Читать книгу Zimmer 122 - Beatrice Schweingruber - Страница 10

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Caduff, Sanja und Philipp gönnten sich einen Kaffee auf der Hotelterrasse, die am Morgen noch im Schatten lag, und besprachen das weitere Vorgehen. Sanja fröstelte und zog sich immer weiter in ihre zu grosse rote Jacke zurück. Ihre Hände verschwanden in den Ärmeln und mit einer energischen Geste zog sie die Kapuze über ihren Kopf. Böse Zungen sagten ihr nach, sie kopiere die Übergrössen von Caduff.

Philipp berichtete, dass die Videoüberwachung im Hotel seit einiger Zeit defekt war. Der dafür zuständige junge Angestellte, Sven Guggisberg, hatte es versäumt, sie vom Hersteller reparieren zu lassen. Caduff schüttelte enttäuscht den Kopf. Überwachungskameras hatten sich oft als Segen für die Polizeiarbeit erwiesen. Manch Unerwartetes konnte entdeckt werden. Was für ein Schlendrian, dieser Guggisberg!

Caduff plante ein Gespräch mit dem Zimmermädchen, das den Getöteten gefunden hatte, während sich Sanja und Philipp den Hotelgästen widmeten. Danach, um 10:00 Uhr, würden sich Sanja und Caduff Klara Niedermann vornehmen.

Nils Sägemann, der Hoteldirektor, erschien auf der Terrasse und begrüsste die drei Kommissare. Es schien ihm besser zu gehen. Alles in allem machte er einen ausgeruhten Eindruck. Wie schnell man sich von einem Mord erholen kann, dachte Caduff, nicht ohne ein leises Gefühl von Bitterkeit. Er selbst fühlte sich wie in der Waschmaschine geschleudert und hoffte auf die Wirkung des schwarzen Kaffees.

»Das Zimmermädchen, Maria Violetti, erwartet Sie bereits im Vernehmungsraum. Ich hoffe, dass dieser Ihren Anforderungen entspricht.«

»Wunderbar. Alles bestens, vielen Dank«, entgegnete der sonst so wortkarge Philipp Müller unaufgefordert. Caduff bedachte ihn mit einem erstaunten Lächeln.

Alle drei erhoben sich und Caduff begab sich in den Vernehmungsraum. »Guten Morgen, Frau Violetti. Ich sehe, dass es Ihnen besser geht. Das freut mich sehr«, begrüsste er die junge Frau und gab ihr die Hand, die sie erstaunlich kraftvoll drückte. Interessiert betrachtete er sie. Ihre langen schwarzen Haare, die heute wie bei Sanja zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden waren, glänzten. Sie hatte ein schmales Gesicht und eine Stupsnase.

Caduff lächelte die junge Frau an und dachte an seine Frau. Carole fand Menschen mit Stupsnasen zum Gähnen langweilig, während sie bei ihm Schutzgefühle auslösten. Insgeheim verdächtigte er seine Frau, neidisch auf Frauen mit Stupsnasen zu sein. Caroles Geruchsorgan konnte man getrost als Hakennase bezeichnen. Aber sie war stolz auf ihre, wie sie sagte, Charakternase und ihren feinen Spürsinn.

Maria betrachtete ihn mit ihren schwarzen Augen und bestätigte, dass es ihr heute viel besser ginge. »Ich habe noch nie im Leben eine Leiche gesehen, ausser im Fernsehen. Und vor allem bin ich noch nie über eine gestolpert«, entschuldigte sie sich.

»Natürlich, das verstehe ich. Es war kein schöner Anblick, nicht einmal für uns Hartgesottenen. Erzählen Sie mir doch bitte, wann Sie gestern das Zimmer betraten und was passierte. – Ist das für Sie möglich?«, schob er nach und betrachtete sie mitfühlend.

