Читать книгу Die Service-Public-Revolution - Beat Ringger - Страница 10
ОглавлениеDie Periode der beiden Weltkriege von 1914 bis 1945 hat die Menschheit gelehrt, dass extreme Ungleichheiten die Welt in Flammen setzen. Sie hat daraus wichtige Schlüsse gezogen. So anerkennt die UN-Menschenrechtscharta das Recht aller Menschen auf ein Leben in Würde. Folgerichtig werden in der Nachkriegszeit der Kapitalismus und insbesondere die Finanzmärkte in regulative Schranken verwiesen. In den Ländern des globalen Nordens werden Sozialversicherungen eingerichtet, eine für alle zugängliche Gesundheitsversorgung aufgebaut und die Löhne Schritt für Schritt angehoben. Ein Großteil der kolonisierten Länder erlangt bis Mitte der 1960er Jahre die Unabhängigkeit und ist anschließend ebenfalls bestrebt, eine eigenständige Industrie und funktionierende öffentliche Dienste aufzubauen.
Doch dann bricht der Lernprozess ab. Als Mitte der 1970er Jahre die globale Wirtschaft in eine Krise schlittert, steht die Welt vor einer Weichenstellung: Entweder wird der Weg in Richtung mehr Gerechtigkeit fortgesetzt. Das bedeutet allerdings, dass die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse weiter zugunsten der breiten Bevölkerungen und zulasten der Großkonzerne und ihrer Entourage verschoben werden müssen und dass den Ländern des globalen Südens eigenständige, von den Weltmärkten geschützte Entwicklungen zugestanden werden. Oder aber es wird ein radikaler Kurswechsel vorgenommen. Die Fesseln, mit denen der Kapitalismus während rund dreißig Jahren in die Schranken gewiesen worden ist, werden gelöst.
Wir wissen, welche Option sich durchgesetzt hat – und sind heute mit den fatalen Folgen konfrontiert. Es ist, als wären sämtliche Erkenntnisse aus den Jahren der globalen Katastrophen von 1914 bis 1945 aus dem Gedächtnis der Menschheit gelöscht worden. Man kann sich das Ausmaß dieses neoliberalen Politikwechsels am leichtesten vor Augen führen, wenn man bürgerliche Bekenntnisse aus der Zeit vor dieser Wende liest. Wir zitieren stellvertretend die Freiburger Thesen der deutschen FDP aus dem Jahr 1971. Die Unterschiede zu heute sind derart atemberauend, dass wir uns für ein längeres Zitat entschieden haben. Heute wären solche Sätze aus der Feder der deutschen FDP, des Schweizer Freisinns oder vergleichbarer Parteien vollkommen undenkbar.
»Freiheit und Recht sind nach unseren geschichtlichen Erfahrungen bedroht durch die Tendenz zur Akkumulation von Besitz und Geld, die die Reichen immer reicher werden lässt, und die Tendenz zur Konzentration des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln in wenigen Händen. Die Tendenzen zur Akkumulation des privaten Kapitals, wie sie etwa in der Verzinsung des Geldes, aber auch in der Wertsteigerung des Bodens sichtbar werden, sind einem über Gewinnstreben und Marktnachfrage gesteuerten Wirtschaftssystem ebenso eigentümlich, wie die Tendenzen zur Konzentration des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln. Sie sind die Kehrseite der durch eben diese Mechanismen gesicherten Leistungsfähigkeit eines solchen Wirtschaftssystems. […]
Dem freien Selbstlauf überlassen müssen eben diese negativen Tendenzen, bei aller ungebrochenen Leistungsfähigkeit, dessen Menschlichkeit am Ende zerstören: durch permanente Überprivilegierung der Besitzenden gegenüber den Besitzlosen, der Reichen gegenüber den Armen, der Produzenten gegenüber den Konsumenten, des Faktors Kapital gegenüber dem Faktor Arbeit. Das aber ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit des auf einem privaten Wirtschaftssystem gegründeten liberalen Gesellschaftssystems. In einer Gesellschaft, in der Besitz und Geld der Schlüssel für fast alle Betätigung der Freiheit ist, ist die Frage des gerechten Anteils an der Ertragssteigerung der Wirtschaft und am Vermögenszuwachs der Gesellschaft nicht nur eine Gerechtigkeitsfrage: sie ist die Freiheitsfrage schlechthin. […] Heute konzentriert sich der Zuwachs an Produktivkapital aus Gewinnen in den Händen weniger Kapitalbesitzer. Das ist gesellschaftspolitisch gefährlich, sozial ungerecht und mit den liberalen Forderungen nach Gleichheit der Lebenschancen und nach optimalen Bedingungen für die persönliche Selbstentfaltung nicht vereinbar.«4
