (ὦ) τέκνον v. 733, 742, 745 2x, 747, 753; ὦ παῖ 750, 753; Philoktet über sich selbst: δύστηνος, ὢ τάλας ἐγώ 744; Neoptolemos an Philoktet: δύστηνε σύ, δύστηνε 759f.) die der Situation eigene Drastik, Dynamik und Unmittelbarkeit verbalisieren.
Neoptolemos steht dem Geschehen zunächst hilflos gegenüber: Nachdem er sich grob über die Situation klargeworden ist, fragt er nach Philoktets Aufforderung, Mitleid zu haben (v. 756),1 nach konkreten Handlungsanweisungen zur Unterstützung des Leidenden (v. 757 und 761). Dieser äußert nur einen gedoppelten Wunsch: Neoptolemos solle ihn während des Anfalls und des darauffolgenden Schlafs nicht alleine lassen sowie seinen Bogen sicher verwahren und niemandem übergeben. In der Folge dieser Bitte kommt es mit Vers 776f. zur Übergabe des zentralen Requisits: Neoptolemos ist nun im Besitz der Wunderwaffe und bittet nach dem Empfang des Utensils in bewusst ambivalenter Sprache um günstigen Wind für die bevorstehende Abfahrt (v. 779ff.). Soweit der erste Teil der Szene, der in der Übergabe des Bogens gipfelt und damit das Spiel mit dem Requisit aus dem ersten Epeisodion (v. 654ff.) fortsetzt. War Philoktet dabei zwischen den Versen 757 und 782 scheinbar von akuten Anfallssymptomen verschont geblieben, so beschreibt er in einer zweiten längeren Rhesis (v. 782–805) zunächst das neu einsetzende Herausträufeln von Blut aus seinem Fuß und entfaltet daraufhin neben der Bitte, in seiner Situation jetzt nicht alleine gelassen zu werden (v. 789), ein Panorama seiner Emotionen: So erfolgt zunächst die anklagende Apostrophierung der für sein Übel Verantwortlichen – Odysseus, Agamemnon und Menelaos – (v. 791–796), darauf die Anrufung des Todes (v. 797f.) und die direkt an Neoptolemos gerichtete Aufforderung, ihn als letzten Freundschaftsdienst zu verbrennen (v. 799ff.) und damit Philoktets eigenes Handeln an Herakles zu wiederholen. Ähnliche sprachliche Mittel wie die eben herausgestellten prägen auch diesen zweiten längeren Redebeitrag: Während die Fülle der Interjektionen und ihre Dichte etwas nachlässt, beherrschen die vollklingenden Anrufungen die Passage und verleihen Philoktets verzweifelt-wütender Verfassung passenden Ausdruck.
Es schließt sich trotz Neoptolemosʼ anfänglichem Schweigen zu den drastischen Bitten seines Gegenübers (v. 804f.) ein erneutes kurzes Wechselgespräch der beiden Akteure an (v. 806–820), das in seinem schnellen Sprecherwechsel (v.a. v. 810, 814, 816) die Klimax der Szene darstellt. Inhaltlich bekundet Neoptolemos sein tiefempfundenes Mitgefühl (v. 806) und verpflichtet sich per Handschlag, am Ort des Geschehens zu bleiben und Philoktet nicht alleine zu lassen; dieser sinkt kurz darauf unter seinen Schmerzen zu Boden (v. 819f.). Neoptolemos gibt seinen Matrosen darauf eine knappe Beschreibung des schweiß- und blutüberströmten Protagonisten und weist sie schließlich an, ihn ungestört liegen zu lassen. Mit Vers 827 beginnt der Chor daraufhin sein Lied.
