Читать книгу Die Service-Public-Revolution - Beat Ringger - Страница 6

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Der Ausbruch der Corona-Krise ist ein Ereignis, das uns nachhaltig in Erinnerung bleiben wird. In der Schweiz wird sich insbesondere das Wochenende vom Freitag, 13. März, bis Montag, 16. März 2020, ins Gedächtnis einprägen. Zu diesem Zeitpunkt ist das öffentliche Leben hier und da bereits eingeschränkt, erste Großveranstaltungen sind abgesagt; an diesem Wochenende jedoch verändert sich die Einschätzung der Lage praktisch im Stundentakt. Am Freitagnachmittag schließt die Regierung die Schulen, verbietet Veranstaltungen mit über 100 Personen, begrenzt die Anzahl Gäste in Restaurants und Bars auf 50 und beschränkt die Einreise aus Italien, wo Mitte März bereits sehr hohe Infektions- und Todeszahlen zu beklagen sind. Gleichzeitig stellt sie zehn Milliarden Franken für die wirtschaftliche Unterstützung bereit – ein Betrag, der sich binnen wenigen Tagen vervielfachen wird. Drei Tage später ruft der Bundesrat die »außerordentliche Lage« aus. Restaurants, Bars, Freizeitbetriebe werden sofort geschlossen, auch die Grenzen zu Deutschland, Frankreich und Österreich gehen zu. Vorsorglich bewilligt der Bundesrat ein Aufgebot von bis zu 8000 Soldat*innen zur Unterstützung der zivilen Bevölkerung – so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Zum ersten Mal in der Geschichte bricht das Parlament eine laufende Session ab. Die Medienkonferenzen des Bundesrats werden allein auf YouTube am Freitag und Montag von rund 450’000 Menschen verfolgt. Fast 650’000 Leute sehen sie an den Fernsehgeräten zu Hause. Die SRF-Tagesschau vom Sonntagabend erreicht allein in der Deutschschweiz 1,5 Millionen Menschen oder sieben von zehn Fernsehzuschauer*innen. Zum Vergleich: Die erste Pressekonferenz des Bundesrats in Sachen Covid-19-Pandemie vom 26. Februar wurde im Netz gerade mal 40’000-mal angeklickt.

Schnell wirft die Krise ihr Licht auf die groteske Ungleichheit in der Welt. Länder mit schwachem Gesundheitssystem sehen sich gezwungen, drastische Maßnahmen zu ergreifen, etwa weitgehende Ausgehverbote. Ende März stehen beispielsweise in der Zentralafrikanischen Republik mit ihren gut fünf Millionen Einwohner*innen ganze drei (!) Beatmungsgeräte zur Verfügung. In vielen Ländern haben die Regierungsmaßnahmen zur Folge, dass Millionen Menschen unmittelbar in existenzielle Nöte geraten: indische Wanderarbeiter*innen genauso wie südafrikanische Hausangestellte oder amerikanische Arbeitslose ohne Krankenversicherung. Sie alle werden nicht mehr nur vom Virus bedroht, sondern ebenso vom Kollaps des wirtschaftlichen Lebens.

Im Süden Europas zeigen sich die Folgen der langjährigen Austeritätspolitik. Um die Finanzmärkte zu stützen und den Zusammenbruch weiterer Bereiche der Wirtschaft zu verhindern, verschuldeten sich die Staaten 2007/08 stark. Die anschließenden »Hilfspakete« der Europäischen Union und des Internationalen Währungsfonds zur Rettung der Banken waren an harte Kürzungsvorgaben gebunden. Allein Italien hat in den vergangenen zehn Jahren 37 Milliarden Euro im Gesundheitswesen eingespart, davon 25 Milliarden während der Laufzeit der IWF-Kredite. 359 Spitäler wurden landesweit geschlossen und 70’000 Betten abgebaut.1 Kaum besser erging es Spanien: Noch im Zeitraum vom 1. Januar bis zum 1. März 2020, also kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie, gingen im Gesundheitssektor 18’320 Arbeitsplätze verloren.2