Die neoliberale Wende gewinnt mit den Regierungen Thatcher (Großbritannien, 1979) und Reagan (USA, 1981) an Schwung. Beide Regierungen machen sich gleich als Erstes daran, den Widerstand der Lohnabhängigen und der Gewerkschaften aus dem Weg zu räumen. Auf internationaler Ebene werden die Spielregeln grundlegend geändert. Ein Meilenstein ist die Gründung der Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO) im Jahr 1994, mit der ein umfassender globaler Freihandel durchgesetzt wird. Damit wird den Ländern des globalen Südens der Spielraum für eine eigenständige Wirtschaftspolitik massiv verkleinert. Ihre Industrien werden der unmittelbaren Konkurrenz durch die globalen Konzerne ausgesetzt, ihre Finanzmärkte von spekulativ operierenden Banken und Fonds gekapert. Genauer gesagt: Die herrschenden Klassen des Nordens setzen eine solche Politik zusammen mit Teilen der herrschenden Klassen in den Ländern des Südens durch – zulasten der breiten Bevölkerungsschichten im Süden. Nur einige wenige Länder schaffen es gerade noch rechtzeitig, ihre Produktivität auf ein Niveau anzuheben, das sie vor massiven Rückschlägen durch den Freihandel bewahrt, so die asiatischen Tigerstaaten und insbesondere China, das dank einer beinahe unbeschränkten Zahl von billigen und disziplinierten Arbeitskräften zur Werkbank der Welt wird (und dafür allerdings eine erhebliche Zunahme der Ungleichheiten im eigenen Land in Kauf genommen hat). Doch in der übrigen Welt bleiben extreme Armut und Hunger weitverbreitet und nehmen teilweise wieder zu. Im Zuge dieser Umgestaltung der »globalen Governance« wird auch die UNO schrittweise entmachtet und umgebaut. Das Diktat übernehmen die Foren der Mächtigen wie das Weltwirtschaftsforum in Davos, die informellen Regierungstreffen der G-7, G-8 oder G-20 – und die privaten Konzerne. Das hat dazu geführt, dass von den 100 größten Wirtschaftseinheiten der Welt heute 69 Konzerne und nur noch 31 Staaten sind.
Die Länder des globalen Südens sind übrigens nicht, wie man gemeinhin oft meint, Empfänger*innen von Almosen aus dem globalen Norden. Tatsächlich fließen die internationalen Finanzströme genau umgekehrt. Jeder Dollar, der in diese Länder fließt (private Spenden, öffentliche Entwicklungshilfe, Investitionen, Geldsendungen von Emigrant*innen und Unternehmensbeteiligungen zusammengerechnet), wird aufgewogen durch zwei Dollar, die in die andere Richtung gehen: in Form von Unternehmensgewinnen, illegalen Finanzflüssen, Zinszahlungen für Schulden und Darlehen an Industrieländer (!).5 Dabei sind die finanziellen Vorteile, die Unternehmen aus den Industrieländern dank tiefer Löhne und fehlender Umwelt- und Sozialgesetzgebungen erzielen, noch nicht einmal eingerechnet. Kompensieren müssen diese Länder die Lücken in ihren Staatsfinanzen dann mit neuen Schulden. Die sogenannten Entwicklungsländer mussten bereits vor der Pandemie eine Last von 11 Billionen US-Dollar Schulden tragen. Allein vier Billionen US-Dollar würden 2020 zur Rückzahlung fällig, inklusive Zinsen. In 64 Ländern übersteigt der Schuldendienst heute die Ausgaben für die Gesundheitsversorgung.
Doch was nicht sein darf, ist nicht. Und so wiederholt sich dasselbe Spiel, das wir schon aus der Auseinandersetzung um die Klimaerhitzung kennen: Die Fakten werden verschleiert, die Statistiken geschönt. Bücher erscheinen, wie etwa Factfullness des schwedischen Professors Hans Rosling. Der Tenor lautet: »Die Welt wird immer besser.«6 Der Eindruck, die Probleme würden zunehmen, könne nur entstehen, weil die Medien sich auf eine negative Berichterstattung festgelegt hätten – und wegen der Linken, die ihre Existenzberechtigung aus den Problemen ziehe und nicht aus den Lösungen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht uns nicht darum, zu leugnen, dass sich die Potenziale der Menschheit ganz erheblich weiterentwickelt haben. Im Gegenteil: Es ist gerade die wachsende Diskrepanz zwischen diesen Potenzialen und der (Un-)Art, wie sie genutzt werden, die uns umtreibt. Worum es uns an dieser Stelle vielmehr geht, ist, aufzudecken, was alles unternommen wird, um die Probleme zu verschleiern.