Machen wir uns vor der Beschäftigung mit der chorischen Partie Folgendes klar: Die zentrale Figur der gesamten Szenerie ist Philoktet: Seine Präsenz bestimmt das Verhalten der anderen Akteure, stößt das Bühnengeschehen an und hält es am Laufen. Damit einher geht eine bisher ungeahnte visuelle Drastik: Schon der Auftritt des kriechenden Helden (vgl. Neoptolemosʼ Aufforderung ἕρπʼ v. 730) lässt ein Leitmotiv der Beschreibung Philoktets erfahrbar werden (vgl. die dezidierten Hinweise auf das Kriechen als Fortbewegungsart des Gepeinigten v. 207 und 701). Die Schmerzensschreie und Verlaufsbeschreibungen des Krankheitsausbruchs (vgl. verdoppeltes διέρχεται v. 743, προσέρπει, προσέρχεται v. 788f. sowie das plastische στάζει φοίνιον κηκῖον αἷμα v. 783) geben ein detailliertes Bild der Situation. Die Schilderung eines Anfalls aus der ersten Gegenstrophe des Stasimons ist dabei gerade in der Blut-Thematik (vgl. v. 694ff.) erneut evoziert und in doppelter Hinsicht überboten: Zum einen steht an unserer Stelle der rein imaginativen Drastik des Chors die dramatische, sich aktuell vollziehende Realität gegenüber. Zum anderen schildert hier der unmittelbar betroffene Held sein Leiden selbst: Kein aus Mitleid motiviertes Hinschauen, Beschreiben und reflektierendes Einordnen durch einen mehr oder minder außenstehenden Dritten beherrscht die Szenerie, sondern das an Drastik nicht zu überbietende augenblickliche Mitteilen des Gequälten selbst.
Aus diesem Blickwinkel lässt sich eine mögliche formale Frage beantworten: Der Chor steht der gesamten Szenerie wortlos gegenüber, es erfolgt keine Kommentierung von seiner Seite. Hätte nicht gerade hier ein Kommos zwischen dem Protagonisten und den Matrosen, möglicherweise auch eine größere Ensembleszene unter Einbindung des Neoptolemos zur Vertiefung und effektvollen Ausgestaltung der Situation dienen können? Die Zurückhaltung des Chors lässt sich – abseits möglicher Erklärungen aus der Rollentypologie – auch unter formalen Gesichtspunkten nachvollziehen: Indem am Beginn des zweiten Epeisodions Philoktet alleine die Szenerie dominiert, ist seine herausgehobene, geradezu einsame Stellung wirkungsvoll herausgearbeitet. Sophokles gestaltet dabei einen bewussten Kontrast zum bildreichen Stasimon als umfangreicher chorischer Partie, die dezidiert eine Pause innerhalb des unmittelbaren Handlungsverlaufs füllt, und dem Weitergang des Bühnengeschehens, das sich ohne Unterbrechung bis zum Einschlafen des Protagonisten (und darüber hinaus) entwickelt. Anders gesagt: Der Auftritt des Protagonisten und sein Krankheitsanfall auf offener Bühne eröffnen den zweiten Teil der Tragödie mit der Peripetie, bei deren Ausgestaltung der Dichter bewusst auf gewisse Effekte verzichtet. Statt also die Anfallsszene zu einer großen Chorszene auszubauen, lenkt Sophokles bewusst den dramatischen Fokus auf den Protagonisten, dessen Handlung und Präsenz gewisse Leitmotive der Beschreibung seiner Person aktuell auf die Bühne bringen.
Philoktets Hinsinken und Einschlafen in den Versen 819ff. lassen die unmittelbare Drastik zu einem vorläufigen Ende kommen: Das Lied des Chors scheint zunächst, wie schon das Stasimon, die eingetretene Pause im Verlauf der Handlung zu füllen. Die Szenerie ist allerdings eine ganz andere: Neben dem Chor befinden sich Philoktet – wenn auch schlafend – und Neoptolemos weiterhin auf der Bühne. Das mit Vers 827 beginnende Lied wird sich so zu einer Unterredung weiten, die mit dem Verweis auf die Intrigensituation die Brisanz der Szene in Erinnerung rufen und verdeutlichen wird.2 Ein detaillierter Nachvollzug gerade der ersten Strophe wird grundlegende Strukturen des Liedes herausstellen; die beiden weiteren Strophen können daraufhin kürzer abgehandelt werden.
