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Der Aussenseiter

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Mit kräftigen Tritten stapft Michel Pollentier aus dem belgischen Diksmuide dem Ziel auf der Alpe d’Huez entgegen. Die Sonne brennt während dieser Julitage im Jahre 1978 unbarmherzig und besonders heiß auf den französischen Asphalt. In seinem weißen Trikot mit den roten Punkten für den besten Bergfahrer der Tour, seinem schmächtigen Körperbau und dem schütteren Haar sieht Michel nicht wie einer aus, der gerade drauf und dran ist, das größte Radrennen der Welt zu gewinnen. Michel sieht eher wie ein hilfloser Clown in einem grotesken Spiel der Mächtigen im Radsport aus. Doch der Belgier setzt sich durch und gewinnt sensationell die Königsetappe und übernimmt das gelbe Leadertrikot.

Das Radsportjahr 1978 ist ein Jahr des Umbruchs. Im Frühjahr beendet der große Eddy Merckx seine aktive Karriere. Von der unglücklichen Vorsaison hat sich Merckx nicht mehr erholt und wollte bereits Ende 1977 aufhören. Bekräftigend für den Entscheid, seine Karriere zu beenden, war sicherlich auch, dass er positiv auf Pemoline getestet wurde.(1) Doch der neue Teamsponsor, die Modekette C&A, wollte bei der Vertragsunterzeichnung mit dem Team, dass Merckx zumindest bis in den April der Saison im neuen Trikot mitfährt. Nur klar, dass der Kannibale den Gentlemen spielt und mit seiner Unterschrift seine ehemaligen Helfer nicht einfach im Stich lässt und sichert ihnen die weitere Existenz im Feld der Profifahrer. Das Vakuum, das der über Jahre dominierende Merckx nicht nur in seinem Team, sondern auch im Feld der Veloprofis hinterlässt, ist immens und stößt den gesamten internationalen Radsport in eine Phase des Suchens: Die Rennfahrer sind es nicht gewohnt, dass es keinen Chef im Feld mehr gibt. Am ehesten traut man es vielleicht den Franzosen zu, die entstandene Lücke zu füllen. Immerhin gewann mit Bernard Thévenet im Jahr zuvor einer der ihren die Tour de France bereits zum zweiten Mal. Thévenet wurde jedoch bereits 1977 bei Paris–Nizza positiv auf Doping getestet und im folgenden Winter musste er aufgrund eines Leberleidens, dessen Auftreten dem Langzeitgebrauch von Steroiden zugeschrieben wurde, ins Krankenhaus eingeliefert werden. Thévenet gab später öffentlich bekannt, über einen Zeitraum von drei Jahren mit Cortison gedopt zu haben.(2) Thévenet scheint daher wohl eher ungeeignet, als legitimer Nachfolger von Merckx’s zu gelten. Da war sein Namensvetter Bernard Hinault wohl eher dazu berufen.

Denn Hinault ist jung, unverbraucht und fährt für die französische Renault Gitane Equipe. Der jugendliche Bretone fällt bereits 1977 bei den Klassikern im Frühjahr auf und gewinnt kleinere Rundfahrten. Zudem möchte Hinaults Teamsponsor, der Automobilkonzern Renault, größeren Einfluss auf den französischen Radsport einnehmen ausüben und diesen als Werbevehikel für seine neueste Produktpalette nutzen. Vonseiten Renaults ist man daher sehr interessiert, dass die neu formierte Radmannschaft eine tragende Rolle im Peleton und insbesondere an der Tour de France einnehmen soll. Bernard Hinault gewinnt im Frühjahr 78 bereits die Vuelta a España und wird im Juni französischer Straßenmeister. Die Geschicke des Renault Rennstalls lenkt übrigens ein erfahrener Fuchs: Cyrille Guimard, ehemaliger Rennfahrer und großer Taktiklehrmeister des Radsports. Guimard pilotierte zwei Jahre vorher bereits den kleinen Belgier Lucien Van Impe zu dessen Tour de France-Sieg. Und nun war ganz Frankreich in Erwartung für einen Tour de France-Sieg Hinaults.

