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Der Tod

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Nirgends ist man in Südfrankreich dem Himmel näher als auf dem Gipfel des Mont Ventoux. Neben der außerordentlichen Pflanzen- und Vogelwelt bietet er dem Besucher eine unglaubliche Aussicht. Bei gutem Wetter kann man von ganz oben gleichzeitig das Mittelmeer, den höchsten Gipfel der Alpen sowie die Pyrenäen sehen. Drei Kilometer weiter unten ist die Stimmung jedoch beklemmend und in keiner Weise lebensfroh. Es liegt wohl an diesem Mahnmal aus Granit, das hier mitten in der Steinwüste steht.

Ächzend und stöhnend nehmen die drei Spitzenfahrer die letzte Linkskurve des malerischen Provence-Dörfchen Saint-Estève und tauchen ein in den Pinienwald, der wenigstens ein bisschen Schutz vor der prallen Sonne bietet. Der Schweizer Ferdy Kübler streut immer wieder Tempointervalle in das Rennen. Ein mörderisches Unterfangen in Anbetracht der sengenden Hitze, welcher die Fahrer während dieser elften Etappe der Tour de France 1955 ausgesetzt sind. Küblers Begleiter, die beiden Franzosen Raphael Géminiani und Gilbert Scodeller, finden die forsche Herangehensweise des Schweizers in keiner Weise lustig. Im Gegenteil. Scodeller streckt schon nach wenigen hundert Metern die Waffen und wird abgehängt und Géminiani beklagt sich: „He Ferdy tu est fou!(1) – He Ferdy Du bist verrückt!“ Ferdy und Raphael sind Rivalen, aber gleichzeitig auch Freunde, und aus diesem Grund rät der Franzose dem Schweizer nach einer weiteren wütenden Attacke, sein Temperament zu drosseln: „Ferdy wirklich! [...] Der Mont Ventoux ist kein Berg wie die anderen. [...] Es ist gefährlich hier!“(2), japst Géminiani nach Atem ringend, nachdem er einmal mehr zu Kübler aufgefahren ist. Doch Kübler, Sieger der Gesamtwertung der Tour fünf Jahre zuvor, ignoriert den Rat und meint in der dritten Person: „Ferdy ist auch kein Fahrer wie die anderen“ und tritt wie vom Teufel besessen gleich wieder an. Das Spielchen geht noch ein wenig weiter, bis die beiden beim Chalet Reynard, etwa sechs Kilometer unter dem Gipfel, aus dem Pinienwald in eine kahle Mondlandschaft, in eine Geröllwüste ohne jeglichen Schatten hineinfahren. Nach der ersten Kurve sieht man erstmals den Gipfel. Wie eine Mondrakete ragt oben das weiß-rote Observatorium aus der Steinwüste heraus. Die Sonne brennt erbarmungslos und die Fahrer lechzen nach Wasser. Drei weitere Kilometer weiter tritt Ferdy Kübler plötzlich schwerer. Er mag nicht mehr und sieht sich mit Schrecken der Aussage Géminiani’s gegenüber. Kübler muss abreißen lassen. Meter um Meter verliert er auf Géminiani und kann froh sein, dass er den Gipfel heil erreicht. „Ferdy ist mit Dynamit geladen, Ferdy explodiert“(4), fabulierte Ferdy Kübler im Drogenwahn, als sein bestialischer Angriff am Mont Ventoux gescheitert war.

Doch die jämmerliche Szene dieses Tages findet weiter unten statt: Etwa zehn Kilometer unterhalb der Bergwertung kollabiert der Bretone Jean Malléjac. Er bricht zusammen und liegt mit starrem Blick und Schaum vor dem Mund in einem kargen Steinbeet am Rand des Weges. Einen Fuß noch am Pedal fixiert, tritt er noch immer apathisch mit dem anderen Bein, wie von Geisterhand geführt, weiter und röchelt.(5) Tourarzt Dr. Pierre Dumas eilt herbei und erschrak ob des obskuren Schauspiels, das ihm sich da bot: Mallèjac, leblos und mittlerweile mit verdrehten Augen am Boden liegend, verzerrt seine Gesichtszüge. Seine Haut ist leichenblass. Es geht in diesem Moment um Leben und Tod. Gewaltsam und verzweifelt versucht Dumas, dem Todgeweihten die Kieferknochen auseinanderzudrücken, damit ihm Flüssigkeit eingeflößt werden kann. Eine Viertelstunde, nachdem man ihm Kampfer gespritzt und den Atembeutel angesetzt hatte, erwachte Mallèjac endlich aus seiner Ohnmacht. Als er mit dem Rettungswagen abtransportiert wurde, war er immer noch nicht vollständig bei Sinnen. Er schlug wild um sich, fluchte, gestikulierte, verlangte nach seinem Rad und wollte gar aus dem Wagen aussteigen. Schließlich musste man ihn anbinden. Schwein gehabt: Mallèjac ist dem Sensenmann gerade nochmal von der Klinge gesprungen. Untersuchungen ergaben später, dass Mallèjac’s Zusammenbruch am Ventoux auf den Missbrauch von Amphetaminen zurückzuführen war. Gemäß seinen eigenen Aussagen wurden ihm die Stimulanzen in einer Flasche von seinem Betreuer verabreicht, ohne dass Mallèjac eine Ahnung davon hatte. Doktor Dumas erhebt Anzeige wegen Medikamentenmissbrauchs und der Betreuer wurde vom Rennen suspendiert und gesperrt. Es war der erste Ausschluss eines Beteiligten von der Tour de France wegen eines Dopingvorgehens. Die Tour Direktion atmet auf: Jean Mallèjac überlebte, fuhr jedoch nie mehr ein Radrennen.