Die Aufforderung des Neoptolemos, den erschöpften Philoktet in Ruhe dem Schlaf zu überlassen (v. 826), findet ihre begriffliche Fortsetzung mit dem Beginn des Liedes: Ein direkter Anruf des Schlafes eröffnet die chorische Partie. Doch nicht nur die gedoppelte Wiederholung des Wortes Ὕπνος in Vers 827 macht die Kontextbezogenheit der chorischen Aussagen besonders deutlich: Indem der Schlaf als unkundig (ἀδαής) im Bereich von Schmerz (ὀδύνας) und Leiden (ἀλγέων) apostrophiert wird, ist die vorangegangene Szene mit ihrer drastischen Inszenierung von Philoktets Qualen verbalisiert und zugleich als vergangen gekennzeichnet. Nun solle eben der Schlaf kommen (ἔλθοις), wobei sich die Choreuten durch ἡμῖν (v. 828) bewusst als in die Situation involviert verstehen.3 Die Häufung der Adjektive (ἀδαής, εὐαής sowie das verdoppelte εὐαίων) erweckt neben der gezielten Ansprache des Gottes dabei den Eindruck eines kultischen Invokationshymnos, der die Epiphanie der betreffenden göttlichen Person herbeisehnt.
Die angeschlossene konkrete Bitte in den Versen 830f. bietet im Einzelnen manche Schwierigkeit, v.a. hinsichtlich der konkreten Bedeutung von τάνδʼ αἴγλαν. Man wird wohl am besten mit JEBB αἴγλα als das „Traumlicht“4 verstehen, das der Schlaf dem Niedergesunkenen nun vorhalten soll. WEBSTER illustriert gerade mit Blick auf das abschließende Παιών (v. 832/3) – ein stereotypes Epitheton des Asklepios – die begrifflich-genealogische Verbindung, die der Chor an unserer Stelle zwischen Ὕπνος und dem Gott der Heilung samt seiner Tochter Αἴγλα herstellt. Die in Frage stehende Junktur τάνδʼ αἴγλαν kann so ebenfalls als mit der Heilung einhergehender „Schimmer von Gelassenheit“ verstanden werden, der Philoktet nun zuteilwerden solle bzw. bereits zuteil geworden ist.5 Allen Deutungen gemein ist die von Ὕπνος erbetene „Bewusstlosigkeit“ Philoktets, der im Schlaf nicht mehr von seinen akuten Leiden gequält werden soll; dass er dabei von der aktuellen Situation, d.h. dem sich anschließenden Gespräch des Chors mit Neoptolemos nichts wahrnehmen kann, ist implizit bereits angedeutet und, wie der Verlauf des Liedes zeigen wird, elementarer Bestandteil der Bitte an die Gottheit.
Mit Vers 833 bricht der begonnene Invokationshymnos ab; der Chor richtet sein Augenmerk auf Neoptolemos und redet ihn mit ὦ τέκνον direkt an. Der Vokativ steht so im bewussten Kontrast zum vorangegangenen Ὕπνʼ (v. 827) und macht die Verschiebung der Perspektive deutlich: Nicht mehr der herbeigerufene Schlaf steht im Fokus des Interesses, sondern Neoptolemos und sein weiteres Vorgehen. Dieser solle sich nämlich, so die Aufforderung der Schiffsleute, über seinen eigenen Standpunkt klar werden (ποῦ στάσῃ), bedenken, welche Schritte er nun in Angriff nimmt (ποῖ βάσῃ), und wie mit den sich aus der Situation ergebenden Sachverhalten (τἀντεῦθεν) umgegangen werden soll. Der Chor scheint aus seiner Perspektive bereits die notwendigen Konsequenzen gezogen zu haben: Worauf, so die entschiedene Frage v. 836, müsse man noch warten; der richtige Augenblick, der Einsicht über alle Dinge besitze, gewinne jedenfalls großen Einfluss durch eine schnell ausgeführte Aktion.
