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Die Sportsoldaten

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Wir schauen zurück auf den 20. Oktober des Jahres 2014. Die Betroffenheit im thüringischen Greiz ist groß, denn an diesem Tag wird der wohl berühmteste Einwohner der Kleinstadt im südöstlichen Teil des Vogtlands, nahe der tschechischen Grenze, zu Grabe getragen. Gerd Bonk war erfolgreicher Gewichtheber, Weltrekordhalter sowie Olympia-Medaillengewinner und galt einst als stärkster Mann der Welt. Im Alter von nur 63 Jahren stirbt er an den Folgen des systematischen Dopings der ehemaligen DDR. Bonk wurde seit seiner Kindheit gedopt. Wie Tausende andere Kinder auch, die für den sportlichen Erfolg der ostdeutschen Ideologie missbraucht wurden.

Auf die Frage, wie sie sich fühlte, als ihr bewusstwurde, dass sie über Jahre gedopt wurde, äußert die ehemalige Weltklassekunstturnerin Dagmar Kersten: „Ich kann schon sagen, [...] dass ich mich nicht mehr als Mensch gefühlt habe, sondern als Versuchsobjekt und Ware, weil so etwas ist unmenschlich [...].“(1) Auch sie war ein benutztes Kind mit dem Klassenauftrag: Siegen zum Ruhm des sozialistischen Vaterlandes.(2) Ihre Ehrung kam, nachdem sie 1988 in Seoul die Silbermedaille gewann. Staats- und Parteichef Erich Honecker ließ es sich nicht nehmen und beglückwünschte die damals siebzehnjährige Kersten höchstpersönlich und verleite ihr den Vaterländischen Verdienstorden, den Orden eines scheußlichen und beschämenden Regimes, das Kinder wie Dagmar Kersten oder Gerd Bonk verbrecherisch und mit allen Mitteln auf Erfolg trimmte.(3)

Dass sie über Jahre hinweg gedopt war, hat Kersten erst später herausgefunden. Es war nur einer Laune des Zufalls, dass sie jemals erfahren konnte, was man mit ihr als Kind und Jugendliche anstellte. „Das wäre sonst niemals herausgekommen.“(4)

Das DDR-System hatte seine Medaillenlieferanten bewusst belogen und perfide getäuscht. Viele haben den Lügen geglaubt. Auch Dagmar Kersten. Selbst in einem Interview im Jahre 1991 beim SWR Sport im Dritten, also drei Jahre nach dem Zerfall der DDR, hielt sie es für ausgeschlossen, dass ihr unerlaubte Substanzen verabreicht wurden. Was sie damals noch nicht wusste, war, dass auch sie Versuchsobjekt eine Therapieprogramms für die talentiertesten Kunstturnerinnen war.(5)

Dabei wurden den jungen Sportlerinnen heimlich, als Vitamine getarnt, männliche Sexualhormone verabreicht. Dagmar Kersten ist heute eine der wenigen Betroffenen, die ihre Krankenakten vollumfänglich bekommen hatte. Darin steht unter anderem: Stoffwechselschema nach Kaiser. Das ist der Beweis dafür, dass sie als Minderjährige ohne ihr Wissen gedopt war. Beteiligten Ärzten waren die Konsequenzen egal.(6)

Mit neun Jahren wurde die kleine Dagmar aus Cottbus ins zentrale Trainingszentrum nach Berlin delegiert. So ging es allen Kindern, die sich durch sportliches Talent auszeichneten. Aus Spaß an Bewegung und an der Freude wurde mit dem Übertritt in die sozialistischen Sportkasernen ernsthafter und brutaler Leistungssport. Fünf Jahre später wurde Dagmar ein erstes Mal für internationale Wettkämpfe für die Nationalmannschaft aufgeboten. Das hieß Schule und teilweise mehr als sieben Stunden Training – und zwar jeden Tag. Das ist unmenschliche Schwerstarbeit und ohne systematisches Doping nicht auszuhalten.(7)

