Читать книгу Ein schönerer Schluss - Bekim Sejranović - Страница 12
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1.
Endlich gehe ich aus dem Haus, ich gehe die Hagegata hinunter, der Wind trägt mir den Regen ins Gesicht. Eine dicke Frau wartet am Fußgängerübergang auf Grün. Sie neigt den Regenschirm vor, um sich zu schützen. Ich gehe an ihr vorüber, ohne auf das Licht an der Ampel zu achten, und überquere die Straße. Hinter mir höre ich, wie der Wind ihr den Schirm umstülpt. Der Regen wird bald aufhören, denn die Wolken stehen tief, und der Wind treibt sie vor sich her wie ungehorsame Schafe. Dann wird sich für einen kurzen Moment die Sonne zeigen, die Menschen werden die Regenschirme zusammenklappen, die Jacken ausziehen, wie auf Befehl die Sonnenbrillen aufsetzen, den Mund zu einem Lächeln verziehen, dankbar für diese seltenen Augenblicke bleichen Lichts. Daraufhin wird aus dem Fjord ein neuer Schwall feuchter Luft kommen, die Wolken werden sich wie Kamikazeflieger auf die Sonne stürzen, wieder wird ein Teppich aus Wassertropfen die Stadt überziehen und die Menschen von den Straßen treiben.
Ich gehe nicht zur U-Bahn-Station Tøyen, sondern zu Fuß in Richtung Zentrum die Tøyengata hinunter, die gespickt ist mit kleinen Läden voller Obst und Gemüse. Die Aufschriften auf den Läden sind in Urdu, Arabisch, Somali, Kurdisch, Türkisch. Dann gehe ich durch Grønland, vor dem Eingang zur U-Bahn dealen minderjährige Somalis aggressiv Haschisch, ich gehe weiter über den Youngstorget, wo Südamerikaner Kappen und Ponchos aus Lamawolle verkaufen. Ich gehe an der Deichman-Bibliothek hinauf, die mich aus einem unerfindlichen Grund an das Berlin der Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts erinnert. Ich gehe vorüber und weiter bergauf in Richtung St. Hanshaugen, über den Vår-Frelsers-Friedhof, wo Ibsen begraben ist. Ich bleibe an seinem Grab stehen, das aus einer großen Grabplatte und einem Obelisken besteht, in den ein Hammer eingemeißelt ist. Früher bin ich oft hierhergekommen. Ich kam auch nachts, wenn die Kneipen zugemacht hatten und ich noch keine Lust hatte, nach Hause zu gehen. Ich setzte mich auf die schwarze Marmorplatte und rauchte. Manchmal brachte ich auch ein angetrunkenes Mädchen mit und erzählte ihr von Ibsen und log ihr vor, dass ich eine Bank in der Nähe kenne, auf der Knut Hamsun gesessen und geschrieben hat. Wer weiß, vielleicht stimmte das sogar. Ich glaubte es jedenfalls, und für die Mädchen war es aufregend. Einmal hätte ich eine fast gevögelt, hier auf dem Grab. Aber es war zu kalt, ich war zu betrunken, und sie zu aggressiv, also war nichts. Trotzdem erzählte ich eine Zeit lang allen, dass doch.
2.
Vom Friedhof aus gehe ich in den Park auf St. Hanshaugen. Ich gehe durch den Park und erinnere mich, dass ich hier auch einmal mit meiner Ex spazieren war. Die Leere in mir füllt sich mit Beklemmung. Vom Park aus setze ich meinen Weg fort in Richtung Universität. Ich sehe das Haus, in dem wir damals gewohnt haben. An den Fenstern sind Vorhänge von irgendwem. Ich stehe da und starre wie ein Taubstummer. Der Regen hat wieder eingesetzt und hört nach zehn Sekunden erneut auf. Ich will ein bisschen hier stehen und warten, aber es gibt niemand, auf den ich warten könnte. Ich gehe weiter, gehe an der Veterinärmedizinischen vorüber. In einem Korral, hinter einem hohen Drahtzaun, stehen fünf Pferde. Vier braune, einen weißen Fleck auf der Stirn, und ein schmutzig weißes, so eines wie in der Bibel, das der Tod reitet. Es steht am Zaun und schaut in die Luft, als würde es etwas wittern. Dann senkt es den Blick, und wir sehen uns einige Augenblicke lang an. Ich gehe weiter, die Anhöhe hinauf, die Straßenbahngleise entlang. Ich habe noch ein paar Hundert Meter bis Blindern, wo die Universität ist. Die Dächer der Gebäude sind schon zu sehen.
3.