Erst die Antwort des Neoptolemos konkretisiert die allenfalls implizit andeutenden und keineswegs leicht zu verstehenden Aussagen des Chors: Zwar höre Philoktet zur Zeit nichts, er aber, Neoptolemos, sehe, dass das ganze Unternehmen vergeblich in Angriff genommen wurde, sollte man jetzt mit dem Bogen nach Troia fahren, den Helden selbst aber auf Lemnos zurücklassen. Philoktets Herbeischaffung habe das Orakel gefordert, ihm gelte der Siegeskranz; überhaupt sei es schwere Schmach, sich einer mit Lügen ausgeführten und letztlich erfolglosen Mission zu rühmen.
Machen wir uns an diesem Punkt bewusst: Der inhaltliche Fokus des Liedes und des daraus hervorgegangenen Austauschs zwischen Chor und Akteur hat sich im Lauf der Strophe auf eine andere Ebene verlagert. Nicht mehr das Leid des Protagonisten und die Möglichkeit, es zu lindern, stehen im Mittelpunkt. Vielmehr erfährt die gegenwärtige Lage Philoktets ihre polarisierende Ausdeutung im Kontext der Intrigensituation: Indem der Chor zwar äußerst ambivalent,6 für seinen Gesprächspartner aber durchaus verständlich, zum sofortigen Einschreiten auffordert, füllt er die entstandene Pause im Handlungsablauf mit ungeahnter Dynamik. Der Kontrast zwischen der Anrufung des Schlafs und der unerwarteten Gesprächsaufnahme mit Neoptolemos macht dabei den Wechsel der Fokussierung besonders deutlich.
Die in der ersten Strophe virulente Zweiteilung der Blickrichtung – einmal auf den Protagonisten und seinen Zustand, einmal auf Neoptolemos und die sich aus der Situation für ihn ergebenden Konsequenzen – prägt auch den Fortgang des Liedes. Während sich Neoptolemos selbst nicht mehr zu Wort meldet und erst in Vers 865 dem Chor Stille gebietet, entfalten die Schiffsleute ihre Ausdeutung der momentanen Situation als selbstbewusste Handlungsempfehlung an ihren Herrn. So legen sie ihm in ausgesuchter Ambivalenz nahe, die nun eingetretene Gelegenheit beim Schopf zu packen und zu seinen Gunsten zu nutzen. Ein kurzer Überblick über die beiden folgenden Strophen soll dies verdeutlichen.
Den Bedenken des Neoptolemos hinsichtlich der durch den Orakelspruch geforderten Mitwirkung Philoktets an der Einnahme Troias tritt der Chor pragmatisch entgegen: Danach werde Gott selbst sehen (τάδε μὲν θεὸς ὄψεται v. 843). Ihr Herr solle im Moment, so die angeschlossene konkrete Bitte in den Versen 844ff., nur leise antworten, da der Schlaf von Kranken „scharfblickend“ (εὐδρακὴς λεύσσειν) sei und so – implizit gesagt – die Gefahr bestehe, von Philoktet gehört zu werden. Weiterhin solle Neoptolemos genau Acht geben (ἐξιδοῦ v. 851), dass er das angedeutete Unternehmen (κεῖνο) in aller Heimlichkeit ausführe; wenn er dagegen an seiner Meinung festhalte,7 könne man als verständiger Beobachter schon jetzt schwierige und ausweglose Ereignisse (ἄπορα πάθη) voraussehen.
Gegen diese negative Zukunftsaussicht setzt die Epode mit Vers 855 einen erneut auffordernden Blick auf die aktuelle Gegenwart: Für Neoptolemos sei jetzt eine günstige Gelegenheit (οὖρος) eingetreten, da Philoktet gleich einem Toten ohne Macht über seinen eigenen Körper hingestreckt sei. Ein erneutes ὅρα (v. 862 vgl. v. 833) eröffnet eine letzte Aufforderung an Neoptolemos: Er solle zusehen, ob er der Situation angemessene Dinge spreche (καίρια φθέγγῃ); die Vorgehensweise mit der größten Aussicht auf Erfolg sei aus Sicht der Choreuten – bemerkenswert das betonte ἐμᾷ φροντίδι v. 864 – ein furchtloses Handeln (πόνος μὴ φοβῶν κράτιστος).
