Читать книгу Ein schönerer Schluss - Bekim Sejranović - Страница 10
ОглавлениеVII
1.
Als die Pflaumen um Großvaters Hütte endlich abgefallen waren und verfaulten, kam der Herbst. Es setzten Regen ein, die in Bosnien „heftenjaće“, also „Sieben-Tage-Regen“ genannt werden, was bedeutet, dass es eine Woche lang durchregnet. Die Stimmen in meinem Kopf begannen allmählich leiser zu werden, und es gab Tage, an denen sie überhaupt nicht mehr sprachen, weder mit mir noch miteinander. Die Bilder, die mich im Schlaf ansprangen, aber auch wenn ich wach war, verblassten immer mehr. Vielleicht war der Grund auch, dass ich angefangen hatte, über das, was in Oslo geschehen war, zu schreiben. In dem rosafarbenen Schreibheft hatte ich zunächst damit begonnen, darüber zu schreiben, was in der Hütte war, aber da gab es nicht viel zu erzählen. Nach einiger Zeit hatte ich angefangen, neurotisch einzelne Wörter, die Geschehnisse aus Oslo betrafen, von der Rückseite her ins Schreibheft zu kritzeln. Mit der Zeit fügten sich die Wörter zu Formen, die Ähnlichkeit mit Geschichten hatten. Es schien, als wäre es mir gelungen, die Stimmen aus dem Kopf auf das Papier zu bannen.
Als der Dauerregen einsetzte, setzte ich auch mal einen Fuß vor die Tür und begann meine Wanderungen über die umliegenden Berge. Es war schlammig und mühsam zu gehen. An manchen Stellen sank ich bis zu den Knöcheln in die klebrige Erde ein, aber es gibt nichts Schöneres, als bei Regen im Wald zu wandern. Du hörst, wie es rieselt und wie die Tropfen auf die schon welken Blätter fallen und langsam herabrinnen und auf dem weichen Waldboden aufschlagen, und du siehst, wie hier und da ein Blatt fällt und wie dünne Rinnsale die Kerben in der Eichenrinde hinunterfließen. Alles andere ist verstummt, kein Käfer summt, kein Vogel zwitschert, kein unsichtbares Tier raschelt. Alle haben sich in ihre Verstecke, Nester und Höhlen zurückgezogen, gemeinsam mit dem Wald haben sie sich dem Herbstregen überlassen.
2.
Ich ging auch deshalb gern im Regen spazieren, weil ich mir sicher war, auf den umliegenden Äckern und Lichtungen keinem Bauern oder Hirten zu begegnen. Früher konnte man sie den ganzen Tag einander von Berg zu Berg zurufen hören. Dann versuchte ich zu enträtseln, was sie einander zu sagen hatten, aber ohne Erfolg. Alles, was ich hörte, war ein lang gezogenes, unartikuliertes eeeooooo, das zuerst vom einen Berg zu hören war, und dann ein oooooeee vom anderen. Vielleicht bedeutete das viel mehr, als ich erahnen konnte. Aber vielleicht bedeutete es auch nichts.
Die Hütte liegt acht Kilometer vom Dorf entfernt. Ein staubiger, ausgewaschener Schotterweg führt am Flüsschen entlang, das irgendwo oben in den Bergen entspringt. Zum Dorf runter fuhr ich, wenn ich Lebensmittel brauchte, etwa einmal die Woche. Ich habe einen 37 Jahre alten, klapprigen Käfer, der diesen Weg problemlos schafft. Als ich das erste Mal mit dem Käfer durchs Dorf fuhr, sprangen die Jungs, die auf der Straße Fußball spielten, flink zur Seite und fingen an zu glotzen und zu grinsen und mit dem Finger auf das Auto zu zeigen. Einer schrie: – Daaa, sieh mal, ein Fićo! – Die anderen griffen das auf: – Fićo, Fićo! – machten sie sich lustig und schnitten Grimassen. Ich parkte vor dem kleinen Laden gegenüber der Moschee und ging hinein. Hinter dem Pult stand ein Mädchen, das nicht mehr als achtzehn oder neunzehn sein konnte. Sie war dunkelhäutig und hatte hellgraue Augen. Ihr Haar war schwarz, lang und dicht, nach hinten gekämmt. Sie hatte eine hohe Stirn. Für einen Augenblick blieb ich stehen und sah ihr zu, wie sie eine alte Frau in Pluderhosen bediente. Dann nahm ich das Notwendigste: Mehl, Öl, Eier, Paprika, Tomaten, Nudeln, Reis und noch was. Sie sah mich kurz an, während sie sagte, was alles zusammen kostet.
Ich ging hinaus, und um den Käfer drängten sich die Kinder. Gegenüber, auf der Bank vor der Moschee, saßen die Alten, fünf an der Zahl. Sie blinzelten in die Sonne und sahen mir wortlos nach. Drei von ihnen hatten dunkelblaue Barette auf dem Kopf.
3.
Als ich zur Hütte zurückfahre, beginnen die Stimmen und Bilder im Kopf wie Mühlsteine zu rotieren. Ich sehe meine Ex und ihren Sohn, wie sie zusammen weinen, der Kleine sieht mich mit seinen blauen Augen an. Da sind auch Cathrine mit ihren vollen Lippen und ihrem besorgten Beschützerinnenlächeln und ihre Tochter, die kichernd und ungeschickt, aber frech, mit Zeigefinger und Daumen ihre Brustwarzen zwirbelt.
Ich gebe Gas, das Auto macht auf dem holprigen Weg einen Satz. Mir kommt vor, als würden mich die Dorfkinder jagen und drohend grinsen und schreien: – Fićo, Fićo! – Die Alten sitzen auf der Bank und nicken zustimmend, verziehen die trockenen Münder und entblößen die zahnlosen Unterkiefer. So dahinrasend stoße ich fast mit einem alten weißen Mercedes zusammen, der um die Kurve kommt. Beide bremsen wir abrupt. Wir können nicht aneinander vorbei, weil der Weg zu schmal ist. Der Mercedes zeigt nicht den geringsten Willen zurückzustoßen, also tue ich es. Als mich das Auto passiert, sehe ich auf dem Fahrersitz einen finster blickenden Mann von gut vierzig Jahren mit brustlangem Bart. Der Bart ist unordentlich und ungestutzt. Ich zucke kurz zusammen. Ich winke ihm, wie es ja üblich ist, wenn zwei Autos einander auf einem schmalen Weg begegnen, aber er sieht mich nicht an. Auf dem Rücksitz sitzen zwei verhüllte Frauengestalten. Der Bärtige gibt Gas und verschwindet die schlammige Straße hinunter.
Nachdem ich schon einige Tage in der Hütte verbracht habe, sehe ich denselben Mercedes und dieselbe bärtige Gestalt mehrere Male von der Veranda aus. Später kommen andere Autos vorbei, auch Kombis, und alle Fahrer haben lange Bärte.