Читать книгу Der Chor in den Tragödien des Sophokles - Bastian Reitze - Страница 29
Exodos (v. 1222–1471)
ОглавлениеBis auf die zu einem gewissen Grad standardisiert zu nennenden Schlussverse der Tragödie (v. 1469–1471) meldet sich der Chor bzw. der Chorführer in der letzten Szene des Stückes nicht mehr zu Wort. Diese signifikante Zurückhaltung erstaunt zunächst, war doch der Chor im bisherigen Verlauf der Tragödie beständiger Gesprächspartner in groß komponierten lyrischen Dialogszenen (Parodos, Austausch mit Neoptolemos im „Schlaflied“, Kommos mit Philoktet) und auch in den Sprechpartien durch kommentierende Einschätzungen präsent (so z.B. v. 317f., 522f., 1045f.). Das erste Epeisodion hatte zudem gezeigt, wie sogar lyrische Partien in den Handlungsablauf integriert werden können. Die Schlusspartie der Tragödie spielt sich nun ganz ohne die Einschaltung des Chors ab. Wie lässt sich dieser bewusste Verzicht auf jegliche chorische Einschaltung gerade aus dramaturgischen Gesichtspunkten nachvollziehen?
Machen wir dazu die folgenden Punkte klar: Die Exodos der vorliegenden Tragödie ist von ausgreifender Länge (rund 250 Verse) und dabei durch das Auf- und Abtreten der Akteure in sich gegliedert (Auftritt von Neoptolemos und Odysseus v. 1222, Abtritt bzw. Verbergen des Odysseus v. 1258, Auftritt Philoktet v. 1263, Wiederauftritt Odysseus v. 1293, Abtritt desselben v. 1298, Erscheinen des Herakles v. 1409). Die Handlung ist dabei von unerwarteten Umschwüngen und erheblicher Brisanz geprägt: Nachdem Odysseus von Neoptolemosʼ Absicht gehört hat, Philoktet den Bogen zurückzugeben, droht er mit Waffengewalt, was Neoptolemos erwidert (v. 1254ff.). Philoktets Wiedererscheinen steht in Kontrast zu seinem als endgültig inszenierten Abgang am Ende des Kommos und gipfelt in der offenen Auseinandersetzung mit dem mittlerweile wieder auf der Bühne präsenten Odysseus (v. 1299ff.). Auch hier droht die Situation zu eskalieren: Die Androhung Philoktets, Odysseus mit einem Pfeil zu töten, präsentiert den Protagonisten in wiedererlangter Stärke. Die Kräfteverhältnisse zwischen ihm und Odysseus sind mit Blick auf die Fesselungsszene (v. 1003ff.) gerade entgegengesetzt. Der Bedrohte entzieht sich der Situation durch Flucht. Mit Neoptolemosʼ Monolog (v. 1314–1347) und der Antwort des Protagonisten (v. 1348–1372) kehrt vorübergehend etwas Ruhe ein. Das anschließende stichomythische Wechselgespräch der beiden (v. 1380–1392) und der Austausch in trochaeischen Tetrametern v. 1402–1408 beleben die Szenerie erneut und entwickeln eine besondere dramatische Sogwirkung: Das Ende der Handlung steht nun endgültig bevor, nachdem Odysseus seinen Einfluss auf Philoktet und Neoptolemos gänzlich verloren zu haben scheint. Die Erscheinung des Herakles schließlich ist geradezu die Überbietung der an Wendungen und Umschwüngen reichen Schlussszene: Erst durch die Epiphanie des Halbgottes kommt das Bühnengeschehen endgültig zur Ruhe, die klaren Anweisungen ordnen das weitere Vorgehen, deuten die Handlung abschließend und geben einen Ausblick auf die kommenden Geschehnisse um Troia.