Die sorgfältige sprachlich-motivische Gestaltung der Chorpassage soll hier nicht unerwähnt bleiben.8 Zwei Aspekte treten dabei besonders deutlich hervor.
Zum ersten: Wie schon erwähnt, prägt der gedoppelte Blick auf Philoktet und Neoptolemos die gesamte Partie.9 Wiederkehrendes und geradezu gliederndes Moment sind dabei die Anreden an Neoptolemos sowie die begriffliche Thematisierung des Schlafs, an deren gegenseitigem Wechselspiel innerhalb des Liedes die spezielle Perspektive des Chors auf die Situation verdeutlicht werden kann: Unterbricht der Vokativ (ὦ) τέκνον v. 833 in der ersten Strophe den durch das verdoppelte Ὕπνε volltönend begonnenen Invokationshymnos, so nimmt diese vertraute Anrede auch in den beiden folgenden Strophen prominente Stellungen ein. Sie eröffnet die Gegenstrophe (v. 843) und markiert so die bewusste Antwort auf Philoktets Einwand, wird in Vers 845 zur Intensivierung der Aufforderung nach gedämpfter Lautstärke wiederholt und steht erneut am Beginn der Epode v. 855, um dem Angesprochenen die günstige Lage geradezu plastisch vor Augen zu führen οὖρός τοι, τέκνον, οὖρος. Wenn der Chor am Schluss des Liedes (v. 864) seinen Herrn mit παῖ anspricht, so lässt diese Variation aufmerken und macht den besonderen Nachdruck der vom Chor vorgebrachten Empfehlung erfahrbar. Die p-Alliteration des Vokativs mit dem aus Vers 835 übernommenen φροντίδος und dem folgenden πόνος ist dabei ein starkes Mittel, das der Passage erneut Nachdruck verleiht; anders gesagt: Die in der ersten Strophe aufgeworfenen Fragen an Neoptolemos, v.a. πῶς δέ σοι τἀντεῦθεν φροντίδος v. 834, sind hier am Ende der Passage aus Sicht des Chors trotz aller Ambivalenz deutlich und unmissverständlich beantwortet.
Demgegenüber erfährt der Schlaf als Gegenpol des chorischen Fokus im Lauf des Liedes je verschiedene Ausdeutungen: War er als Gottheit am Beginn der ersten Strophe noch Heiler und erbetener Wohltäter – mithin eine mit positiven Attributen versehene, personifizierte Abstraktion –, so thematisiert die Gegenstrophe die Gefahr, die der konkrete und „scharfblickende“ Schlaf des kranken Philoktet für Neoptolemos und den Chor in sich birgt: das Mithören der Intrigenpläne, bzw. genauer das Sehen (λεύσσειν) der wirklichen Gegebenheiten. Die Epode setzt dagegen ein anderes Bild: Der im Schlaf Hingesunkene gleicht in seiner Ohnmacht und Wahrnehmungslosigkeit einem Toten. Dieser Zustand, der dem Protagonisten jeden Kontakt zur und jede Interaktion mit der umgebenden Realität unmöglich macht, steht dabei in scharfem Kontrast zum ὕπνος ἄυπνος (v. 848) der Gegenstrophe, nimmt aber zugleich Begrifflichkeit und Inhalt der ersten Strophe wieder auf und erweitert das dort gezeichnete Bild. So bezeichnet ἀνόμματος (v. 856) eben jenen Zustand, den die Bitte in den Versen 830ff. herbeigesehnt hatte: War dort geradezu aus der Innenperspektive Philoktets von der αἴγλη – „dream light“ – die Rede, die den Augen des Helden vorgehalten werden sollte (ὄμμασι δʼ ἀντίσχοις), so verbalisiert nun νύχιος (v. 857) den augenscheinlichen Eindruck, den der Schlafende bei Betrachtern hervorruft. Dass in beiden Fällen die identische Form von (ἐκ)τείνω (τέταται v. 831, ἐκτέταται v. 857) verwendet wird, macht die Bezugnahme umso deutlicher.10