Nimmt man beispielsweise für die Bemessung von Hunger die Definition, wonach eine Person erst dann als unterernährt gilt, wenn ihre Kalorienzufuhr nicht ausreicht, um den Mindestbedarf für einen sitzenden Lebensstil abzudecken (und zwar über den Zeitraum von über einem Jahr), dann liegt die weltweite Zahl der hungernden Menschen bei rund 800 Millionen. So rechnen die zuständigen Gremien der UNO. Nur: Wie absurd ist es denn, den Ärmsten der Welt einen »sitzenden Lebensstil« zu unterstellen, der mit 1600 bis 1800 Kalorien pro Tag gut zu bewältigen wäre? Nichts ist weniger »sitzend« als der Alltag einer sudanesischen Bäuerin oder eines indischen Rikscha-Fahrers. Ihr Bedarf liegt in der Größenordnung von 2500 bis 3000 Kalorien pro Tag. Stellt man überdies in Rechnung, dass es nicht nur um Kalorien geht, sondern auch um lebenswichtige Vitamine und Mineralstoffe, dann steigt die Zahl der unter- und mangelernährten Menschen auf 1,5 bis 2,5 Milliarden. Und ihre Zahl nimmt zu. Beispiel Indien: 2011 mussten 75 Prozent der Bevölkerung mit weniger als 2100 Kalorien pro Tag auskommen – 1958 waren es erst 58 Prozent.
Ein anderes Beispiel sind die Armutsgrenzen. Rosling und seine Mitstreiter wie die US-Amerikaner Steven Pinker und Bill Gates argumentieren gern mit einer globalen, »absoluten« Armutsgrenze (der International Poverty Line, IPL) bei einem täglichen Einkommen von 1,90 US-Dollar pro Person. Diese Größe stammt ursprünglich aus Berechnungen der Weltbank, die inzwischen zwar einige der Kritikpunkte anerkennt, aber weiter an der IPL festhält. Sie hat dafür ihre eigenen Statistiken um die Grenzen von 3,20 oder 5,50 US-Dollar erweitert. Auch das ist allerdings weiterhin sehr tief. In verschiedenen Studien wird für eine Armutsgrenze von 7,40, 10 oder sogar 15 US-Dollar plädiert. Die Grenze von 7,40 US-Dollar zum Beispiel wird oft auch »ethische Armutsgrenze« genannt, weil das ungefähr das Einkommen ist, über das Menschen verfügen müssten, um mindestens eine durchschnittliche Lebenserwartung von etwas über 70 Jahren zu erreichen. Nimmt man die 7,40 US-Dollar als Grundlage, liegt die Zahl der Menschen in Armut heute bei gut 4,2 Milliarden Menschen und damit viermal höher als bei einer Grenze von 1,90 US-Dollar. Übrigens gehen fast die gesamten Erfolge der weltweiten Reduktion von Armut auf das Konto von China. Nimmt man China aus der Rechnung, sind die Zahlen noch eindeutiger. Im Rest der Welt ist bei einer Grenze von 7,40 US-Dollar seit 1981 auch der relative Anteil der Armut angestiegen, auf heute fast 70 Prozent.7 Inzwischen hat die Debatte über die »richtigen« Armutszahlen die UN-Gremien erreicht. Am 2. Juli 2020 reichte der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte, der Australier Philip Alston, seinen Bericht unter dem Titel »The parlous state of poverty eradication« (Der desolate Zustand der Armutsbekämpfung) beim Menschenrechtsrat ein. Sein Fazit: »Wir sind weit davon entfernt, die extreme Armut zu beenden. Die IPL ist bewusst so gestaltet, dass sie von einem unglaublich tiefen Lebensstandard ausgeht, der sehr weit unter jeder vernünftigen Annahme für ein würdiges Lebens ausgeht […]. Wenn es darum geht, den Erfolg der Armutsbekämpfung zu messen, sollte die internationale Gemeinschaft damit aufhören, sich hinter einer Armutsgrenze zu verstecken, die von einem Standard einer elenden Existenz ausgeht.«8
