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IST DER MENSCH EIN EGOISTISCHES MONSTER?

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Es scheint eine Art ehernes Gesetz der Geschichte zu sein, dass die jeweils Herrschenden sich größte Mühe geben, ihre Weltordnung als unveränderbar darzustellen. Die Demokratie galt noch vor hundert Jahren als eine Staatsform, die zur Herrschaft des Pöbels, zu Anarchie und zum Zerfall der Zivilisation führe. Könige und Adlige betrachteten ihr Regiment als von Gott gegeben, Widerstand war das Werk des Teufels. In gleicher Weise wird heute die sogenannte »freie Marktwirtschaft« als alternativlos gepriesen. Man will uns glauben machen, egoistische Nutzenmaximierung sei dank des Wirkens der unbestechlichen Märkte am Ende des Tages zu unser aller Bestem. Gefährlich werde es hingegen, wenn wir in die Wirkweise dieser Märkte einzugreifen versuchen und uns zu viel Gestaltungswillen anmaßen.9

Zur Untermauerung dieses Menschenbilds sind seit den 1960er Jahren etliche psychologische Tests angeführt worden. Einer der bekanntesten ist der Marshmallow-Test, auf den wir hier eingehen. Der Test wurde spätestens Mitte der 1990er Jahre dank mehrerer Bücher von Entwicklungspsycholog*innen popularisiert und wird auch heute in politischen Diskussionen noch immer als Beispiel angeführt.

Der Marshmallow-Test wurde erstmals Ende der 1960er Jahre vom österreichisch-amerikanischen Psychologen Walter Mischel durchgeführt. Der Test funktioniert so: Kinder werden in ein Zimmer gebeten. Auf dem Tisch liegt ein Marshmallow. Die Kinder werden von einer Betreuungsperson begrüßt, die ihnen sagt, dass sie das Zimmer nochmals verlassen müsse, aber gleich zurückkomme. Die Betreuungsperson erklärt weiter: Wenn die Kinder auf das Vernaschen des Marshmallows verzichten, bis die Person zurückgehrt sei, würden sie danach als Belohnung einen zweiten Marshmallow erhalten. Im Anschluss an den Test wurde über Jahre die bildungsmäßige und berufliche Laufbahn der Kinder verfolgt. Die Ergebnisse des vielfach wiederholten Tests schienen lange eindeutig: Kinder, die auf den zweiten Marshmallow warten, sind im Leben erfolgreicher. Dank der Fähigkeit zur Selbstbeherrschung können sie ökonomische Kosten-Nutzen-Kalküle anstellen und ihren Erfolg optimieren.

In den letzten Jahren ist allerdings deutlich geworden, dass der Test ganz andere Zusammenhänge aufdeckt, als er vorgibt. Eine Gruppe von Forscher*innen der Universitäten von Kalifornien und New York hat den Test mit einer großen Anzahl von Proband*innen reproduziert und dabei herausgefunden, dass der statistische Zusammenhang zwischen Testergebnissen und beruflichem Erfolg verschwindet, wenn man die familiären Hintergründe der Proband*innen einbezieht, also ihre Klassen- und Milieuzugehörigkeit. Kinder aus gut situierten und bildungsnahen Familien haben bessere Schul- und Berufschancen, egal ob sie das Marshmallow sofort essen oder nicht. Kinder aus weniger vermögenden Arbeiter*innenfamilien haben schlechtere Chancen, egal ob sie sich beherrschen können oder nicht. Eine weitere Studie der Universität Rochester im Bundesstaat New York ist ebenso aufschlussreich. Sie hat die Kinder vor dem Marshmallow-Test an einem Kunstprojekt teilnehmen lassen. Eine Gruppe wurde von Betreuer*innen angeleitet, die systematisch Dinge versprachen, sie anschließend jedoch nicht einhielten. Die Betreuer*innen in der anderen Gruppe hingegen hielten ihre Versprechen. Das eigentlich wenig überraschende Resultat: Kinder, die gelernt hatten, dass sich Vertrauen lohnt, warteten mit dem Marshmallow-Verzehr. Kinder, die von ihren Betreuer*innen systematisch enttäuscht worden waren, warteten deutlich weniger oft.