In der ersten Woche der Tour wechselt das Gelbe Trikot mehrmals. Unter anderem konnte es der Deutsche Klaus-Peter Thaler nach einem Etappensieg im Massensprint für zwei Tage übernehmen. Auch Thalers bekanntere Kollegen vom Team Raleigh Jan Raas und Gerie Kneteman, beides Brillenträger aus Holland, fuhren für kurze Zeit in Gelb. Bis Joseph Bruyère vom C&A Team nach dem ersten langen Zeitfahren die Malliot Jaune übernimmt. Bruyére ist Belgier und war lange Jahre so etwas wie ein Edelhelfer Eddy Merckx’. Nun hat er selbst Gelb – und will es nicht mehr hergeben und trägt den edelsten Stoff aller Radsportträume bis tief in die Alpen. Beim Zeitfahren, wo Bruyère Gelb übernimmt, kann auch Bernard Hinault reüssieren und seine erste Tour Etappe gewinnen. Er liegt nun in Lauerposition und scheint für den Gesamtsieg gewappnet. Am 16. Juli 1978 kommt es dann zum Show-down der Königsetappe. Diese soll über 240 Kilometer von St. Etienne hoch auf die Alpe d’Huez führen, einem steilen Schlussaufstieg in die Savoyischen Alpen. Dieser Aufstieg ist vierzehn anstrengende Kilometer lang und gespickt mit 21 Spitzkehren.

Erstmals wurde der Berg im Rahmen der Tour 1952 befahren. Der große Fausto Coppi gewann damals die Etappe von Lausanne bis hoch in die Skistation von Huez. Danach wurde der Aufstieg über 20 Jahre nicht mehr ins Programm der Schleife durch Frankreich aufgenommen. Erst 1976 wurde die Bergfahrt hoch zur Alpe von den Organisatoren wieder berücksichtigt. Mittlerweile gehören die Ankünfte auf der Alpe d’Huez zur Folklore der Tour und das kleine Örtchen Huez gelangt zu Weltruhm. Bernard Hinault will hier an diesem heißen Julitag 1978 zum großen Schlag ausholen und beim Aufstieg zur Alpe d’Huez mit der Faust auf den Tisch schlagen und die Entscheidung um den Gesamtsieg erzwingen. Die Experten sind sich vor der Etappe uneinig und zweifeln über Hinaults Vorhaben.