Zwölf Jahre später ist nichts mit Aufatmen: Am 13. Juli 1967 ist die Tour wieder am kahlen Teufelsberg. Mit über sechzig Grad flimmert die Hitze vom Asphalt. An diesem Tag ist der Ventoux ein Gott des Bösen, wie der Mythenforscher Laurent Barth bereits vor Jahrzehnten festhielt. Der erste Teil des Dramas beginnt bereits vor dem Aufstieg: Alle litten den ganzen Tag unter der Hitze und der Durst plagte die Akteure. Das Fahrerfeld biegt nach Bedoin am Fuße des Ventoux ein. Jacques Lohmuller arbeitete damals als technischer Direktor in der Organisation der Tour und berichtet: „Es war ein seltsames Szenario – ähnlich einer Plünderei. Die Fahrer stürmten durstig in die Bars“, so Lohmuller „Ich stand beim l’Observatoir, als eine Gruppe unmittelbar vor meinen Füssen abbremste, die Räder hinschmissen und zu den Tischen und an die Bar hasten. Der ehemaligen Leader dieser Tour, Raymond Riotte, stürzte eine ganze Flasche Rotwein runter, die auf dem Tresen stand. Dann hat er die Flasche wieder hingestellt.“ Auch jetzt, beinahe fünfzig Jahren nach den Ereignissen, erinnert sich Lohmüller noch immer sehr gut: „Tom Simpson, der britische Weltmeister von 1965, hat eine halbe Flasche Cognac leergetrunken, die auf dem Tisch stand. Danach ist er wie ein wildes Tier raus gerannt und wieder auf sein Rad gestiegen.“(6)

Ein paar Kilometer weiter biegen die Fahrer in den Berg hinein und das Drama nimmt seinen Lauf: „Und nun meine Damen und Herren beginnt der Kampf um das gelbe Trikot beim Aufstieg zum Mont Ventoux. Von dreihundert Meter Höhe geht es hinauf auf zweitausend Meter. Das ist auf der Distanz von 21 Kilometern – ein gewaltiger Unterschied. Hier trennt sich bei brennender Sonne die Spreu vom Weizen – denn wenn der Begriff ‚Tour de France als Tour der Leiden‘ irgendwo seine Gültigkeit hat, dann hier im Fegefeuer des Mont Ventoux. Es ist unmenschlich, was hier von den Fahrern verlangt wird. Aber sie fahren, fahren, fahren und kämpfen sich Meter um Meter dieses schmale und gewundene Asphaltband hoch.“(7) So berichtet der Deutsche Rundfunk live von der Etappe. Gebannt sitzen die Fans vor den Radios oder stehen am Straßenrand. An der Spitze gibt es einen Zweikampf zwischen Raymond Poulidor, dem Liebling der Franzosen und dem kleinen Spanier Julio Jimenez. Sie haben sich von ihren Rivalen um etwa drei- bis vierhundert Meter absetzen können. Dahinter folgt eine illustre Gruppe mit dem Vorjahressieger Jan Janssen aus Holland. In seinem Schlepptau sitzen der Italiener Felice Gimondi, der die Tour 1965 gewann, sein Landsmann Franco Balmanion sowie der französische Leader und spätere Sieger dieser Tour, der elegante französische Stilist Roger Pingeon. Zur großen Überraschung aller steckt auch der Fahrer mit dem Cognac vom Observatoir Tom Simpson im kleinen Feld der Verfolger.