Herausragende Aufmerksamkeit verdient zum zweiten der konsequent absichtsvolle Gebrauch des Begriffsfelds „Sehen“ innerhalb der Passage. Die Polarität des gedoppelten Blicks auf Philoktet und Neoptolemos tritt hier besonders hervor: Während der Schlaf Philoktet gerade seine Sehkraft nehmen bzw. einschränken soll (v. 830f.) und der so versunkene Held schließlich ἀνόμματος (v. 856) genannt wird, bedient sich der Chor in den Aufforderungen an Neoptolemos dezidiert der Begrifflichkeiten des Sehens und Hinschauens. So leitet der Imperativ ὅρα (v. 833) die dreigliedrige Frage nach Standpunkt und weiterem Vorgehen ein, ἐξιδοῦ (v. 851) fordert zum verborgenen Handeln auf, und ein erneutes ὅρα (v. 862) – diesmal durch βλέπ(ε) gesteigert11 – mahnt zu situationsangepasstem Sprechen. Dementsprechend versichert Neoptolemos den Chor in seiner Antwort, er „sehe“ (ὁρῶ v. 839), dass eine Abfahrt ohne Philoktet dem Orakelspruch widerspreche, wohingegen dessen leichter Schlaf in der Formulierung der Schiffsleute gerade auf Grund des „scharfblickenden Sehens“ (εὐδρακὴς λεύσσειν v. 847f.) eine Gefährdung der vertrauten Gesprächssituation darstellt. Schließlich verbalisiert das futurische ὄψεται (v. 843) die in Aussicht gestellte göttliche Fürsorge um die konkrete Erfüllung der Prophezeiung, während die vom Chor antizipierten ἄπορα πάθη als im wahrsten Sinne „voraussehbar“ (ἐνιδεῖν v. 854) bezeichnet werden.12
Neoptolemosʼ Aufforderung in Vers 865, nun angesichts der wahrnehmbaren Bewegungen Philoktets Stille zu halten, bringt das Lied zu einem entschiedenen Ende. Der Protagonist erwacht und begrüßt sogleich das Licht; sein Monolog (v. 867–881) nimmt daraufhin nach einem Dank an Neoptolemos konkret die Fortführung der Handlung, d.h. den Aufbruch zum Schiff in den Blick (v. 877). Vom verklungenen Chorlied hat Philoktet indes nichts wahrgenommen. Die darin erreichte Zuspitzung der Situation bildet in dieser Hinsicht eine Grundierung, auf der sich gerade das Lob, das der Protagonist Neoptolemos und seiner wohlgearteten Natur (εὐγενὴς φύσις v. 874) entgegenbringt, umso kontrastreicher abhebt. Anders gesagt: Wurde in der chorischen Partie der Fokus dezidiert auf Neoptolemos und seine weiteren Schritte gelenkt, so spitzt sich diese Verengung durch Philoktets Aussagen weiter zu. Die Peripetie wird so in spannungsvoller Kontrastierung bereits antizipierbar.
Machen wir uns an diesem Punkt klar: Der Begriff des Sehens ist für die Motivik des Liedes grundlegend; sie deutet damit den augenscheinlichen Zustand des Protagonisten aus und macht so die konkrete Bühnensituation poetisch nutzbar. Das Begriffsfeld „Sehen“ erfährt in dieser Hinsicht eine spezifische Erweiterung und dramaturgische Aufladung: Indem der Chor auf der einen Seite seine Bitte an den Schlaf richtet, auf der anderen Neoptolemos zu genauem Hinschauen und dementsprechendem Handeln auffordert, thematisiert er die virulente Intrigensituation bildhaft und geradezu handgreiflich. Sehen bedeutet in diesem Zusammenhang, Einsicht über die wahre Situation zu haben und die konkrete Bühnenrealität im Licht des Orakel- und Intrigenzusammenhangs zu begreifen. Anders gesagt: Der ständige Wechsel der Blickrichtung zwischen Philoktet und Neoptolemos wird durch die konsequente Motivik des Sehens zusammengehalten; diese ist der dramatischen Situation, d.h. konkret dem Einschlafen des Protagonisten, entnommen und bildet den Rahmen für die Ausleuchtung der Szenerie und der sich aus ihr ergebenden Konsequenzen für die Handelnden.
