Читать книгу Die Service-Public-Revolution - Beat Ringger - Страница 8
ОглавлениеWir befinden uns in einem Epochenbruch. Wir sind konfrontiert mit der Klimaerhitzung, mit krassen globalen Ungleichheiten und der Zunahme internationaler Spannungen, mit der Übersäuerung der Meere und dem Zerfall der Biodiversität, mit einer Krise der Grundwerte und mit einer Wirtschaft, auf der immense Schuldenberge lasten. Weil wir uns mitten in diesem Umbruch befinden, ergeht es uns wie einer Schiffsmannschaft im Sturm. Es ist schwierig vorauszusagen, wann der Höhepunkt des Unwetters erreicht sein wird, wie heftig diese oder jene Woge in Relation zur nächsten ist und wie groß die Schäden sein werden, die das Schiff davonträgt. Mit Sicherheit aber verleiht die Welle der Corona-Pandemie und die nun einsetzende Weltwirtschaftskrise dem Sturm neue Wucht.
In diesem Buch versuchen wir, längere Zeiträume zu überblicken, um die gegenwärtigen Ereignisse besser einordnen zu können. Besonders interessiert uns der Zeitraum seit dem Ende der letzten umfassenden globalen Krise, die in die beiden Weltkriege von 1914–18 und 1939–45 mündete. Nach 1945 stand die Welt vor einem gigantischen Scherbenhaufen: 60 Millionen Kriegstote, zerrüttete Gesellschaften, das Trauma des Holocaust, ein ethisch-moralischer Tiefpunkt der Menschheitsgeschichte. Damals rappelte sich die Welt neu auf und leistete einen Schwur: Niemals wieder Krieg. Und: Niemals darf es wieder so kommen, dass der Laissez-faire-Kapitalismus die Welt in einen solchen Strudel der Vernichtung reißt.
In Rekordzeit gelang es, Meilensteine der internationalen Zusammenarbeit zu errichten. Im Juni 1945 gründeten sich die Vereinten Nationen mit dem zentralen Ziel, Konflikte ohne Gewalt bewältigen zu können. Am 10. Dezember 1948 verabschiedete die UNO-Generalversammlung die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Innerhalb weniger Jahre wurden Dutzende von Organen (wie die UNICEF) und Sonderorganisationen (wie die WHO) aufgebaut, um unter dem Vorzeichen globaler Kooperation für eine Welt zu sorgen, in der alle Menschen Anrecht auf ein würdevolles Leben haben sollten.
UMWELTSCHOCK, KLIMASCHOCK: KATASTROPHEN MIT ANSAGE
Noch im Windschatten jenes Aufbruchs legen 1965 die US-amerikanischen Umweltbehörden Präsident Lyndon Johnson einen Bericht vor, in dem sie vor den Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels warnen. 1972 veröffentlicht der Club of Rome seine berühmte Studie »Die Grenzen des Wachstums«. Der Hauptautor Dennis Meadows und seine Kolleg*innen stellen fest: Das ungebremste Wachstum der Wirtschaft wird spätestens um das Jahr 2050 zu umfassenden Katastrophen führen.
Im Juli 1976 ereignet sich in der Roche-Fabrik Icmesa im italienischen Seveso eine Chemiekatastrophe, bei der eine unbekannte Menge des hochgiftigen Dioxins freigesetzt wird. Seveso entwickelt sich rasch zu einem Fanal, weil Roche alles daransetzt, die Katastrophe zu vertuschen – und es markiert den Beginn einer langen Serie von weiteren Umweltkatastrophen: das Reaktorunglück von Harrisburg (1979), die bis heute größte Ölkatastrophe im Golf von Mexiko (1979), der Brand in einer Chemiefabrik des US-Konzerns Union Carbide Corporation (heute Dow Chemical) in der indischen Stadt Bhopal mit bis zu 25’000 Toten und 500’000 Verletzten (1984), der Brand in einem Sandoz-Lager (heute Novartis) im Industriegebiet Schweizerhalle bei Basel (1986) und, ebenfalls 1986, die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl mit einem atomaren Fallout in weiten Teilen Europas. Seit Beginn der 1980er Jahre nimmt zudem das Waldsterben rasant zu. Als Hauptverursacher wird der saure Regen identifiziert, für den Schwefel- und Stickoxide verantwortlich sind.