Doch allen Widrigkeiten zum Trotz blitzt in der Corona-Krise auch Hoffnung auf, entstehen Entschlossenheit und Handlungsbereitschaft. Weltweit bringen Regierungen in Rekordzeit die größten wirtschaftlichen Stützpakete der Geschichte auf die Beine. Die Menschen reagieren mit großer Hilfsbereitschaft. In den Nachbarschaften und Quartieren entstehen solidarische Netzwerke. Allein auf der Corona-Unterstützungsplattform hilf-jetzt.ch haben sich in den ersten Wochen der Pandemie über 100’000 Personen in etwas mehr als 1000 lokalen Gruppen organisiert. Die Krise straft alle Lügen, die kollektives Handeln, positive Opferbereitschaft, Empathie und Solidarität für längst tot erklärt haben. Gleichzeitig muss die konsternierte Weltöffentlichkeit die oft grotesken Pirouetten der vermeintlich starken Männer – von Trump bis Putin, von Johnson bis Bolsonaro – mit ansehen. Was diese nationalistischen Zampanos anzubieten haben, sind sozialdarwinistische Experimente, manipulierte Statistiken und die national-egoistische Sabotage der internationalen Bemühungen um Solidarität.

Der Nationalismus führt uns in die Sackgasse. Wir brauchen eine andere Weltpolitik. Die Kooperation der gesamten Menschheit ist ultimativ gefordert. Dabei müssen wir anerkennen, dass es eine Zukunft nur gibt, wenn sie das gute Leben für alle einschließt – weltweit.

Wir legen mit diesem Buch den Vorschlag für eine Politikwende vor, der zwar in der Schweiz ansetzt, aber über sie hinausweist und Spielräume für eine positive Rolle unseres Landes in der Welt öffnet. Ein Vorschlag, der sowohl revolutionär als auch pragmatisch ist. Die Service-public-Revolution knüpft an die starke Tradition und an eine lebendige Kultur der kommunalen Selbstverwaltung an. Ebenso schafft sie die Verbindung zu den neuen Bewegungen der Klimajugend und des Feminismus, zu zivilgesellschaftlichen Initiativen und zum Engagement von NGOs. Die Service-public-Revolution soll dabei konsequent internationalistisch sein. Das ist kein kleiner Anspruch, und das ist uns bewusst. Aber für Bescheidenheit bleibt uns keine Zeit mehr. Ob Klima, Corona oder die immensen sozialen Ungleichheiten: Der Zustand der Welt verlangt entschiedenes Anpacken und nicht Zaudern und Zögern.

Den Service public ins Zentrum zu stellen, bedeutet, den Bereich unserer Gesellschaft auszubauen, der nicht der Logik der Konkurrenz und der Gewinnorientierung unterworfen ist. Das bedingt zuerst eine Stärkung der bestehenden öffentlichen Dienste im Inland, von den Infrastrukturen bis hin zur Gesundheitsversorgung. Es bedeutet gleichzeitig, Verantwortung zu übernehmen für den Ausbau eines »Global Public Service«, eines GPS – jedoch nicht für Handy-Apps, sondern für eine globale Care-Gesellschaft. Statt der systematischen Demontage der UN-Institutionen der letzten Jahrzehnte fordern wir einen Ausbau und einen neuen Aufbruch. Angesichts der Corona-Krise stehen die Weltgesundheitspolitik und eine massive Stärkung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Brennpunkt. Dafür muss die Schweiz hier und heute einstehen, zum Beispiel, indem sie ihre Finanzbeiträge an die WHO massiv erhöht. Zum Beispiel, indem sie in weltweiter Kooperation mit allen interessierten Partner*innen eine globale »Pharma fürs Volk« aufbaut, einen öffentlichen Pharma-Cluster, der dringend benötigte, von den privaten Pharmakonzernen seit Jahren vernachlässigte Medikamente entwickelt, produziert und zum Selbstkostenpreis für die ganze Welt bereitstellt. Wir kommen in Teil III dieses Buchs darauf zurück.