Simpson, aus Durham im Nordosten Englands stammend, ist ein hochgeschossener und begnadeter Rouleur. Er gewann während der Olympischen Spiele 1956 im australischen Melbourne in der Bahneinzelverfolgung die Bronzemedaille. Simpson war 1962 auch der erste Brite, der das Gelbe Trikot der Tour de France getragen hatte. Gleichfalls als erster Brite gewann Simpson 1965 die Straßenrad-Weltmeisterschaft. Der Klassikerjäger holte außerdem Siege von drei der fünf Monumente des Radsports: Er gewann er die Flandern-Rundfahrt, Mailand-San Remo sowie die Lombardei-Rundfahrt. Im Jahr seines Straßen-Weltmeistertitels wurde er außerdem zur BBC Sports Personality of the Year und damit zum Sportler des Jahres in Großbritannien gewählt. Tom Simpson ist äußerst beliebt im Feld der Rennfahrer. Er weiß immer ein freundliches Wort gegenüber seinen Rivalen und sprudelt nur so vor Lebensfreude. Für die Saison 1968 will sich Tom verändern und sein Markenteam Peugeot verlassen, um bei Felice Gimondis Salvarani Mannschaft in Italien zu fahren.(8) Man ist sich einig und das Salär wird aufgrund von Simpsons Leistungen auf der diesjährigen Tour bestimmt. Je besser Simpson fährt, desto höher wird sein Lohn ausfallen. Eine ganz normale Abmachung und der Grund dafür, warum sich der gute Tom derart verbissen den Berg hinaufprügelt.

Doch in seinem Gesicht ist nun während des Aufstiegs zum Mont Ventoux keine Lebensfreude und auch kein freundliches Lächeln mehr zu erkennen. Simpson wirkt blass. Er atmet schwer, aber er hält immer noch mit der Gruppe mit. Noch. Dann, mit einem Mal, fällt er aus der Gruppe raus. Der Tritt wird schwer. Mit letztem Kraftaufwand fährt er ein paar Meter im Stehen und versucht, mit erhöhter Geschwindigkeit erneut den Anschluss herzustellen. Es klappt nicht. „Jetzt oder nie“, wird er sich gesagt haben und greift nach hinten in seine Trikottaschen. Er wuselt suchend, bis er ein kleines Flacon in der Hand hält. Er dreht den Verschluss auf und stürzt den Inhalt runter. Es sind flüssige Amphetamine, die Simpson in diesem Moment zu sich nimmt und dabei sein eigenes Gesetz bricht: Mehr als acht Milligramm Amphetamine pro Etappe sind tabu – ansonsten könnte es dramatisch enden.(9) Vor allem bei hohen Temperaturen wirken Amphetamine kontraproduktiv.

Simpson ist bekannt dafür, dass er unverhältnismäßig viele Dopingmittel konsumiert.(10) Es ist bereits das zweite Flacon, das er während dieser Etappe schluckt. Es kommt, wie es kommen muss: Die toxische Mixtur aus Cognac, Amphetaminen und kleinen Mengen an Morphium machen die Beine schwerer und schwerer. Die sengende Hitze tut ihr Übriges. Tom fällt zurück und wird bald von einer zweiten Gruppe eingeholt. Diese Gruppe wird von dem Luxemburger Johnny Schleck angeführt. Auch Lucien Aimar ist in dieser Gruppe. Aimar ist Franzose und gewann die Tour im Vorjahr. Plötzlich fährt Tom Simpson Schlangenlinien. Er scheint wie von Sinnen zu sein. Aimar stellt fest, in welch erbärmlichen Zustand Simpson ist. Er versucht, mit ihm zu reden und offeriert ihm, er solle an seinem Hinterrad bleiben und versuchen, den Berg gemächlicher hochzufahren. Keine Reaktion. Im Gegenteil: Der Engländer versucht, eine Attacke zu setzen. Wie vom Wahn umzingelt tritt Simpson im Stehen in die Pedale und gewinnt tatsächlich ein paar Meter auf die Gruppe, sackt aber sogleich wieder in den Sattel zurück. Als Aimar wieder aufschließt, will er Simpson Wasser geben. „Trink Tommy, trink etwas.“ Wieder keine Reaktion. „Er sah aus wie ein Zombie“, berichtet Aimar nach der Etappe.(11)