Durch die Welt geht ein Ruck. Schon 1974 führen einige US-Staaten eine Katalysator-Pflicht für Neuwagen ein. 1979 findet in Genf die erste UN-Klimakonferenz statt, an der die Zusammenhänge von CO2-Emissionen und Klimaerwärmung unmissverständlich festgehalten werden. 1986 erlässt die Schweiz als erstes Land in Europa die Katalysator-Pflicht für Neuwagen, andere Staaten ziehen kurz darauf nach. 1987 beschließen 198 Staaten im Rahmen des Montreal-Protokolls das Verbot von Fluorkohlenwasserstoffen, kurz FCKW, die für die wachsenden Löcher in der Ozonschicht in der höheren Atmosphäre verantwortlich sind. 1988 wird in Genf das International Panel on Climate Change, der Weltklimarat, gegründet. 1992 treffen sich 109 Regierungsvorsitzende zum UN-Umweltgipfel in Rio de Janeiro. 154 Staaten unterzeichnen im Anschluss die Weltklimakonvention. Seither haben 26 Nachfolgekonferenzen stattgefunden. An der dritten dieser Konferenzen wird das Kyoto-Protokoll verabschiedet, das 2005 in Kraft tritt und erstmals verbindliche Ziele für die Reduktion der Treibhausgasemissionen festschreibt. In Abständen von sechs Jahren aktualisiert der Weltklimarat seine sogenannten Sachstandsberichte. Mit weiteren Sonderberichten hat er zudem seine Analysen über die Jahre verfeinert und die Ergebnisse aktualisiert. Das Fazit ist so eindeutig wie bekannt: Der menschgemachte Klimawandel stellt eine existenzielle Bedrohung für die Menschheit dar.
Die umwelt- und klimapolitische Erschütterung der 1980er Jahre geht tief. Ein grundlegender ökologischer Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft liegt in Griffweite. Die großen Ölkonzerne sind besorgt und geben interne Berichte in Auftrag, die mit verblüffender Genauigkeit voraussagen, was sich seither ereignet hat und was uns noch bevorsteht. Das Management reagiert. Zusammen mit anderen Unternehmen aus dem Öl- und Kohlegeschäft und mit tatkräftiger Unterstützung der US-Administration wird die Global Climate Coalition aufgebaut. Ziel dieser Vereinigung: die Streuung von Zweifeln an den wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Klimawandel. Zusammen mit anderen Leugner*innen des Klimawandels gelingt es dieser Koalition, namhafte Teile der politischen Eliten der USA und anderswo für ihre Interessen zu kapern. Die alarmierenden Berichte hingegen lassen sie in den Schubladen der Konzernhauptsitze verschwinden.
Das Ergebnis ist bekannt. Die Anstrengungen zur Senkung der Treibhausgase erlahmen, noch bevor sie richtig haben greifen können. Von 1990 bis 2018 nimmt der weltweite CO2-Ausstoß um über 60 Prozent zu. Auch Kyoto bringt keine Wende. Seit Verabschiedung des Kyoto-Protokolls ist es nicht gelungen, die weltweiten Treibhausgasemissionen zu stabilisieren oder zu reduzieren. Wir manövrieren praktisch ungebremst in die Klimakatastrophe.
Nun ist es ja noch halbwegs nachvollziehbar, dass die Erdölkonzerne das Klimaproblem herunterspielen. Aber wie kann es sein, dass die große Mehrheit der herrschenden Klassen, der Eliten in der Wirtschaft, in den Wirtschaftsfakultäten der Universitäten, in der Politik und in den Medien eine derart desaströse Politik mittragen? Obwohl Tausende von Studien einen dringenden Kurswechsel nahelegen? Obwohl sie permanent von einem Weltklimarat gemahnt werden, der strengste wissenschaftliche Sorgfaltsregeln befolgt? Obwohl sie konfrontiert sind mit einer stetigen Zunahme von höchst realen Klimaereignissen wie dem Anstieg des Meeresspiegels, dem Abschmelzen der Polkappen und der Gletscher, dem Absterben der Korallenriffe, der Zunahme von Waldbränden? Wie um alles in der Welt ist das möglich?
Grund zur Fassungslosigkeit bietet nicht nur die offensichtliche Leugnung der Klimakrise, sondern auch die Pseudolösungen, an deren Zahl es nicht mangelt: etwa die Emissionshandelssysteme, die – glaubt man ihren Befürworter*innen – das Problem wie von Zauberhand aus der Welt schaffen müssten, in Tat und Wahrheit aber genau das Gegenteil bewirken, weil sie dazu verwendet werden, die direkten, offensichtlich wirksamen Maßnahmen zu schwächen und zu diskreditieren. Oder auch die Absicht, die fossile Automobilflotte durch eine Elektro-Automobilflotte zu ersetzen, die eigentliche Material- und Energieschlacht also weiterzuführen, obwohl es keiner allzu großen Anstrengungen bedarf, zu erkennen, dass die Probleme damit nur verlagert werden – und dass diese Politik exakt der Strategie der Autokonzerne entspricht, die die Klimapolitik nutzen wollen, um sich zusätzliche Absatzmärkte zu erschließen.