Der geschundene Körper der jungen Sportlerin zollte schon früh Tribut. Kein Jahr ohne Aufenthalt in einer Sportklinik. Man gewährte keinerlei Rücksicht auf die Gesundheit, denn diese stand immer im Schatten des Leistungsauftrags für das Vaterland. Um derartige Umstände sowie die Motivation der Sportfunktionäre der DDR zu verstehen, müssen wir erst einmal in die Anfänge des sozialistischen Staates zurückblenden: Die politischen Wirren der Nachkriegszeit trennen Deutschland in zwei Teile. Ost und West. Im Westen lag die Bundesrepublik unter Beaufsichtigung der Westmächte USA, Großbritannien und Frankreich. Der Osten dagegen war als Deutsche Demokratische Republik sowjetisches Herrschaftsgebiet. Nach dem Kriegsende verfolgte die westliche Welt den sogenannten Marshallplan, das European Recovery Program. Dieser Plan beinhaltete ein groß angelegtes, marktwirtschaftliches Wirtschaftsaufbaupaket. Die BRD profitierte bis 1953 von einem Kredit von über 1,4 Milliarden US-Dollar für den Wiederaufbau. Heute würde das einem Betrag von über 130 Milliarden US-Dollar entsprechen. Aber nicht nur Deutschland erhielt Unterstützung. Viele wichtige Länder Westeuropas wie Frankreich, die Niederlanden, Belgien, Italien, Schweden oder Portugal partizipierten am Marshallplan und profitierten von der Hilfe. Mit diesen Maßnahmen wurde neben dem Wiederaufbau auch sichergestellt, dass sich keines der Länder weg vom Kapitalismus hin zum Kommunismus des Sowjetregimes wandte. Der Marshallplan stand demnach auch als Bollwerk gegen den Sozialismus.(8)

Im Osten Europas machte sich die UdSSR als Kopf und Geist aller sozialistischen Staaten stark. Als Gegenentwurf zum Marshall Plan gründete man unter der Sowjetführung ab 1949 den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, den RGW. Bei der Gründung waren neben der Sowjetunion Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Ungarn und die Tschechoslowakei dabei. Ein Jahr später stieß auch die neu gegründete DDR dazu. Der RGW hatte zum einen die Aufgabe, eine Arbeitsteilung zwischen den sozialistischen Staaten zu erreichen und zum anderen eine sukzessive Angleichung der sehr unterschiedlichen ökonomischen Bedingungen zu schaffen. Gelder waren in diesem Umfeld knapp und die Menschen der sozialistischen Staaten litten unter der sich anschließenden Unterbindung des Exports und Imports von Waren und Rohstoffen in und aus der westlichen Welt. Nichtsdestotrotz mussten die Völker der osteuropäischen Länder bei Laune gehalten werden und fand im staatlich verordneten Förderprogramm des Sports die Lösung. Alle Ostblockstaaten taten sich damit hervor und die DDR zeichnete sich dabei als besonders effizient aus. Nicht nur das. Man war in Ostberlin gewillt, der Welt zu zeigen, zu was man als kleines Land in der Lage war. Die Spitzensportler der DDR waren die besten Botschafter für die junge Nation und galten als Diplomaten in Sportanzügen.

Doch Tausende von Akten der Staatssicherheit bezeugen nach dem Zerfall der DDR, dass in den Sportkasernen eisenhart trainiert, aber auch systematisch gedopt wurde. Anabolika, Testosteron und Wachstumshormone wurden massenhaft als so genannte unterstützende Mittel bereits an Kinder und Jugendliche verabreicht. Mehr als 10’000 Leistungssportler hat die DDR zum Doping verurteilt. Streng nach Plan.(9)