Fazit: Das Erklärungsmuster des Homo oeconomicus funktioniert offenbar nur genau dann, wenn wir den Menschen von all dem »befreien«, was ihn als Menschen ausmacht: von seiner Geschichte, von gesellschaftlichen Strukturen, von der Erfahrung von Solidarität. Wenn wir ihn vereinzeln und sein Vertrauen in die Gemeinschaft untergraben, dann verhält er sich egoistisch.

Der niederländische Historiker und Autor Rutger Bregman zeigt in seinem jüngst erschienenen Buch Im Grunde gut, zu welch falschen Schlüssen uns die »Fassadentheorie der Zivilisation« führen kann. Damit ist jene Vorstellung gemeint, gemäß der der Mensch im Grunde schlecht und egoistisch sei und schon der kleinste Riss in der Fassade der Zivilisation reiche, um seine böse Natur durchbrechen zu lassen. Bregman führt das Beispiel des Hurrikans »Katrina« an, der am 29. August 2005 die Stadt New Orleans in weiten Teilen zerstört hat. Die Medienberichte überschlugen sich in den Tagen danach mit vermeintlichen Berichten über Anarchie und totales Chaos, die angeblich in der Stadt herrschten. Die Angst davor führte dazu, dass sich viele Hilfsorganisationen erst Tage später überhaupt in die zerstörten Quartiere trauten. Wissenschaftler*innen des Disaster Research Center der Universität Delware haben im Nachhinein nun untersucht, was in New Orleans wirklich geschehen ist. Sie fanden heraus, dass genau das Gegenteil von dem passierte, was die Medien suggeriert hatten. Tatsächlich ereigneten sich nur wenige Gewalttaten. Die meisten »Plünderungen« wurden von Gruppen von Menschen unternommen, die sich gegenseitig dabei halfen, Nahrungsmittel zu finden – teilweise mit Unterstützung der örtlichen Polizei. Diese Beobachtungen decken sich mit rund 700 Studien zu den verschiedensten Katastrophen, die das Disaster Research Center seit 1963 zusammengetragen hat und die immer zum gleichen Schluss kommen: dass nämlich, »im Gegensatz zu den Darstellungen in den meisten Spielfilmen, nach einer Katastrophe nie die totale Panik ausbricht und auch keine Welle des Egoismus aufbrandet. Die Zahl der Verbrechen – Mord, Diebstahl, Vergewaltigungen – nimmt in der Regel ab.« Bregman zitiert einen der Forscher: »Und egal, wie viel geplündert wird, es verblasst immer im Vergleich zu dem weitverbreiteten Altruismus, der zu einem großzügigen und umfangreichen Geben und Teilen von Gütern und Diensten führt.«

Doch diese wissenschaftlichen Erkenntnisse werden kaum zur Kenntnis genommen, und die Fassadentheorie wird immer und immer wieder bemüht. So etwa auch in den politischen Diskussionen rund um die Sozialversicherungen und Sozialwerke, in denen unterstellt wird, diese würden von »Scheininvaliden« in großem Stil geplündert. Damit wird erreicht, dass sich die Debatte fast nur noch um die Verhinderung eines allgegenwärtig vermuteten Missbrauchs dreht, anstatt dass wirklich über die Bedürfnisse, von Arbeitslosigkeit, Armut oder Behinderung Betroffenen gesprochen wird.

In einer Hinsicht allerdings spricht die US-amerikanische Autorin Rebecca Solnit in ihrem Buch A Paradise built in Hell der Fassadentheorie einen realen Hintergrund zu:10 Die Vorstellung vom triebhaft bösen, egoistischen Menschen hinter der Zivilisationsfassade sei eine Projektion der Herrschenden, die dabei ihr eigenes, alltägliches, oft eben rücksichtsloses und egoistisches Verhalten fälschlicherweise auf die gesamte Bevölkerung übertragen. Es ist also große Vorsicht geboten, wenn in politischen Diskussionen die vermeintliche »Natur des Menschen« angeführt wird, die beweise, warum die Verhältnisse so sind, wie sie sind, und warum sie nicht wirklich geändert werden könnten. Klar ist einzig, dass ein solcher Glaube all jenen zupasskommt, die an den Schalthebeln der Macht sitzen und diese Macht nicht preisgeben wollen. Es sind die »Könige und Adligen« unserer Zeit.

Die Service-Public-Revolution

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