Die Skeptiker sollen Recht behalten. Dem jungen und vor Selbstvertrauen strotzenden Franzosen aus der nördlichen Bretagne stehen nämlich starke Teams mit starken Fahrern gegenüber: Die französische Miko Mercier Equipe um ihren holländischen Kapitän Joop Zoetemelk verfügt gleich über eine Armada von starken Bergfahrern im Aufgebot. Christian Seznec, Raymond Martin und Sven Ake Nilsson, alle selbst fähig, die Tour unter den besten zehn Fahrern zu beenden, stehen dem ewigen Zweiten Zoetemelk als Helfer zur Verfügung. Noch mehr fürchtet Hinault aber die belgische Formation von Velda Flandria. Bei dieser Mannschaft ist Ex-Weltmeister und Sprinterkönig Freddy Maertens unter Vertrag. Maertens hat 1977 die Spanien-Rundfahrt gewonnen. Mit diesem Resultat hat der semmelblonde Belgier bewiesen, dass er fähig ist, eine dreiwöchige Rundfahrt für sich zu entscheiden. Aber vor allem graut es Hinault vor Maertens Mannschaftskollegen Michel Pollentier: Pollentier, von der Statur her kleinwüchsig, gilt als leidenschaftlicher und zäher Bergfahrer und unwiderstehlich im Zeitfahren. Der untersetzte Belgier gehört bereits vor dem Start zu den ganz heißen Kandidaten für den Toursieg dieses Jahres. Sein größter Erfolg hat es in sich: spektakulärer Sieg beim Giro d’Italia 1977. Dafür wurde er belohnt und in Belgien zum Sportler des Jahres gewählt. Unterstützt wird Pollentier von keinem Geringerem als Joaquim Agostinho aus Portugal. Ago, wie man ihn nennt, ist ein Monster von einem Fahrer. Ein Kerl, der sich seine Sporen als Soldat im Angolakrieg abverdiente. Die Legende besagt zudem, dass er seine ersten Rennen mit einem geliehenen Damenrad bestritt und diese natürlich gewann. Dazu stehen mit dem Team noch weitere sehr packende Akteure am Start: Da ist zum einen Marc Demeyer, der belgische Teamkapitän, der auch schon Mal die Hölle des Nordens zwischen Paris und Roubaix gewann. Demeyer unselig, starb vier Jahre später mit nur 31 Jahren, angeblich an den Folgen von übermäßigem Dopingkonsum. Weiter im Team war der Franzose René Bittinger, der als Luxushelfer fungiert. Genauso wie der irische Newcomer Sean Kelly, der damals künftige Superstar des internationalen Radsports, der seine erste Tour de France bestreitet. Als Dirigent dieses illustren Ensembles fungiert Fred De Bruyne. Ein erfahrener und gerissener Directeur Sportiv und Manager, der mit allen Wassern gewaschen scheint und jede noch so kleine Finte des Radsports kennt. Bereits in der ersten Tourwoche zündet das Velda Flandria Team ein fulminantes Feuerwerk. Freddy Maertens gewinnt zwei Etappen – jeweils in Massensprints. Und seine Teamkollegen? Sowohl Pollentier als auch Agostinho sind beide im vordersten Teil der Gesamtwertung klassiert. Alles ist eigentlich wunschgemäß angerichtet und Teamchef De Bruyne kann während der Königsetappe auf Taktik spielen.

Am Abend nach der epischen Bergetappe sieht sich Fred De Bruyne in seiner Taktik bestätigt. Er lächelt milde, denn seine Fahrer haben die ausgeheckten Pläne vollkommen umgesetzt. Auf der Alpe d’Huez werden im Pressecenter mittlerweile die letzten Texte geschrieben. Damals noch auf Schreibmaschinen, weswegen lautes Klappern herrscht. Die Texte lauten in etwa so: „Pollentier wirkt keineswegs wie ein Radchampion. Gequälter Gesichtsausdruck, merkwürdiger Gang und ein unrhythmischer Fahrstil machen ihn beinahe zum Clown. Doch Michel Pollentier, der kleine Belgier, hat tatsächlich die Gunst der Stunde genutzt und die Kronfavoriten Hinault und Zoetemelk düpiert. Der belgische Meister hat sich den Sieg im Skigebiet von L’Oisans mit viel Herz und noch mehr Mut geholt, nimmt seinem Landsmann Joseph Bruyére Gelb ab und ist neuer und souveräner Leader der Tour. Zudem führt Pollentier das Punkteklassement und die Bergwertung an!“(3)

Ein veritabler Coup des Mannes mit der hohen Stirn: Nach einem Angriff am Col de Luitel konnte er seinen Vorsprung bis Alpe d’Huez halten. Gemeinsam mit dem Niederländer Hennie Kuiper sind sich Hinault und Zoetemelk nicht einig und machen sich viel zu spät auf die Verfolgung von Pollentier, der seinerseits längst über alle Berge ist und solo im Ziel ankommt. Hinault verliert 45 Sekunden. Zoetemelk noch mehr. Die Experten sind beeindruckt und schätzen die Chancen des Belgiers, das gelbe Trikot bis Paris zu verteidigen, als durchaus realistisch ein.(3) Pollentier ist ein widerstandsfähiger Kerl und dazu auch ein guter Zeitfahrer. Hinault steht die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Er weiß genau, dass es sehr schwierig wird, diesem entfesselten Pollentier während des 71 Kilometer langen Zeitfahrens zwischen Metz und Nancy die entscheidenden Sekunden abzunehmen und damit die Tour für sich zu entscheiden.