Alle Kinder wurden zuerst zielbewusst gesichtet, vermessen und auf Leistungstauglichkeit getestet. Wer den Vorgaben entsprach, wurde den verschiedenen Drillanstalten zugeteilt. Die Vorbereitung begann bereits im Kindergartenalter. Die geeigneten Talente wurden ohne ihr Wissen Schritt für Schritt in das listige und hinterhältige Dopingsystem eingeführt. Alles wurde dem geheimen Staatsplan 14.25 untergeordnet, einer Doktrin aus staatlichen Vorgaben zum Aufbau eines umfassenden Systems des organisierten Dopings. Das Konzept 14.25 sah vor, Forschung in Bezug auf Doping, aber eben auch ein flächendeckendes Dopingsystem in der DDR aufzubauen und sehr effizient und äußerst aggressiv umzusetzen. Die Vorgänge im damaligen Ostdeutschland waren im Grunde genommen nichts anderes als ein groß angelegter Menschenversuch, der über zweihundertmal olympisches Gold brachte. Wichtigster Bestandteil war die Optimierung durch männliche Sexualhormone – auch bei Minderjährigen. Die involvierten Ärzte machten gesunde Menschen krank.(10)

Noch heute kommen immer wieder neue Perversionen ans Tageslicht. Da gibt die Geschichte einer jugendlichen Eiskunstläuferin, die nach umfassenden Eignungstests gezwungen wurde, zum Eisschnelllaufen zu wechseln. Damit sie sich danach Schema entfalten konnte und wettbewerbsfähig blieb, musste sie innerhalb kürzester Zeit über dreißig Kilo zunehmen. Oder jener Skandal einer blutjungen Turnerin, die während ihrer Zeit als Sportlerin vorerst künstlich klein gehalten wurde und nach ihrer Karriere mit derart ungeheuerlichen Ladungen mit Wachstumshormonen therapiert wurde, dass sie innerhalb eines Jahres um mehr als zehn Zentimeter wuchs. Es gibt Tausende solcher Geschichten aus der DDR-Sportförderung. Einige Athleten sind an den Folgen dieses medizinischen Größenwahns gestorben.(11) Andere leiden unter mentalen Problemen wie Psychosen, Depressionen oder erkranken an Bulimie und Magersucht. Viele Frauen leiden unter schweren gynäkologischen Schäden wie unter anderem durch Fehlgeburten, verkrüppelten Eileitern oder Gebärmutterbeschwerden und erlitten Fehlgeburten. Es gibt Tumore und beinahe alle Athleten sind an Schädigungen am Bewegungsapparat erkrankt.(12)

So auch Dagmar Kersten: „Auch jetzt mehr als fünfundzwanzig Jahre nach dem Ende meiner Karriere habe ich natürlich jeden Tag Schmerzen. Vor allem die Gelenke tun weh und ich kann kaum durchschlafen.“(13) Zu einem Arzt zu gehen kommt jedoch für die Mutter von zwei Kindern in keinem Fall infrage. Die negativen Erfahrungen von damals machen sie den Halbgöttern in Weiß gegenüber skeptisch.

Im Jahre 1988, ein Jahr vor der Wende, hatte Dagmar Kersten genug vom Spitzensport. Sie war müde und hatte es satt, sich weiter zu quälen. Sie wollte aufhören und gab ihren Rücktritt bekannt. Doch das Regime war gegen diesen Entscheid und wollte, dass die Turnerin weitermachte. Sie war zu gut, um einfach so Schluss zu machen. Der Leistungsauftrag stand im Vordergrund. Kersten wehrt sich und drohte dem stellvertretenden Staatschef Egon Krenz schriftlich, dass sie auspacken und erzählen würde, wie es in den Sportkasernen zu- und hergeht, wie Trainer, Ärzte und Funktionäre mit Doping und Drill vorgehen. Erst da gab man klein bei und erlaubte Dagmar Kersten, offiziell Schluss zu machen: „Nachdem das alles vorbei war, ist eine riesige Last von mir gefallen. Ich fühlte mich wie befreit und endlich durfte ich wieder essen, was ich wollte, nachdem ich mit achtzehn ein Sollgewicht von 43 Kilogramm halten musste.“(14) Die junge Frau durfte sich endlich unabhängig bewegen und machen und tun, was sie wollte.(14)