Das Bühnengeschehen innerhalb der Exodos ist, wie gesehen, von einiger Aktion geprägt und entfaltet durch seine unerwarteten Wendungen eine besonders mitreißende Dynamik. Das Fehlen chorischer Äußerungen unterstreicht dabei ein besonderes Moment der dramatischen Gestaltung: Die aktionsreiche Darstellung lässt schlichtweg keine Zeit für eine reflektierende oder auch nur motivisch vertiefende Anmerkung des Chors, der in das eigentliche Handlungsgeschehen sowieso nicht mehr eingebunden ist. Anders stellte sich die Situation noch zu Beginn der Tragödie dar, als die Mithilfe der Schiffsleute bei der Täuschung des Haupthelden ein wirklicher Bestandteil der Handlung war. Im Schlussteil der Tragödie dagegen entwickelt sich die Handlung ausschließlich im engen Personengeflecht zwischen Neoptolemos, Odysseus, Philoktet und Herakles, ohne dass dem Chor noch eine signifikante Rolle zukäme.1 Wenn dabei der Chor geradezu als Unbeteiligter dem Geschehen folgt und keine wahrnehmbare Einmischung zeigt, unterstreicht dies die rasche und in einigen Punkten nicht vorauszusehende Handlungsentwicklung. Anders gesagt: Der völlige Verzicht auf chorische Beteiligung verschiebt den dramatischen Fokus ganz auf das Beziehungsgeflecht der Akteure untereinander und bündelt die Aufmerksamkeit auf die finale Lösung des Konflikts.
Zugleich wertet der Verzicht auf eine chorlyrische Passage innerhalb der Exodos den vorangegangenen Kommos mit dem Protagonisten auf und verleiht ihm im Nachhinein besonderes Gewicht: Der expressive und ausgreifende Wechselgesang ist die letzte Chorpartie der Tragödie. Die abschließenden Verse 1469–1471 fallen demgegenüber kaum ins Gewicht. Das im Austausch mit Philoktet erreichte Maß an Emotionalität, Bühnenwirkung und Spannung wird gerade nicht durch eine erneute lyrische Partie beantwortet, sondern findet seine Fortsetzung und schließlich seine Auflösung im konkreten Handlungsgeschehen. Im Sinne des ökonomischen Einsatzes chorischer Partien und ihrer Binnenstruktur über die ganze Tragödie hinweg setzt Sophokles mit dem Kommos so den bewussten Schlusspunkt chorischer Beteiligung, der als motivischer und szenischer Kulminationspunkt unübertroffen, ja: unangetastet bleibt.
Auf die Schlussverse der Tragödie wurde mehrmals hingewiesen. Sie sind im besten Sinne konventionell zu nennen und zeugen doch von der besonderen Gestaltungsabsicht des Dichters. Beleuchten wir kurz ihre Einbindung in die Situation: Nachdem Philoktet die Stimme seines Freundes Herakles als solche erkannt hat (v. 1445ff.), bekundet er, den gegebenen Anweisungen Folge leisten zu wollen, d.h. sich nun nach Troia zu begeben und dort die Griechen bei der Eroberung der Stadt zu unterstützen. Dem schließt sich Neoptolemos in einer kurzen Bemerkung (v. 1448) an, worauf Herakles zu schnellem Handeln mahnt. Philoktet nimmt daraufhin in einem letzten Monolog (v. 1452–1468) von seiner Behausung und der Insel Lemnos Abschied und bittet um die Begünstigung der unmittelbar bevorstehenden Seefahrt. Die drei Verse des Chors rufen daraufhin zunächst zum gemeinsamen Aufbruch; betont schließen sich dabei die Choreuten selbst ein (χωρῶμεν) und leiten damit den Abgang des gesamten dramatischen Personals ein. Diesem Auszug vorausgehen bzw. ihn begleiten soll die Anrufung der Meernymphen, denen als „Retter“ (σωτῆρας) die Sorge um den günstigen Ausgang der Heimfahrt obliegt. Dieses chorische Echo der Aussagen des Protagonisten schließt die Tragödie.