Die Universität auf Blindern wurde in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts erbaut. Alle Gebäude sind aus dunkelroten Ziegeln. Hier habe ich gut zehn Jahre verbracht, teils studierend, teils arbeitend. Das letzte Mal war ich vor gut anderthalb Jahren hier. Als ich anfing, zuerst als studentische Hilfskraft, dann als Assistent, war ich mächtig stolz. Aber bald wurde mir das, wie alles andere auch, langweilig. Ich sah meine Zukunft vor mir. Ich sah, wie ich erfolgreich meine Dissertation verteidige, wie ich eine Stelle als Dozent, dann als außerordentlicher Professor bekomme, wie meine wissenschaftlichen Arbeiten veröffentlicht und wie diese Bücher Pflichtlektüre werden, wie ich Stunden und Tage und Jahre und Jahrzehnte damit verbringe, die Buntheit der metaphorischen Formen und ihre Funktionen im frühen Modernismus zu untersuchen, oder das Motiv der Entfremdung in den frühen Hamsun-Romanen, oder den Einfluss russischer Schriftsteller auf die europäische Literatur in der Zeit zwischen 1928 und 1935. Ich sah, wie mein Haar schwindet, wie meine Dioptrie zunimmt, wie ich wie ein Gespenst durch die Fakultätskorridore schleiche, in vergessenen Büchern grabe und zu großen literaturgeschichtlichen Entdeckungen vorstoße, von denen ich nach zwei geleerten Flaschen Wein jeder und jedem, der das Pech hat, mir in die Quere zu kommen, ermüdend ausführlich erzähle. Ich sah, wie ich nach jungen Studentinnen geifere, die mich mitleidig zurückweisen, wie ich nach Hause in meine mit Büchern vollgestopfte Wohnung zurückkehre und meine nie veröffentlichten Verse lese und über sie weine, den Computer einschalte und ein neues Gedicht schreibe, dann einen Porno ansehe, aber zu viel über das neue Gedicht nachdenke, was zu verändern sei, dass seine Form noch gefeilter, seine Struktur noch kompakter wird, ich sah, wie ich noch einen Vers einfüge, vielleicht am Schluss, einen Ausweg vielleicht, etwas Unausgesprochenes. Alles das sah ich vor mir und begriff, dass ich das nicht konnte. Selbst wenn ich gewollt hätte.
Aber ich konnte nicht einfach so kündigen, denn wie kann man eine Arbeit kündigen, um die dich viele beneiden. Das ist nicht so leicht, sei ehrlich, du magst es, wenn dich die Menschen beneiden. Obwohl du weißt, dass es keinen Grund dafür gibt. Reichtum ist wertlos, wenn andere ihn dir nicht wegnehmen wollen.
Jetzt gehe ich doch zu Fuß in den zehnten Stock hinauf, wo sich das Büro von Professor Pettersen befindet, meinem einstigen Mentor. Ich habe Glück und treffe ihn in seinem Büro an. Er ist überrascht, mich zu sehen, aber sehr herzlich. Er sagt, er müsse dringend zu einer Sitzung, aber würde sich freuen, mich zu treffen, wenn er mehr Zeit habe. Ich sage, dass das kein Problem sei, und frage ihn ziemlich dreist, ob es an seinem Institut unter Umständen eine Stelle für mich gäbe. Er sammelt die Papiere vom Tisch zusammen, hält inne, sieht mich an und seufzt tief.
– Du weißt, dass das unmöglich ist. Nach allem.
– Ich weiß.
– Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll. Aber, wenn es etwas gibt, sage ich es dir. Jetzt muss ich wirklich gehen. Melde dich unbedingt, am besten nachmittags. Du kannst auch einen Tag herkommen, aber nicht diese Woche, gerade bin ich sehr beschäftigt. Mein neues Buch erscheint, weißt du …
– Ich weiß – sage ich. Ich verspreche ihm, mich zu melden, und gehe hinaus.
Wir kommen zusammen zum Fahrstuhl. Wir fahren hinunter ins Erdgeschoss, grüßen einander und gehen jeder in seine Richtung ab.
Ich will zurück in die Stadt, aber auf einem anderen Weg. Wieder scheint die Sonne. Neben mir marschieren Ströme von Studentinnen und Studenten. Ich sehe in ihre Gesichter, stelle mir ihre Leben vor. Ich versuche mir auch meines vorzustellen, kann es aber nicht. Mir wird etwas leichter, und befreit gehe ich in Richtung Zentrum. In Oslo kannst du dich nicht verirren. Du gehst nur bergab und kommst immer ins Zentrum.