Der Aufbau des Liedes, seine charakteristische Perspektive und die damit verbundene geradezu dialektische Frage-Antwort-Relation der drei Strophen untereinander sind verdeutlicht worden. Die Passage erreicht durch diese überlegte Gestaltung und den konsequenten Einsatz einer unmittelbar aus dem Bühnengeschehen erwachsenden Motivik und Begrifflichkeit eine formale Geschlossenheit, die ihrer Positionierung innerhalb des Dramas entspricht: Zwar forciert das Lied den Fortgang der Handlung und weitet sich selbst zur dialogischen Szene. Nichtsdestoweniger füllt es eine Handlungspause, in deren klar konturiertem Rahmen die umfassende Reflexion zu stehen kommt.
Die Szenerie des „Schlafliedes“ korrespondiert mit Blick auf die Gesprächssituation mit der Parodos: Wieder stehen sich Neoptolemos und seine Mannschaft gegenüber, wieder geht es in dieser vertraulichen Unterredung um das weitere Vorgehen (vgl. die ratsuchende Haltung der Choreuten in der Parodos), wobei sich das Verhältnis jedoch verschoben hat. Diesmal ist es nicht Neoptolemos, der den Choreuten Andeutungen zum weiteren Vorgehen macht, sondern der Chor, der seinem Herrn ein gewisses Verhalten vorschlägt – situationsbedingt sehr klausuliert und ambivalent.
Die Präsenz Philoktets auf der Bühne sorgt für einen grandiosen Effekt und inszeniert die Doppelstruktur der Intrigenhandlung plastisch: Während die drastische und effektvolle Handlung um Philoktet selbst zu einem Ruhepunkt gekommen ist, nimmt das Lied die unterschwellig virulente Intrigensituation forciert in den Blick. Damit ist die Intensität der vorangegangenen Szene umgeleitet: Nicht mehr die drastische Bühnenpräsenz des Protagonisten, sondern die spezifische Situation, in der sich Neoptolemos befindet, wird so als Leitthema der sich anschließenden Szene etabliert.
Die Situation der Parodos ist auch mit Blick auf die Anwesenheit des Protagonisten wiederaufgenommen, geradezu transferiert und effektvoll auf die Spitze getrieben: War dort das Nahen Philoktets und damit seine gefühlte Präsenz die Grundlage der bald angstvollen, bald neugierigen Stimmung, so befindet sich an unserer Stelle Philoktet zwar leibhaftig auf der Bühne, ist Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen Chor und Akteur, nimmt aber nicht am Gespräch teil. Die Anzeichen seines Aufwachens veranlassen Neoptolemos, das Gespräch zu beenden (v. 865f.), so wie die nahenden Schritte (v. 201) und das deutliche Rufen Philoktets (v. 205f., 218) die Unterredung zwischen den Schiffsleuten und ihrem Herrn zu einem Ende führten.
