Читать книгу Zimmer 122 - Beatrice Schweingruber - Страница 9

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Sanja wurde vor fünfunddreissig Jahren in Serbien als zweites von vier Kindern geboren. Ihre ersten Lebensjahre verbrachte sie zusammen mit ihren drei Brüdern und Eltern in einem Haus am Rande von Belgrad. Ihr Vater, Thomas Reusser, war ein Schweizer Arzt, der sich als Student in den Semesterferien in eine serbische Schönheit verliebt hatte und nach Abschluss seines Studiums nach Belgrad ausgewandert war, um seine Dunja zu heiraten. Dieser Liebe entsprossen die vier Kinder. Es war eine harmonische und in jeder Beziehung unbeschwerte Zeit, an die sich Sanja stets mit Wehmut erinnerte. Sie war ein aufgewecktes Mädchen, lachte gern und viel und sprühte vor Lebensfreude.

Dann kam der Krieg, der alles veränderte und das Leben der Menschen auf den Kopf stellte. Ihr Vater hatte als angesehener Arzt im Spital alle Hände voll zu tun und konnte sich nur wenig um seine Familie kümmern, die deshalb fast ganz auf sich gestellt war. Die Kommunikation beschränkte sich in der Regel auf ein Telefongespräch pro Tag. Der Vater arbeitete Tag und Nacht. Dunja und ihre vier Kinder litten unter dieser Situation und unter Hunger und mussten stundenlang für Lebensmittel anstehen, wie alle anderen Menschen auch.

Es war lebensgefährlich, nach draussen zu gehen, um das für’s Überleben Notwendigste zu besorgen. Dunja und Sanja pflanzten Gemüse in ihrem Garten, das sie grosszügig auch unter ihren Nachbarn und Familienmitgliedern verteilten. Vieles wurde allerdings gestohlen, bevor sie es ernten konnten. Als einziges Mädchen unterstützte Sanja ihre Mutter, wo sie nur konnte.

Als Dunja eines Tages ihren ältesten Sohn nach draussen schickte, um Brot zu kaufen, wurde er von einer verirrten Kugel getroffen und schwer verletzt ins Spital eingeliefert. Auch sein Vater konnte ihn nicht retten. Ein paar Tage später starb er unter Qualen. Die Familie beerdigte ihn auf dem Friedhof, auf dem sich reihenweise Gräber mit weissen Kreuzen von jungen Männern befanden, die im Krieg ihr Leben verloren hatten. Die Familie Reusser erholte sich nicht mehr von diesem Schicksalsschlag.

Sanjas Mutter begann unter Schlaflosigkeit zu leiden. Sie konnte ihre häuslichen Arbeiten nicht mehr verrichten und war unfähig, ihre drei Kinder zu versorgen. Immer häufiger verbrachte sie ihre Tage im Bett, wo sie nur stumm zur Decke starrte. Sie sprach mit niemandem und stand nur auf, um ins Bad zu gehen. Sie vernachlässigte nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Familie und ihre Pflichten als Mutter von drei Kindern. Immer mehr glitt sie in eine schwere Depression. Dunja fühlte sich schuldig am Tod ihres Sohnes, weil sie ihn zum Einkaufen geschickt hatte.

Sanja, die sich gezwungen sah, die Verantwortung für ihre Mutter und ihre zwei jüngeren Brüder zu übernehmen, war heillos überfordert. Sie versuchte, ihren Brüdern die Mutter zu ersetzen, so gut es eben ging. Sie besorgte den Haushalt und war für die Essensbeschaffung verantwortlich, obwohl es lebensgefährlich war, nach draussen zu gehen. Aber sie hatte keine andere Wahl. Jemand musste es tun.