Machen wir uns klar: Als einzige der überlieferten Tragödien unseres Autors schließt der Philoktet mit einer konkreten Handlungsanweisung, durch die der Chor seinen unmittelbar bevorstehenden oder schon eingeleiteten Abgang kommentiert. Die Konventionalität der Verse liegt dabei in ihrer kurzen, coda-artigen Prägnanz, die mit Verweis auf göttliche Mächte das Geschehen abzuschließen sucht. Ihren besonderen Reiz entfalten die scheinbar so beliebigen Verse durch ihre Positionierung am Ende der Szene und im Anschluss an Philoktets letzten Monolog. Dieser hatte sich dabei zum letzten Mal direkt an die ihn umgebende Natur, seine Wohnstatt und die Insel gewandt, wobei er das Ungemach seines Aufenthalts auf Lemnos in zwei kurzen Reminiszenzen aufleuchten ließ (die Erinnerung an das Tosen des Meers und den damit einhergehenden, Regen mit sich führenden Südwind v. 1455ff. sowie das Echo des eigenen Klagens v. 1458ff.). Die folgenden Anrufungen der Quellen (v. 1461), des „lykischen Tranks“2 (v. 1461) sowie der Insel Lemnos selbst (v. 1464) sind erneut ganz von der Hoffnung auf den bevorstehenden Aufbruch geprägt. Die Freude geht sogar so weit, den lemnischen Boden selbst aufzufordern: „Schicke mich zufrieden in glücklicher Fahrt!“ (v. 1465). Philoktet scheint sich an diesem Punkt nach der Einwirkung des Herakles mit der Insel geradezu versöhnt zu haben, die bald resignierende, bald aggressive Stimmung des Kommos hat sich hier am Ende der Tragödie aufgelöst.
Der Wechselgesang des Protagonisten mit dem Chor dient dabei der unmittelbaren Schlusspartie (v. 1452–1471) des Dramas als motivische Folie, auf der sich die schlagartig veränderte Stimmung wirkungsvoll abheben kann. An zwei Momenten lässt sich die Verwandtschaft der Szenen und die zu Grunde liegende Kompositionsabsicht aufzeigen: Die Anrufungen der unmittelbaren Umwelt als gliederndes und prägendes Moment bestimmen die Struktur beider Partien (vgl. v.a. die Ansprache der Behausung v. 1081ff. sowie v. 1453). Mit der Aussichtslosigkeit des Kommos, an Ort und Stelle bleiben zu müssen, kontrastiert hier die freudige Erwartung; aus dem verzweifelten Anruf des gewohnten Umfelds ist der hoffnungsvoll-versöhnte Abschiedsgruß geworden.
Die Ankündigungen des eiligen Abgangs reihen sich des Weiteren in die Kette der scheinbar unmittelbar bevorstehenden Abfahrten und Abtritte (so v. 461ff., v. 637, v. 1408), setzen allerdings durch die bewusste Selbstaufforderung des Chors im Besonderen die Motivik des Kommos (v. 1177ff.) fort. Hatte dort der Chor willig in die Bitte Philoktets, ihn zu verlassen, eingestimmt (ἴωμεν ἴωμεν v. 1179), um schließlich von ihm zurückgerufen zu werden, so kommen die Choreuten am Schluss der Tragödie erneut den Aufforderungen Philoktets nach. Diesmal allerdings setzen sie sich mitsamt den Akteuren in Bewegung und verlassen tatsächlich den Ort des Geschehens. Das in der lyrischen Partie virulente Spiel mit Abtritt und Bühnenpräsenz findet so am Schluss der Tragödie seinen natürlichen Zielpunkt.
Es ist demnach alles andere als Zufall oder reine Konvention, dass der Chor mit seinen Schlussversen auf den Monolog des Protagonisten antwortet: Mit dem chorischen Echo ist neben der Motivik sowohl die Gesprächssituation als auch die zielgerichtete Funktion des Kommos – wenn auch kurz – in Erinnerung gerufen und beantwortet. Der Anteil des Chors in dieser finalen Liminalszene der gesamten Tragödie ist dabei so gering wie möglich, erlaubt allerdings doch die Reminiszenz an die umfangreichste chorische Partie des Dramas.