Indem das Lied dabei zwischen der Beschreibung des schlafenden Philoktet und der sich daraus für Neoptolemos ergebenden Konsequenzen pendelt, verschiebt es den Fokus der Darstellung schrittweise auf Neoptolemos; dessen Handeln wird den weiteren Fortgang der Geschehnisse maßgeblich bestimmen. Machen wir uns daher klar: Das Lied blendet nach dem Höchstmaß an äußerer Drastik die virulente Intrigensituation ein und schafft damit den Übergang zur Konfrontation des Protagonisten mit der eigentlichen Realität. Es bereitet in seiner Umleitung der Drastik und der Problematisierung des Neoptolemos die folgende Szene vor: Wenn Neoptolemos im Anschluss (v. 895ff.) an der Situation scheitert und seinen Gewissenskonflikt offenlegt, so nehmen seine Äußerungen die Begrifflichkeiten der Gegenstrophe (im Besonderen fassbar bei ἄπορον und πάθος) bewusst wieder auf. Deutlich hat sich so die Einschätzung des Chors realisiert, die in der Gegenstrophe antizipierte Situation ist eingetreten. Das Lied hat sich so aus der unmittelbaren Bezugnahme auf die konkrete Situation des Protagonisten zu einer hintersinnigen Ausleuchtung der dramatischen Realität gewandelt. Dass dabei dem impliziten Rat des Chors, Philoktet zu verlassen, die Andeutung größter Schwierigkeiten gegenübergestellt wird, erweist sich im Fortgang der Handlung als konkrete Zukunftsaussicht auf den weiteren Verlauf der Handlung. Die chorische Passage kommt so an einem – scheinbaren – Ruhepunkt der Handlung zu stehen, greift die eingetretene Stimmung auf und moduliert sie in geschickt kontrastierender Weise zu einer brisanten Auseinandersetzung mit der Handlung kurz vor ihrem Wendepunkt.
Die Form des Liedes spielt dabei meisterhaft mit der Erwartungshaltung des Publikums. Begann die Passage mit ihrer personifizierenden Ausdeutung als ein aus der Situation des Protagonisten motivierter Invokationshymnos, so markiert der Wechsel des Adressaten in Vers 833 das unvermittelte Eintreten in einen Dialog mit dem auf der Bühne verbliebenen Akteur. Aus dem Schlaflied wird so „ein Lied der leisen, aber umso stärkeren Verführung zum Verrat“,13 aus dem rein chorischen, stasimon-ähnlichen Gesang zur Szenentrennung wird ein Austausch zwischen Chor und Akteur, eine Übergangsszene im besten Sinne. Selbst wenn Neoptolemosʼ Anteil an der Unterredung gering ist, evozieren doch die gehäuften Vokative (τέκνον v. 833, 843, 845, 855; παῖ v. 863/4) mitsamt den prominenten Imperativen (ὅρα v. 833, 862; πέμπε v. 846; ἐξιδοῦ v. 851; βλέπ(ε) v. 862) den Charakter eines lebhaften Diskussionsbeitrags von Seiten des Chors, der geradezu auf Antwort bzw. Reaktion ausgerichtet ist.
Fassen wir zusammen: Sophokles nutzt die im Verlauf der Handlung eingetretene Pause durch die Einschaltung einer chorischen Partie zur Umleitung der Drastik und der Wendung des Fokus. Die sich anschließende Peripetie ist damit vorbereitet; anders gesagt: Die Zuschauer sind sich der für Neoptolemos hochproblematischen Situation erneut bewusst und können auf der Folie der im Lied implizit gegebenen Ratschläge die konfliktreiche folgende Szene bereits antizipieren. Das Gespräch zwischen Neoptolemos und dem Protagonisten in den Versen 867ff. hat so als (erster) Wendepunkt innerhalb der Handlung ein chorisches Präludium erhalten, das zum einen die vorangegangene Szene beschließt, dabei allerdings selbst bewusst Szene des Dramas, d.h. Dialog und Austausch zwischen Beteiligten, sein will. Anders gesprochen: Sophokles lässt an dieser Stelle der Handlung keine wirkliche Ruhe aufkommen. Statt in einem reinen Invokationshymnos an den Schlaf die unmittelbare Drastik der Anfallsszene zu lindern und damit dem dramatischen Schwung einen Kontrapunkt entgegenzusetzen, heizt gerade die chorische Partie die dramatische Brisanz weiter an. Den Effekt des „lyric interlude“14 verstärken dabei die konkrete Bühnen- und Sprechsituation, das bewusste, die Erwartungen des Publikums unterlaufende Spiel mit festen Formen chorischer Beteiligung (Invokationshymnos, Stasimon, lyrischer Austausch zwischen Akteur und Chor) und die subtile sprachlich-motivische Komposition, die der Ambivalenz, Uneindeutigkeit und „Chiffrierung“15 der Sprache eine besonders subversive Wirkung verleiht.