Es folgt der Ruhetag in L’Oisans. Die große Schar der Pressevertreter stellt sich auf einen schönen Tag in den Bergen ein. Doch das Erholungsprogramm muss in jenem Moment aufgegeben werden, als folgende Nachricht wie eine Bombe eintrifft: „Der Franzose Antoine Gutierrez sowie der Tourleader Michel Pollentier wurden während der obligatorischen Dopingkontrolle des Betrugs überführt.“(4)

In einem Interview am Ruhetag meint Pollentier später. „Ich habe nichts anderes gemacht, als alle anderen es auch machen würden. Was heute geschah, ist ein Komplott.“(5)

Doch was ist mit Pollentier und Gutierrez geschehen? Die Meldung lautet weiter: Sowohl Pollentier als auch Gutierrez sollen bei der Abgabe der Dopingprobe betrogen haben, und zwar mit Urin, der nicht von ihnen selber stammt. Der junge italienische Arzt und leitende Anti-Doping Kontrolleur Renaldo Sacconi wundert sich angesichts des Verhaltens der beiden Fahrer bei der Vorbereitung zur Urinprobe. Und zwar so lange, bis es ihm zu bunt wird. Sacconi stellt sich zuerst vor Antoine Gutierrez und lässt ihn sein Verhalten klären. „Trikot ausziehen“, wird Sacconi geranzt haben. Was er dann entdeckt, ist ein Röhrensystem mit einem Kondom unter der Achsel Gutierrez’. In diesem Kondom stellt der Kontrolleur Fremdurin fest. Gutierrez ist enttarnt. Nun stellt sich Sacconi auch vor Pollentier, lässt ihn sich entblößen und stellt Gleiches wie bei Gutierrez fest. Beide wollen reinen Urin zur Kontrolle abgeben, weil ihr eigener Urin möglicherweise durch unerlaubte Dopingmittel verunreinigt war.(6)

Pollentier’s Masseur befindet sich ebenfalls im Dopingkon-trollwagen. Willy Voet. Ja, genau jener Unglückliche, der zwanzig Jahre später der Auslöser des Festina Skandals sein sollte. Voet wird 1998 an der französisch-belgischen Grenze von Zollbeamten angehalten und festgenommen, als er mit seinem Teamwagen die Grenze passieren wollte. In seinem Wagen fanden die Beamten 234 Ampullen EPO, 80 Einheiten Wachstumshormone und 160 Tabletten Testosteron. Die Zollbeamten fackeln nicht lange und stecken Voet in Untersuchungshaft. Auch Sacconi zögert 1978 nicht lange, lässt Gutierrez und Pollentier auffliegen und meldet das Vergehen der Tourleitung. Voet eilt aufgeregt zu seinem Sportlichen Leiter Fred De Bruyne und meldete die schrecklichen Neuigkeiten.

Nach dem erbarmungslosen Befund sind Pollentiers Erklärungen wirr. Der belgische Meister ist sichtlich durcheinander und meint: „Ich habe nicht betrogen. Ich hatte zwar die Absicht dazu, habe diese aber nicht in Tat umgesetzt. Mir wurde die Flasche abgenommen, bevor ich sie verwenden konnte. Ich habe also eine normale Probe abgegeben. Vielleicht fällt diese ja nicht einmal positiv aus.“ Tatsächlich gab Pollentier eine normale Probe ab. Die Resultate dieser Probe wurden jedoch nie veröffentlicht.(7) Pollentier wird trotzdem sofort aus der Tour geworfen und für zwei Monate gesperrt. Pollentier fühlt sich elend und wittert einen Komplott. Durfte er diese Tour nicht gewinnen, weil sie für Hinault bestimmt war? Die Theorie einer Verschwörung ist in keiner Weise abwegig. Frankreich war Ende der siebziger bis Mitte der achtziger Jahre immer noch eine Zweiteweltkriegs-Nation. Es war damals normal, dass man die Milch immer noch draußen vor dem Küchenfenster zur Kühlung stehen ließ, weil man schlicht keinen Kühlschrank besaß. Autos waren sehr selten auf den Straßen zu sehen und wer einen Wagen fuhr, wurde bewundert. In Frankreich gab es immer noch die Todesstrafe für Kapitalverbrechen. Man war eine Nation ohne großes Selbstvertrauen, in der Krise und niemand wusste genau, welchen Platz man als Land in der Welt innehatte. Man brauchte daher Vorbilder, um aus dieser Depression herauszukommen. Da kamen erfolgreiche Sportler genau zum richtigen Zeitpunkt. Es war nicht von ungefähr, dass ab 1975 die goldene Ära des französischen Sports eingeläutet wurde: Michel Platini war der Anführer einer ganz großen Fußballergeneration, die ab 1978 Erfolg an Erfolg reihte. Man qualifizierte sich für die Weltmeisterschaften 1978, 1982 und 1986. Man feierte als Höhepunkt 1984 den Titel des Europameisters sowie ein paar Monate später den Olympiasieg .