Zunächst jedoch schildern wir in Teil I unsere Beweggründe, dieses Buch gerade jetzt zu schreiben. Da ist einerseits die Hoffnung, die gerade in Zeiten von Krisen wie der Covid-19-Pandemie davon genährt wird, dass Menschen sich viel solidarischer zeigen, als dies gemeinhin unterstellt wird. Und da ist andererseits die Fassungslosigkeit darüber, wie die herrschenden Klassen genau diese Solidarität immer wieder ersticken. Im 20. Jahrhundert war Hoffnung auf Aufbruch, als die Weltgemeinschaft nach der Katastrophenerfahrung von Faschismus, Holocaust und Zweitem Weltkrieg innert kürzester Zeit in Form der UNO und mit Völker- und Menschenrechten ein eindrückliches Rahmenwerk geschaffen hat. Und da ist Fassungslosigkeit darüber, wie dieses Rahmenwerk insbesondere seit den Anschlägen auf das World Trade Center 2001 dem Zerfall preisgegeben wird. Da war Hoffnung und Aufbruch, als sich die Menschheit in den 1980er Jahren das Ausmaß und die Dringlichkeit der Umweltverschmutzung und der Klimaerwärmung vergegenwärtigte und entschiedenes Handeln anschob. Da ist Fassungslosigkeit darüber, wie mächtige Konzerne und Regierungen diesen Elan ins Leere haben laufen lassen und alles daransetzten, die Glaubwürdigkeit der Klimawissenschaften zu diskreditieren, statt der Klimaerhitzung Einhalt zu gebieten. So darf es nicht weitergehen. Diesmal darf der Aufbruch der neuen Klimabewegung, der feministischen Bewegung, der weltweiten Demokratiebewegungen, der Black-Lives-Matter-Bewegung nicht wieder verpuffen.

In Teil II mit dem Titel »Kapitalismus und Care« gehen wir in vier Unterkapiteln zu den Stichworten Ungleichheit, Kapitalismus, Care und wirtschaftliche Messgrößen auf Zusammenhänge ein, die uns zentral scheinen für das Verständnis unseres Vorschlags. Teil III legt schließlich im Detail dar, was wir unter der Service-public-Revolution verstehen. In diesem Teil wollen wir verständlich machen, wie – ausgehend von dem, was an öffentlichen Diensten heute besteht – neue Horizonte erschlossen und die Verhältnisse in unserer Gesellschaft dauerhaft umgebaut werden können: nachhaltig, kooperativ, gendergerecht und solidarisch.

Dieses Buch ist in der kurzen Zeit von Anfang Mai bis Anfang Juli 2020 entstanden. Es fußt auf Überlegungen, die wir – teilweise unabhängig voneinander, teilweise bereits in früheren Kontakten – entwickelt haben, je auch im regen Austausch mit unseren jeweiligen Netzwerken. Was wir hier vorlegen, ist kein umfassendes politisches Programm. Aber wir sind überzeugt, dass wir einen Schwerpunkt setzen, der gerade jetzt exakt passt. Die Service-public-Revolution ist lange noch nicht alles. Aber ohne Service-public-Revolution ist alles nichts.

Es würde uns freuen, wenn unser Vorschlag Widerrede und breite Debatten auslöst. Wir laden alle Leser*innen ein, an dieser Debatte teilzunehmen, unter anderem auf www.service-public-revolution.ch. Auf dieser Site werden wir unsere Ideen weiterentwickeln, weiter gehende Informationen zur Verfügung stellen und Raum bieten für die Diskussion.

Bücher sind immer eine Weiterentwicklung all dessen, was andere schon geschrieben und gesagt haben. Wir schätzen uns glücklich, dass wir so vielfältige Anleihen bei vielen Autor*innen machen können. Unter den jeweiligen Abschnitten in den Teilen II und III führen wir unter »Weiterlesen« Literatur an, aus der wir viele unserer Anregungen geschöpft haben und die sich zur Vertiefung eignet. Im Interesse der Lesbarkeit verzichten wir auf Detailnachweise, sofern die entsprechenden Informationen rasch und öffentlich zugänglich verifiziert werden können (mittels einer kurzen Recherche im Internet). Wenn wir zitieren, geben wir die Quelle an.

Zum Gelingen dieses Buchs haben viele Menschen auch ganz konkret beigetragen. Wir danken (in alphabetischer Reihenfolge): Andres Frick, Andreas von Gunten, Ruth Gurny, Pierre-Yves Maillard, Samira Marti, Mattea Meyer, Anja Pfenninger, Katharina Steinmann, Yann Wermuth und Pascal Zwicky herzlich für das kritische Gegenlesen und für ihre Kommentare und Hinweise. Und bei Hans Baumann und Andreas Rieger bedanken uns dafür, dass sie für dieses Buch neue Berechnungen beigesteuert haben.

Ein großes Dankeschön gilt dem Rotpunktverlag, besonders Sarah Wendle und Mia Jenni, für die kritische und solidarische Begleitung. Und wir bedanken uns ganz speziell bei all jenen Freund*innen und Familienmitgliedern, die – einmal mehr – während der Arbeit an diesem Buch auf uns verzichten mussten.

Die Service-Public-Revolution

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