»Ja, natürlich. Ich begann meine Runde wie üblich um 19:00 Uhr, weil die meisten Gäste um diese Zeit auf der Terrasse ihren Apéro geniessen. Meine Aufgabe ist es, die Wäsche zu überprüfen und auszuwechseln, die Bettüberwürfe aufzuschlagen und die Pyjamas dekorativ auf den Betten zu drapieren. Ich mache diese Arbeit gerne, weil es um diese Zeit so still ist. Man kann so schön seinen Gedanken nachhängen.«

»War es gestern ebenfalls still?«

Maria Violetti runzelte die Stirn und dachte über den gestrigen Abend nach. Liebend gern hätte sie sämtliche Geschehnisse verdrängt und vergessen, aber sie wusste, dass sie möglichst detailgetreu berichten musste, um der Polizei zu helfen. Es war ihr aber auch klar, dass sie nicht viel zu erzählen hatte. Ausser der Leiche hatte sie nichts Aussergewöhnliches bemerkt. Diese war allerdings mehr als aussergewöhnlich.

»Ja, es war ausgesprochen ruhig im Haus«, ging sie auf die Frage ein und sah zur Tür. Es hatte geklopft.

Sanja trat kommentarlos ein und setzte sich zu Caduffs Erstaunen neben ihn. Ohne sich aus dem Konzept bringen zu lassen, erzählte Maria von dem älteren Ehepaar, mit dem sie kurz in Zimmer 120 geplaudert hatte. Danach habe sie das Todeszimmer betreten, wie sie es nannte. Caduff fand den Ausdruck makaber. Sie berichtete, wie sie von der Sonne geblendet wurde und zum Fenster ging, ohne auf den Boden zu achten. Plötzlich sei sie gestolpert und habe sich neben der Leiche liegend wiedergefunden. Bei dieser Erinnerung schüttelte sie sich wie ein nasser Hund.

Caduff war froh, dass sie nicht weinte. Zwar war er in seinem Beruf daran gewöhnt, weinende Menschen zu sehen und zu trösten. Trotzdem fühlte er sich oft hilflos. Wie schön müsste es sein, den Menschen positive Nachrichten zu überbringen, in strahlende Gesichter zu blicken und ihren Dank zu spüren. Aber als Kommissar der Mordkommission war das nicht oder nur in wenigen Ausnahmefällen möglich.

»Was geschah dann?«, nahm Sanja den Faden wieder auf.

»Ich lief aus dem Zimmer und blieb im Flur bei einem offenen Fenster stehen. Mir war speiübel. Mehr kann ich Ihnen leider nicht sagen. Ich habe eine Gedächtnislücke bis zu dem Moment, als mein Freund kam. Das Notfallteam hat sich um mich gekümmert und mich nach Hause gelassen, als es mir etwas besser ging. Es tut mir leid, ich weiss, dass ich Ihnen keine Hilfe bin.«

Nun begann Maria doch zu weinen. Sanja legte ihr tröstend eine Hand auf den Arm, was sie beruhigte. »Das verstehen wir, machen Sie sich keine Vorwürfe«, sagte sie. Caduff war überrascht, dass sie ihre Einfühlsamkeit zeigte. Sie konnte es also doch – wie erfreulich. Diese Seite hatte sie bisher viel zu selten offenbart.

»Arbeiten Sie schon lange im Hotel Seeblick?«

»Nein, nur während der Semesterferien im Sommer als Hilfskraft. Herr Sägemann gibt mir seit einigen Jahren diese Chance, um Geld zu verdienen. Er ist ein grosszügiger Mensch und kümmert sich sehr um seine Angestellten. Während der Coronakrise wurde das noch deutlicher. Er war immer für seine Leute da. Und als ich ihn fragte, ob ich wieder zwei Monate als Hausmädchen arbeiten könnte, zögerte er keinen Augenblick und gab mir einen Vertrag.«

»Was studieren Sie?«

»Im Herbst werde ich mein Studium als Lehrerin abschliessen. Darauf freue ich mich sehr. Dass ich diese Ausbildung machen konnte, verdanke ich meinen Eltern. Sie sind einfache Leute und haben auf vieles verzichtet, um mich finanziell zu unterstützen. Für sie war das selbstverständlich. Der Job hier im Hotel erlaubte mir trotz allem eine gewisse Unabhängigkeit, deshalb war er mir immer so wichtig. Bald ist das alles Vergangenheit«, ergänzte sie und lächelte.