Mittlerweile ist die Vegetationsgrenze überschritten. Nirgends gibt es nun Schatten. Eine brutale Hitzewelle schlägt den Fahrern entgegen. Wie in einem Ofen. „Diese erbarmungslose Glut kombiniert mit der steigenden Höhendifferenz machen das Treten zum diabolischen Schauspiel. Die Fahrer hecheln nach Sauerstoff. Es war mörderisch“, äußert sich Colin Lewis, einer der englischen Teamkollegen Simpsons, und erzählt, dass er vorher und nachher nie eine vergleichbare Hitze wie jene des 13. Julis 1967 am Mont Ventoux erlebt hatte.(12) Derweil kämpft Simpson seine eigene private Schlacht: Er fällt auch aus der zweiten Gruppe um Schleck und Aimar raus. Nur noch Schritttempo und im Zickzackkurs über die gesamte Straßenbreite versucht er verzweifelt, die Kontrolle über sein Fahrrad zu behalten. Vergebens: Es gelingt nicht und er kollabiert ein erstes Mal. Simpson fällt vom Rad. Teammanager Alec Taylor fährt mit dem Teamwagen sofort zur Stelle. Teammechaniker Harry Hall steigt aus und sprintet Simpson zu Hilfe. „Los jetzt, Tom!“ brüllt Hall auf Simpson ein. „Lass es gut sein! Deine Tour ist jetzt zu Ende!“(13) Keuchend trifft auch Taylor ein. Beide ducken sich zu dem Mann, der da mehr tot als lebendig im Steinbeet liegt. Doch Tom will weiterfahren. „Get me on the fucking Bike – setzt mich auf das verflixte Fahrrad“, soll laut dem französischen Journalisten Maurice Séveno Tom Simpson mit letzter Kraft geflucht haben. Hall schaut fassungslos zu, wie Taylor Simpson wortlos wieder auf den Sattel setzt und versucht, ihn anzuschieben. „Meine Riemen, Harry ... meine Riemen sind noch nicht angezogen“ fabelt Simpson, und die letzten Worte, die Hall von Simpson hört, sind „Fahren. Fahren. Fahren ...“(14) Zu diesem Zeitpunkt ist Tom bereits bewusstlos.

Die Zuschauer scharen sich um den bedauernswerten Fahrer und stützen ihn, damit er sich auf dem Rad halten konnte. Über den Lenker gekrümmt fährt, nein, kriecht er nochmals 400 Meter. Taylor brüllt verzweifelt und gleichzeitig aussichtslos aus seinem Wagen und feuert den Sterbenden weiter an. Und dann bricht Simpson ein zweites Mal zusammen. Endgültig.

Tourarzt Pierre Dumas, schon beim Drama von Jean Malléjac 1955 dabei, ist sofort zur Stelle. „Als ich am Unfallort ankam, lag Simpson am Boden. Die Leute liefen aufgeregt um ihn herum. Ein anwesender Arzt hatte bereits begonnen, sich um ihn zu kümmern. Sofort behandelten wir Simpson mit diesen Reanimierungen, genauso wie man das bei solchen Fällen tut. Wir flößten ihm Flüssigkeit und Sauerstoff ein. Mehr kann man da nicht machen.“ (15) Dumas meint zudem später in einem Interview: „Mit dem Bewusstsein, welche Dopingsubstanzen die Fahrer benutzten, hätten wir ein solches Drama vorhersehen können.“(16) Doktor Dumas konnte nur noch den Tod Tom Simpsons feststellen. Mit dem Helikopter wird der Leichnam des Rennfahrers in das Spital von Avignon geflogen. Zum Erstaunen aller weigert sich Dumas, den Totenschein vor Ort auszustellen. „Meine Entscheidung blieb natürlich nicht ohne Folgen. Die Polizei und ein Untersuchungsrichter wurden eingeschaltet. So wurde der Vorfall ordnungsgemäß untersucht“, rechtfertigt sich Dr. Dumas. „So konnte die Sache nicht einfach abgetan werden. Dadurch konnte niemand behaupten, dass Simpson an einem Hitzeschlag starb.“(17)

Tour-Sportdirektor Jacques Lohmuller war ebenfalls auf der Höhe des Geschehens und meint heute noch, dass Alec Taylor Tom Simpson gezwungen hat weiterzufahren. Für ihn ist klar: „Manager Taylor ist verantwortlich, dass Simpson sterben musste.“(18) Gemäß Lohmuller hat es Taylor zugelassen, dass Simpson vollgestopft mit Amphetaminen, Morphium und Alkohol einen Mörderberg wie der Mont Ventoux in größter Hitze hinauffuhr. Taylor hätte die Möglichkeit gehabt, Tom Simpson davon abzuhalten weiterzufahren, als dieser ein erstes Mal in den Steinen lag.(19) Der Ehrgeiz von Trainern, Coaches und Manager kann manchmal gefährlich sein. In extremen Fällen sogar lebensgefährlich.

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