Die Krone setzen dem Ganzen jene auf, die ohne Scham den Klimawandel als unausweichlich hinnehmen und deshalb vorschlagen, jede Anstrengung zu seiner Abwendung (oder maßgebenden Milderung) fallen zu lassen. Genau das tut zum Beispiel ein Bericht der Trump-Administration aus dem Jahr 2018. Der Bericht schließt sich der Einschätzung des Weltklimarats an und rechnet mit einem globalen Temperaturanstieg von vier Grad Celsius bis 2100. Dies würde aller Wahrscheinlichkeit nach bedeuten, dass Hunderten Millionen Menschen die Lebensgrundlagen entzogen werden. Zu Recht stellt der Bericht ferner fest, dass die bis dato ergriffenen Maßnahmen nicht ausreichen, um den Klimawandel aufzuhalten. Doch daraus folgert er nun nicht etwa, dass diese Maßnahmen ausgeweitet werden müssten. Ganz im Gegenteil: Da die Maßnahmen ohnehin unzureichend seien, könne man sie auch gleich ganz fallen lassen. Der Bericht dient damit der Rechtfertigung der trumpschen Antiumweltpolitik: Die CO2-Grenzwerte für Fahrzeuge werden gelockert, die Kohleminen länger als geplant laufen gelassen, die Methan-Begrenzungen für die Öl- und Gasindustrie aufgehoben und die Verwendung von klimaschädlichen Gasen in Kühlsystemen erleichtert.3 Bei genauerem Hinsehen entspricht diese Logik übrigens exakt dem, was in der Schweiz seitens der SVP und von Teilen der FDP immer wieder moniert wird: Anstrengungen zum Klimaschutz würden sich in der kleinen Schweiz nicht lohnen, dafür sei ihr Anteil an der Klimaproblematik viel zu gering. Das ist eine Art Miniaturausgabe der Argumentation im erwähnten Bericht. Und das in einem Land, das zu den drei weltweit führenden Handelsplätzen für Rohstoffe, Erdöl, Erdgas und Kohle gehört.
OBSZÖNE UNGLEICHHEITEN, WEGRETUSCHIERT
Laut Oxfam, einem internationalen Verbund von Hilfs- und Entwicklungsorganisationen, besitzen die acht reichsten Männer der Welt zusammen 426 Milliarden US-Dollar. Die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung – 3,6 Milliarden Menschen – verfügt gemeinsam über 409 Milliarden US-Dollar. Acht Männer kontrollieren also ein größeres Vermögen, als die Hälfte der Weltbevölkerung besitzt. Als Oxfam diese Zahl im Jahr 2016 veröffentlichte, war das weltweite Medienecho enorm. Seither wird darüber gestritten, ob es nicht vielleicht eher 42 oder 56 Personen seien, nicht nur 8. Nur: Auch 8000 wären noch skandalös.
Das Ausmaß der ungleichen Verteilung der Reichtümer dieser Welt lässt sich natürlich auch in anderen Zahlen ausdrücken. So besitzt das reichste Prozent der Erdbevölkerung mehr als die Hälfte des gesamten globalen Vermögens. Das sind über 180’000 Milliarden von insgesamt 360’000 Milliarden US-Dollar.
Das sind nackte Zahlen, die nur erahnen lassen, was diese Ungleichheiten konkret bedeuten. Wenn zum Beispiel ein Kind in einer armen tansanischen Familie an Malaria erkrankt, dann kann sich diese Familie die Kosten für ein wirksames Mittel nicht leisten. Sie wird deshalb ein billigeres Medikament wählen müssen, dessen Wirksubstanz allerdings gestreckt worden ist. Das Mittel wird zwar einen unmittelbaren Effekt zeigen, die Krankheitserreger aber nicht ausmerzen. Diese werden vielmehr Resistenzen ausbilden. Das Kind hat nun praktisch keine Chance auf Heilung mehr und wird voraussichtlich ein oder zwei Jahre später sterben.
Die Ungleichheiten beziehen sich nicht nur auf die Vermögen, sondern auch auf die Einkommen, und sie nehmen überdies noch laufend zu. Die Abbildung 1 zeigt die Entwicklung der Einkommensverteilung in den letzten 36 Jahren für die fünf größten Wirtschaftsräume der Welt. Dargestellt ist der Anteil der reichsten 10 Prozent der Bevölkerung am gesamten Einkommen des jeweiligen Landes. Sie zeigt also, welcher Teil von je 100 US-Dollar Einkommen an diese reichsten 10 Prozent geht. In Europa ist dieser Anteil von etwa 32 Prozent auf über 36 Prozent geklettert. Das ist mit Abstand der moderateste Anstieg. In den USA lauten dieselben Werte 34 und 46 Prozent, in China 27 und 41 Prozent, in Indien 32 und 56 Prozent.