Eines Morgens verliess Sanja schon in aller Frühe das Haus, um sich auf dem nahegelegenen Markt mit dem Nötigsten einzudecken. Wie ihr Vater ihr geraten hatte, verdeckte sie ihre langen Haare unter einem Kopftuch, das sie tief ins Gesicht gezogen hatte. Plötzlich nahm sie eine Gefahr wahr, die sie allerdings nicht ausmachen konnte. Die Menschen, die an den Marktständen Schlange standen, drängten sich schweigend zusammen. Man konnte die Angst förmlich riechen. Normalerweise herrschte emsiges Treiben, begleitet von lautem Geplauder. Sanja spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Woher kam die Bedrohung? In diesem Augenblick näherte sich eine Gruppe schwerbewaffneter Männer dem Markt, die Gewehre im Anschlag. Sie schrien wild durcheinander und fuchtelten mit ihren Waffen herum. Sanja konnte kein Wort verstehen. Verzweifelt sah sie sich nach Hilfe um. Die Männer schrien noch immer und schossen in die Luft. Jetzt kam Bewegung in die Menschen. Sie rannten in alle Richtungen davon, rannten buchstäblich um ihr Leben. Auch Sanja schloss sich einer Gruppe Fliehender an, ohne zu wissen, was eigentlich los war. Weitere Gewehrsalven folgten. Eine Frau, die unmittelbar neben Sanja durch die Strasse hetzte, warf plötzlich beide Arme in die Luft und brach zusammen. In Todesangst bückte sich Sanja, um nach ihr zu sehen, als sie von hinten angerempelt und umgestossen wurde. Entsetzt realisierte das Mädchen, dass die Frau, auf die sie gefallen war, tot war. Ihr Hinterkopf war weggeschossen. Irgendwie kriegte Sanja eine Hand zu fassen, die sie wieder auf die Beine zerrte und mit sich zog. Die bewaffneten Männer schossen wahllos in die fliehende Menschenmenge und töteten und verletzten viele von ihnen. Kinder kreischten. Erwachsene schrien. Es herrschte Chaos. Sanja konnte sich später nicht erinnern, wie sie es doch noch nach Hause geschafft hatte.

Nach diesem schrecklichen Erlebnis wollte Sanja nichts anderes als in die Arme genommen und getröstet werden. Sie vermisste ihre Mutter, die apathisch im Bett lag. Noch schmerzlicher vermisste sie ihren Vater, an dessen Schulter sie sich ausweinen wollte. Sie wollte Kind sein und keine Verantwortung für ihre Familie tragen müssen. Und schon gar nicht wollte sie wieder nach draussen, um Lebensmittel einzukaufen. Leider war die Realität eine andere.

Nach diesem Ereignis wagte sich Sanja einige Tage nicht mehr aus dem Haus, obwohl inzwischen sämtliche Lebensmittel ausgegangen waren. Beim blossen Gedanken daran zitterte sie wie Espenlaub. Doch pflichtbewusst, wie sie war, verdrängte sie bald ihre Angst, verbarg ihr Haar wieder unter einem grossen Schal und machte sich erneut auf den Weg zum Markt. Das Blut auf den Strassen war noch gut zu sehen und liess Sanja erschauern. Als sie die wenigen Nahrungsmittel, die sie ergattern konnte, nach Hause trug, erschütterte eine gewaltige Explosion die Strasse. Sanja drückte die Einkaufstasche fest an ihren Körper und lief, so schnell sie konnte, nach Hause. Erst am nächsten Tag erfuhr sie, dass die Statue eines Kriegsgegners in die Luft gesprengt worden war.

Es war eine harte Zeit. Sie machte aus Sanja eine Kämpferin, die es gewohnt war, der Gefahr zu trotzen.

Als der Krieg endlich zu Ende ging, verliess Thomas Reusser mit seiner kranken Frau und seinen drei Kindern Serbien und kehrte in die Schweiz zurück. Dunja wurde in die Psychiatrische Klinik eingewiesen, wo sie sich nur langsam von ihrem Trauma erholte. Thomas Reusser fand eine Stelle als Arzt im Kantonsspital Luzern, die es der Familie ermöglichte, wenigstens finanziell ein sorgloses Leben zu führen. Aber auch er war nicht mehr derselbe. Für die Kinder, die um eine fröhliche und unbeschwerte Kindheit gebracht worden waren, erwies sich der Weg in die Normalität ebenfalls als schwierig. Sanja musste sich nach ihren traumatischen Erlebnissen psychologisch betreuen lassen. Sie litt unter Angstzuständen. Es war ihr zur Gewohnheit geworden, sich laufend umzudrehen, weil sie sich verfolgt fühlte. Hinter allem witterte sie eine Gefahr. Ständig war sie in Alarmbereitschaft, litt unter Schweissausbrüchen, Zittern, Herzrasen und Atemnot. Mithilfe ihres Psychologen gelang es ihr in langen und intensiven Gesprächen, diese lähmende Angst zu bewältigen und ein einigermassen normales Leben zu führen. Vergessen konnte sie ihre traumatischen Erlebnisse nicht, die Panikattacken suchten sie aber nur noch bei seltenen Gelegenheiten heim.

Zum Glück hatte ihr Vater Schweizerdeutsch mit den Kindern gesprochen, sodass sie sprachlich keine Probleme hatten. Sanja verfolgte nur ein einziges Ziel. Sie wollte Hauptkommissarin bei der Mordkommission werden, und zwar die Beste. Sie wollte das Schlechte und Böse bekämpfen. Sie kannte nichts anderes, als sich in einer von Männern dominierten Welt durchzusetzen. In zwei Monaten würde sie von Peter Caduff die Leitung der Mordkommission übernehmen.

Sie war bereit.

Zimmer 122

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