Die globalen Wohlstandsdiskrepanzen sind unerträglich hoch. Ohne gezielte Gegenmaßnahmen werden sie sich in der Corona-Krise nochmals verschärfen. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (World Food Programme, WFP) rechnet mit einer Verdoppelung der Hungernden in diesem Jahr, wenn die Staatenwelt keine energischen Gegenmaßnahmen ergreift. Das alles lässt sich nur erklären, weil die Mächtigen dieser Welt sich auf einem strategischen Rückzug aus der Weltgemeinschaft befinden. Sie entledigen sich der Verantwortung nicht nur statistisch, sondern ganz konkret. Am augenfälligsten ist dies im Bereich der Steuern. Unter dem Druck des politisch gewollten Steuersenkungswettlaufs werden die Steuersätze sowohl für Gewinne wie auch für hohe Einkommen von fast allen Regierungen seit vielen Jahren kontinuierlich gesenkt. Im gleichen Zug erodieren die Steuersubstrate, also die Berechnungsgrundlagen für die Steuern. Es werden immer mehr Schlupflöcher geschaffen, dank derer der steuerbare Anteil an Gewinnen und Einkommen reduziert werden kann. Es werden also immer weniger Steuern auf immer kleineren Gewinn- und Einkommensanteilen erhoben. Dazu dienen auch die sogenannten Steueroasen, die richtigerweise als Steuerwüsten bezeichnet werden müssen. Schätzungen zufolge »parkieren« die multinationalen Konzerne 40 Prozent ihrer Gewinne in Staaten mit extrem tiefen Steuersätzen und/oder sehr löchriger Steuergesetzgebung. Jährlich werden so gegen 600 Milliarden Euro an Konzerngewinnen aus den eigentlichen Anspruchsländern verschoben – meist nach Irland, der Karibik, Luxemburg, Belgien, Malta, Zypern, Singapur, Holland und in die Schweiz. Die EU verliert so etwa ein Fünftel ihrer Einnahmen aus Unternehmenssteuern. Die Schweiz nimmt in diesem »Wettlauf nach unten« eine führende Rolle ein. Die deutsche Bertelsmann Stiftung hat in einer kürzlich veröffentlichten Studie ermittelt, welche Länder dank sogenannter negativer Spill-over-Effekte ihren Wohlstand am stärksten auf Kosten anderer Länder erzielen. An erster Stelle aller Länder: die Schweiz.
Der Rückzug des Weltbürgertums aus jeder Verantwortung spiegelt sich auch in einer großen moralischen und politischen Leere. Wenn die herrschenden Klassen überhaupt noch Zukunftsvorstellungen entwickeln, dann drehen diese sich um technokratische Fantastereien, wie sie etwa Google und Elon Musk vorantreiben. Kommerzielle Weltraumflüge sollen das große nächste Ding sein – das Klima freut sich. Anarchokapitalist*innen wie Peter Thiel träumen von unabhängigen Staaten für Superreiche auf künstlichen Inseln, in denen alles erlaubt ist und niemand Steuern bezahlt. Gleichzeitig baut sich manch ein Superreicher dieser Erde angesichts der drohenden Klimakatastrophen im fernen Neuseeland eine bunkerartige Behausung und hofft, so dereinst den Konsequenzen der herrschenden Politik entfliehen zu können.
Andere haben weniger Möglichkeiten, den globalen Verheerungen zu entkommen. Die Zahl der Geflüchteten hat mitten in der Pandemie einen neuen Allzeit-Rekordwert erreicht. 80 Millionen Menschen sind inzwischen weltweit auf der Flucht. Das sind doppelt so viele wie noch vor zehn Jahren. Zwischen 2014 und 2019 sind 36’500 Menschen auf der Flucht gestorben, die meisten davon bei der Überquerung des Mittelmeers Richtung Europa.
Im Jahr 2013 lief in den Kinos der Science-Fiction-Film Elysium mit dem US-Schauspieler Matt Damon in der Hauptrolle des Max Da Costa. Da Costa lebt im Jahr 2154 auf einer unwirtlich gewordenen Erde. Der Planet ist überhitzt, ohne saubere Luft und ohne sauberes Wasser. Die Menschen leben freudlos und ohne Perspektiven. Die Erde dient einer verschwindend kleinen Minderheit von Superreichen als Rohstofflager und Fabrikhalle. Diese herrschende Elite hat sich auf die gigantische Luxusraumstation Elysium zurückgezogen, die die Erde in sicherer Distanz umkreist. Im Film versucht Da Costa, ein schwer krankes Kind nach Elysium zu schmuggeln, weil nur dort die nötigen Einrichtungen zu seiner Heilung verfügbar sind. Der Versuch gelingt, aber Da Costa verliert dabei sein Leben. Der Regisseur des Films, Neill Blomkamp, sagte in einem Interview zur Frage nach dem Genre des Films: »Elysium isn’t science fiction. It’s now.«