Die Gesamtverantwortung für das systematische Doping der DDR trug Manfred Ewald. Bis 1988 zog er über viele Jahre als Chef des Turn- und Sportbundes sowie als Präsident des Nationalen Olympischen Komitee die Fäden und bestimmte mit, wie der Sport in Ostdeutschland zu funktionieren hat. Ewald war das „DDR Sportwunder“ zu verdanken und deshalb galt er in seiner Zeit als ideologisches und omnipräsentes Sprachrohr. Er stand immer an vorderster Front und umgab sich regelmäßig mit den Stars der Leistungsspitze. Und wenn einmal der Erfolg ausblieb, geschah es häufig, dass er die fehlbaren Sportler aufs Übelste beschimpfte. Ihm zur Seite stand der Chefmediziner Manfred Höppner. Er war für die Umsetzung der wissenschaftlichen Methoden zuständig und zudem für die Menschenversuche mit Dopingmitteln verantwortlich. Im Gegensatz zu Ewald war Höppner während seiner aktiven Zeit ein Phantom. Man kannte weder sein Gesicht noch seinen Namen und er trat nie in der Öffentlichkeit auf. Erst viel später, während den Gerichtsverhandlungen, wurde seine Person bedeutungsvoll. Erst dann kam aus, dass Höppner unter dem Dach des Sportmedizinischen Dienstes Präparate an Verbandsärzte übermittelte. Von dort aus wurden die unterstützenden Mittel an Sektionsärzte und schließlich an die Trainer übergeben. Die Sektionsärzte bestimmten die Dosierung für den jeweiligen Sportler oder die jeweilige Sportlerin.

Im Jahre 2000 wurden sowohl Ewald als auch Höppner zu Bewährungsstrafen von zweiundzwanzig beziehungsweise achtzehn Monaten verurteilt. Der Vorwurf: Beihilfe zur Körperverletzung.(15) Wenn man bedenkt, was die beiden Spitzenfunktionäre vielen Kindern und Jugendlichen angetan haben, sind sie mit den diesen Strafen beachtlich gut weggekommen. Es gab Beteiligte, die noch milder bestraft wurden. Einige Dopingärzte kamen mit Geldstrafen davon. Bei anderen wurden die Verfahren wegen Mangels an Beweisen eingestellt. Ihre Zulassung als Sportärzte haben die Mediziner jedoch nie verloren. Das Dopingwissen der DDR Doktoren war weltweit begehrt und sie bekamen gute Jobs in internationalen Sportsystemen. Noch heute arbeiten viele von damals mit jungen und hoffnungsvollen Sportlern zusammen.

Doch standen alle, von Ewald über Höppner bis hin zu Ärzten, Funktionären und Trainern, unter dem Eid des Sekretärs der Abteilung Sport im Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Und auch die beteiligten Einrichtungen standen angesichts des befohlenen Staatsplans Gewehr bei Fuß. Neben dem Forschungsinstitut für Körperkultur und dem Sportmedizinischen Dienst vervollständigten die Chemiefirmen Jenapharm und das Arzneimittelwerk Dresden als Hersteller der verwendeten Präparate das System. Hauptsächlich wurden in beiden Unternehmen Anabolika, Androstendion und Mestanolon hergestellt. Die Substanzen wurden exklusiv als Leistungsförderung für den Sport hergestellt und hatten nie einen medizinischen Zweck.(16)

Die detaillierten Aufklärungen der Machenschaften der DDR nützen dem Gewichtsheber und einst stärksten Mann der Welt Gerd Bonk nichts mehr. Die letzten Jahre seines Lebens war er apathisch und an den Rollstuhl gebunden – gezeichnet von den Dopingmitteln, die er im Laufe seiner Sportkarriere zu sich nahm, nein, gezwungen war zu nehmen. Gerd Bonk bekam 12000 Milligramm Anabolika pro Jahr – so viel wie kein anderer DDR Athlet.(17)

Doping, Training, Zwang und sicherlich viele Tränen. Niemand bekam von all dem etwas mit, weder Eltern noch Freunde. Leistungssport war aber nicht nur in der DDR eine geschlossene Gesellschaft.(18)

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