Da war Alain Prost der Formel 1-Star, der ab 1979 bis 1990 gleich mehrfach Weltmeister wurde. Oder wer erinnert sich nicht an Yannick Noah? Der Tennis-Rastelli räumte ab 1977 mehrfach Titel auf höchstem Niveau ab. Unter anderem gewann er Wimbledon und die French Open. Da waren auch andere Sportarten, die sich plötzlich auf der globalen Landkarte an der Weltspitze zeigten. Im Rugby gewann man zwischen 1970 und 1989 gleich sechsmal die Five Nation Cup. Etwas, was vorher und nachher niemals wieder geschah. Unerwartet war man auch in Frankreichs Randsportarten vorne dabei. Die Leichtathletik feierte plötzlich Siege und im Eishockey schloss man zur Weltspitze auf und bot nun den traditionellen Eishockeynationen wie der Sowjetunion und Kanada die Stirn. Da scheint es mehr als nur legitim, dass auch der in Frankreich heiß geliebte Radsport Helden brauchte und ab 1978 Bernard Hinault heißen sollte.

In dieser Aufbruchsstimmung hat sich Bernard Vernier-Palliez 1975 zum neuen Unternehmensführer von Renault gemausert. In seinem ersten Jahr als Boss des Autoriesen musste Vernier-Palliez leibhaftig mit ansehen, wie der große Konkurrent Peugeot aus Socheaux die Gazetten und Magazine mit dem ersten Toursieg Bernard Thévenet’s dominierte und die Marke Renault in den Hintergrund schob. Thévenet fuhr seit Jahren für Peugeot. Das kann nicht sein, wird man sich in den Renault-Chefetagen gesagt haben und entschied sich für größere Investitionen in den Radsport. Ab 1976 hat man Cyrille Guimard, den umtriebigen Teammanager des Gitane- Teams, beauftragt, eine schlagkräftige Truppe zusammenzustellen und sofort einen Toursieger zu liefern. Möglichst einen französischen. Noch im gleichen Jahr gewinnt zwar ein Gitane-Mann die Tour. Aber der erwünschte Effekt verpufft, weil mit Lucien Van Impe ein Belgier gewann. Man muss wissen: Die Fahrradmarke Gitane gehörte seit 1974 zum Renault-Konzern und da wollte man mehr. Zwei Jahre später, im Jahre 1978, war Guimard mit Hinault so weit, dass dieser die Grand Boucle gewinnen konnte. Gerade zum richtigen Zeitpunkt, denn eine Nachricht schlägt wie eine Bombe ein: Vier Jahre nach der Übernahme von Citroen kauft Peugeot nun auch die europäischen Chrysler-Filialen auf. Mit einem Schlag ist Peugeot zum größten Automobilhersteller Europas aufgestiegen und hat sich eine Reihe von Automobilwerken in Frankreich, Großbritannien und Spanien einverleibt. Vernier-Palliez schmerzt diese Entwicklung, aber tröstet sich: Peugeot ist zwar größter Produzent des Landes, aber Renault soll mit Hinault die Tour de France gewinnen.

