Читать книгу Ein schönerer Schluss - Bekim Sejranović - Страница 11
ОглавлениеVIII
1.
Der Herbst zog sich in die Länge und tränkte die Erde unbarmherzig mit Regen, die Bäche tosten zu Tal und ergossen sich in den Fluss, der mächtig angeschwollen und trübe geworden war und alles mit sich trug. Ich wanderte in Großvaters alten Bergmannsstiefeln durch die umliegenden Wälder und horchte auf den Wind, wie er das welke Laub von den Zweigen riss. Nachts schlief ich schlecht, sodass ich las oder, seltener, schrieb. Da das elektrische Licht die ganze Zeit über an- und ausging, benutzte ich eine Paraffinlampe. Wenn ich die anzündete, wurde es in der Hütte auch wärmer. Alles nahm eine dunkle, rötliche Farbe an, jeder Gegenstand bekam einen länglichen Schatten. Ich warf ein paar Buchenscheite in den alten Bullerofen und schloss die Ofenklappe. Zuerst war es still. Dann hatte die Flamme das Holz erfasst, und der Ofen begann zu bullern.
Es brauchte nicht viel Verstand, um zu wissen, dass nach einem solchen Regen der Schnee kommen und es unmöglich sein würde, das Dorf mit dem Auto zu erreichen, und zu Fuß nur sehr schwer. Ich brauchte Tourenskier. Eines Tages setzte ich mich ins Auto, bereit, wenn nötig, bis Sarajevo zu fahren und mir welche zu besorgen. Nach vier Tagen kehrte ich mit neuen Tourenskiern, Marke Fischer, zur Hütte zurück. In Sarajevo hatte ich zwei Tage warten müssen, bis die Bindung montiert war. Ich hatte auch ein Paar ganz solide Skischuhe ergattert.
2.
Oslo, vor zwei Jahren. Ich sitze seit Tagen in meinem Zimmer am Fenster und sehe auf die Straße hinaus. Jeden Tag denke ich darüber nach, was ich tun könnte. Ich habe noch etwas Erspartes. Ich kann das Zimmer für zwei Monate im Voraus bezahlen, und es bleibt mir noch genug fürs Essen und ein paar Mal Ausgehen und Besaufen. Ich kann mir zehn Gramm Haschisch kaufen und noch mindestens eine Woche am Fenster verbringen und mich einrauchen. Zwischen jedem Joint einen Porno ansehen, onanieren, dann ein Buch lesen, ein bisschen Futter einschmeißen, aus dem Fenster sehen, daran denken, dass es am einfachsten wäre zu sterben. Aber auch das hat keinen Sinn. So sinnlos einem das Leben auch erscheint, der Tod ist noch sinnloser. Dann drehe ich mir einen neuen Joint und komme, während ich im Bett liege und rauchend an die Decke starre, zum Schluss, dass mir weder das eine noch das andere, weder das Leben noch der Tod, übertrieben zusagt.
3.
Ich kaufte kein Haschisch. Am fünften Tag, nachdem ich das Zimmer bezogen hatte, war klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Stirb oder lebe, verdammt noch mal, sagte ich zu mir. Ich stand auf und fühlte mich gut. Ich duschte, rasierte mir den Fünftagebart ab und zog meine besten Klamotten an.
– Und jetzt gehen wir hinaus unter die Menschen, hinaus in den Regen, scheiß auf den Regen, soll es regnen, du bist nicht aus Zucker, du wirst nicht dahinschmelzen, wir gehen uns eine Arbeit suchen, ein Mädchen, ein bisschen leben, scheiß auf dieses transusige Geseufze, diese pathetische Trauer, diese Nostalgie, die nichts anderes ist als eine Ausrede für deine Faulheit, scheiß drauf, Mann, du bist noch nicht tot. Sterben wirst du so oder so, wozu die Eile?
So sprach die bekannte Stimme im Kopf, die Stimme, die mich oft antreibt, mich aus der Apathie zu erheben, die Stimme, die mich aus den Depressionen rettet, die mich aus dem Schlick des ungesunden Rückzugs vom Leben herauszieht, aus der Feigheit, die es mir weder erlaubt zu leben noch die Qualen zu verkürzen. Man muss allerdings ehrlich sein und sagen, dass mich dieselbe Stimme noch öfter dorthin getrieben hat, wo nicht mein Platz war, dass sie mich aus dem Orbit geworfen und dazu angestiftet hat, Blödsinn zu machen, nicht an die Folgen zu denken, zu vergessen, dass man manchmal, irgendwo und irgendwie, herunterkommen, verlangsamen und wieder landen muss. Eine Zeit lang war ich wie eine Rakete, aber im entscheidenden Moment ging mir immer der Brennstoff aus. Und deshalb fiel ich, hinter mir eine Flammenspur zurücklassend; fiel lange und schmerzlich, ohne etwas, das mich abgebremst hätte. Am Ende kam unweigerlich die harte Landung.
Ich mochte diese Stimme, dass das klar ist; ihretwegen habe ich manchmal auch gedacht, dass es sich zu leben lohnt, aber ich hasste sie, wenn sie mich verließ. Präziser, ich hasste es, dass das Missverhältnis zwischen dem Leben mit und dem Leben ohne diese Stimme so groß war; der Abstand zwischen dem höchsten und dem tiefsten Punkt der Lebenskurve war für mich einfach zu groß.
Aber an jenem Tag, an diesem Oktobermorgen vor zwei Jahren in Oslo, war es unumgänglich, mich in Bewegung zu setzen, obwohl ich schon damals wusste, dass ich über kurz oder lang stolpern würde.