Ihr Lächeln erreichte ihre Augen. Maria Violetti wirkte ausgesprochen sympathisch. Caduff sah ihr an, dass sie Italienerin war. Er sah ihr auch an, dass sie glücklich war, wenn sie nicht gerade über eine Leiche stolperte.

»Wo leben Ihre Eltern?«, fragte Sanja.

Caduff war sich nicht klar, ob er diese Frage für angebracht hielt oder doch für etwas zu neugierig. Aber die junge Frau gab bereitwillig eine Antwort.

»In Luzern. Sie sind allerdings beide waschechte Venezianer. Die ersten Lebensjahre verbrachte ich in Italien. Als ich ins Gymnasium wechselte, zogen wir in die Schweiz. Seither lebe ich hier und fühle mich als Schweizerin. Mein Freund und ich werden nächstes Jahr heiraten und in der Umgebung bleiben. Er ist auch Lehrer. Und wir wünschen uns Kinder.«

Sie lachte fröhlich und schien zu vergessen, weshalb sie mit Caduff und Sanja sprach. Caduff lächelte. So jung und unbeschwert müsste man nochmals sein!

»Das freut mich. Absolvieren Sie den Rundgang mit dem Wäsche-Servicewagen jeden Abend?«, fragte er, obwohl es ihm schwerfiel, sie in die Realität zurückzuholen.

»Nein, wir wechseln uns ab.« Die beiden Kommissare tauschten einen schnellen Blick. »Wie dürfen wir das verstehen?«

»Das bedeutet, dass sich Sven Guggisberg und ich alle vier Tage abwechseln. Vier Tage macht er den Rundgang, die nächsten vier Tage übernehme ich.«

»Sven Guggisberg? Ist der nicht für den technischen Dienst zuständig?«

Marias eben noch heiterer Gesichtsausdruck verschwand und eine steile Sorgenfalte bildete sich zwischen ihren Augen.

»Das ist richtig. Bitte fragen Sie ihn selbst oder wenden Sie sich an den Direktor. Ich kann Ihnen nur sagen, dass Sven ein netter und zuverlässiger Typ ist«, antwortete sie und war offensichtlich nicht bereit, sich weiter über ihren Kollegen auszulassen.

Verwundert sah Caduff zu Sanja, die ihm mit den Augen Zeichen machte, die er nicht verstand.

»Was ist?«, fragte er leicht genervt.

»Ich bin bei euch reingeplatzt, weil ich mit dem Hoteldirektor ein interessantes Gespräch über Sven Guggisberg führte. Es ist eine längere Geschichte. Guggisberg hat heute seinen freien Tag, aber ich bin überzeugt, dass sich ein Gespräch mit ihm lohnt.«

»Brauchen Sie mich noch? Ich habe viel Arbeit zu erledigen«, unterbrach Maria. Seit der Name Sven Guggisberg gefallen war, schien sie das Vernehmungszimmer möglichst schnell verlassen zu wollen.

»Nein, Sie können gehen. Aber halten Sie sich bitte zu unserer Verfügung.«

Maria erhob sich und verliess den Raum. Sie nahm sich nicht die Zeit, den beiden Kommissaren die Hand zu reichen. Ein »Auf Wiedersehen« murmelte sie mehr, als dass sie es laut aussprach.

»Gut, sprechen wir morgen mit diesem Guggisberg, wenn er wieder im Dienst ist«, entschied Caduff und sah Sanja an. »Schreib aber bitte trotzdem einen Bericht über deine Besprechung mit dem Hoteldirektor. Sobald ich Zeit habe, werde ich ihn lesen.« Er warf einen kurzen Blick auf seine Uhr. »Jetzt ist es höchste Zeit, Klara Niedermann zu treffen. Ich bin gespannt, was sie uns erzählt. Am Nachmittag schaue ich bei Bamert in der Rechtsmedizin vorbei und bin danach im Büro. Ich erwarte deinen Bericht bis um 15:00 Uhr auf meinem Tisch. Kannst du Philipp Bescheid geben, dass ich seine Rapporte über die Gespräche mit den Hotelgästen ebenfalls bis 15:00 Uhr brauche?«

Sanja nickte zustimmend und machte sich Notizen.

Zimmer 122

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