Bernard Vernier-Palliez war neben seinem Job bei Renault stark in die Politik Frankreichs eingebunden. Er war eng mit dem Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing befreundet, später auch mit dessen Nachfolger Francois Mitterrand und wurde nach seinem Abgang bei Renault 1985 französischer Botschafter in den USA und einer von Frankreichs Spitzendiplomaten. Vernier-Palliez hatte dank seines Jobs politische Beziehungen und bereits 1978 genügend Macht und Einfluss, um mitzubestimmen, wie der künftige Tour Sieger heißen soll. Und der Name des kleinen und unbedeutenden Belgiers Michel Pollentier passte nicht in die Profilierung einer gesamten Nation. Und weil Pollentier rein sportlich das Zeug hatte, die Tour tatsächlich zu gewinnen, musste dieser weg. Sofort –und egal wie.

Dieser Meinung war offensichtlich auch die Tourorganisation um Monsieur Felix Levitan, dem Napoleon aller Berufsradfahrer. An Levitans bemerkenswerter Geschäftstüchtigkeit hegt niemand, der mal mit ihm zu tun hatte, irgendeinen Zweifel. Er machte die Tour de France zum größten alljährlich stattfindenden Sportereignis und zu einem riesigen Werbemarkt. Und Levitan war dreist genug, um einen Handel und diabolischen Pakt mit Vernier-Palliez auszumachen.

Über Jahre waren die Dopingkontrollen mehr Last und Pflicht und viele Fahrer wurden zwar positiv getestet, aber Sanktionen wurden selten welche verhängt. Bis am 16. Juli 1978. Urplötzlich greifen diese bisher laschen Prüfungen und schnappen bei einem veritablen Toursieger zu. Bei einem, der die französische Suppe versalzen könnte und der diese Tour unter keinen Umständen gewinnen durfte. Ein damals aktiver Zeitzeuge, der in diesem Zusammenhang nicht mit Namen genannt werden möchte, stützt die Theorie eines Komplotts an Pollentier. Er bekräftigt, dass damals Manipulationen mit fremdem Urin dem Alltag eines Radprofis entsprachen: „Alle wussten was da läuft und wie mit Kondomen, Plastikfläschchen und ausgeklügelten Röhrchensystemen manipuliert wurde. Die Fahrer machten ausnahmslos mit und sowohl die Dopingkontrolleure als auch die Funktionäre wussten über die Vorgänge ganz genau Bescheid, schauten aber immer weg.“(8) Der gesamte Radsport war involviert. Auf die Frage, ob es möglich sei, dass Pollentier einem Komplott zum Opfer gefallen sei, antwortet der geheime Informant viel sagend, dass Pollentier nicht gewinnen durfte und aus diesem Grund aus dem Verkehr gezogen werden musste. Zudem könne er sich sehr gut vorstellen, dass sowohl die Tourorganisation als auch Sponsoren und andere Geldgeber in ein Komplott von diesem Ausmaß eingebunden waren.(8)

Wenn wir dieses Wissen haben, dann ist das der eigentliche Skandal der Tour de France 1978. Natürlich hat Pollentier gedopt. Natürlich hat Pollentier während der Dopingkontrolle betrogen.(9) Aber Pollentier hat nichts anderes gemacht, als damals alle anderen Rennfahrer der Tour auch gemacht haben. Ausgerechnet an seinem größten Tag griff das System von Begünstigung, Vetternwirtschaft und Nepotismus im Radsport. An diesem 16. Juli 1978 wurde Michel Pollentier auf dem Höhepunkt seines Sportlerlebens um den Sieg betrogen. Weil er zum falschen Zeitpunkt Leader der Tour de France war und ein anderer für Frankreich gewinnen musste.

Übrigens: Der Jahrgang der Tour 1978 gilt als der meist gedopteste der Geschichte. Über 50 % der Fahrer wurden im Laufe ihrer Karriere positiv getestet.(10)

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