Читать книгу Ein schönerer Schluss - Bekim Sejranović - Страница 5

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II

1.

Ich sitze in der Hütte, zünde ein Streichholz an und zähle bis fünf. Die Flamme beleckt die Fingerspitzen, und der Schmerz ist da. Auf ihn kannst du dich verlassen.

Ich erwarte den Ruf der Eule, der jede Nacht aus dem nahen hohlen Birnbaum kommt.

Ich habe immer wieder versucht, mir selbst zu erzählen, was in den letzten zwei Jahren passiert ist, aber es ist mir nicht gelungen. Die Geschichte änderte sich je nachdem, welche von meinen Stimmen sie erzählt. Die eine Stimme vergisst immer wieder einzelne Episoden, während sie bei einer anderen einen zentralen Platz einnehmen.

Aber ich hatte in Großvaters Hütte auch zu viel Zeit zum Nachdenken. Ich fing an zu glauben, dass alles, was erst noch zu geschehen hatte, genau genommen schon geschehen war. Ich bildete mir ein, ich könnte, indem ich die Vergangenheit analysiere, die Zukunft vorhersehen.

2.

In jenem Oktober vor zwei Jahren rappelte ich mich von dem lehmigen Boden auf, wrang dass nasse T-Shirt aus und zog es wieder an. Durch das nasse Gewebe zeichneten sich meine Brustwarzen ab. Wieder musste ich an meine Ex und ihre Brüste denken. Sie waren nur wenig größer als meine, aber sie hatten eine ganz andere Form und Poetik. Brustwarzen spitz zulaufend und hart wie auf den preußischen Pickelhauben aus dem Ersten Weltkrieg. Wenn du hineinbeißt, brechen dir die Zähne, fallen dir die schlecht gearbeiteten Amalgamplomben raus.

In dieser Zeit versuchte ich nicht an sie zu denken, sie wie eine unangenehme Erinnerung zu vergessen. Du hast sie nicht geliebt, du hast sie wirklich nicht mehr geliebt, sagte ich zu mir.

– Die Frage ist, ob du sie überhaupt jemals geliebt hast – meldete sich eine Stimme aus dem finstersten Winkel meines Bewusstseins.

– Nein, die Frage ist, ob er überhaupt jemanden lieben kann – kam die heisere Stimme eines Psychiaters aus einer anderen Ecke.

– Er liebt sich, er liebt nur sich. Sich selbst! – krächzte eine neue, unbekannte Stimme.

– Sich selbst noch am wenigsten – stellte der Psychiater endgültig klar.

Die Stimmen verfolgen mich, seit sie mich verlassen hat. Ich hatte es noch ein paar Monate in Oslo ausgehalten, wo ich an der Uni arbeitete, aber dann hatte ich gegen Ende des Wintersemesters den Rucksack gepackt, das ganze Geld vom Konto abgehoben und war nach Brasilien geflüchtet. Ich irrte eine Zeit lang ohne bestimmtes Ziel umher, um mich nach ein paar Monaten in Morro do São Paolo im Norden des Landes einzunisten. Dort verliebte ich mich in ein Mädchen, das so etwas wie eine Doppelgängerin meiner Ex war. Als ich sie zum ersten Mal sah, konnte ich es kaum glauben. Die gleiche hohe Stirn, die gleichen frechen Augen, die vollen Lippen, der biegsame Körper, der sich im Takt der Musik bewegt, und der gleiche magere, fast nicht vorhandene Hintern. Nur dass sie eine Schwarze war. Wir liebten uns über zwei Monate, und die Stimmen in mir verstummten. Schon fing ich an zu fantasieren, sogar zu planen, für immer auf der Insel zu bleiben. Ich sah schon einen Haufen dunkelhäutiger Kinder vor mir, wie sie einander auf den endlosen Sandstränden jagen. Und dann kam sie eines Tages ganz verweint an und sagte, sie müsse weiter. Sie erklärte mir unter Tränen, die aufrichtig zu sein schienen, dass ihr Mann im Gefängnis sitze und sie sich um ihre drei Kinder kümmern müsse, die in einem kleinen Städtchen im entlegenen Mato Grosso bei ihrer Mutter auf sie warten. Ich begriff nichts, ich versuchte sie mit Küssen und sanften Worten in schlechtem Portugiesisch zu beruhigen. Am Ende wurde sie von Hysterie gepackt, sie fing an zu schreien, wie widerlich Brasilien und wie dumm ich sei und dass ich dorthin verschwinden solle, woher ich gekommen bin. Als sie sich beruhigt hatte, verlangte sie Geld. Ich gab ihr, so viel ich hatte. Sie küsste mich, bedankte sich und ging.

Danach waren die Stimmen in meinen Kopf wieder da, und ich kehrte, nach weiteren Monaten des Umherirrens in Brasilien, nach Oslo zurück. An der Uni erwartete mich die Kündigung, weil ich mehr als ein halbes Jahr gefehlt und mich bei niemandem gemeldet hatte. Vielleicht hätte sich etwas machen lassen, Professor Pettersen, mein Mentor, mochte mich, aber es hatte keinen Sinn. Ich wusste, dass ich bei der ersten Gelegenheit, sobald ich genügend Geld zusammenhätte, wieder verschwinden würde.

Bis zum Herbst hielt ich es in Oslo irgendwie aus, zumeist den ganzen Tag arbeitend. Wenn es Arbeit gab, als Übersetzer, und wenn es keine gab, als Bauarbeiter. Im Herbst packte mich wieder die Unruhe, und so ging ich erneut weg, zuerst nach Kroatien, dann nach Bosnien. Ich dachte auch daran, wie es wäre, mich in die Save zu stürzen und einfach zu verschwinden, aber das ist nicht leicht. Dabei bin ich ausgerutscht und in den schlickigen Fluss gefallen.

3.

Damals, vor zwei Jahren, ließ ich die Save hinter mir. Ich ließ das Haus und die Straße und das Viertel hinter mir, in dem ich Kind gewesen bin, und mir selbst näher als zu irgendeinem Zeitpunkt danach. Ich ließ die zerfallenen Mauern hinter mir, die verdorrten Gärten, die Grabsteine und Gräber auf den ausgewaschenen Fluren.

Nach meinem Sturz in die Save verspürte ich immerhin eine vage Hoffnung. Ein armseliges, schwaches Flämmchen begann in mir zu glimmen. Ich wusste noch nicht genau, was ich tun würde, auch nicht wie, aber für den Anfang streifte ich mir die nassen Sachen vom Leib und zog mich um, setzte mich in Großvaters „Grünen Heinrich“, unseren Zastava 101, und fuhr in Richtung Split. Den Grünen Heinrich hatte mir Großvater im Testament hinterlassen. Kurz vor Mostar blieb er stehen und wollte nicht mehr. Daraufhin ließ ich ihn stehen, die Schlüssel im Zündschloss, marschierte mit dem Rucksack auf dem Rücken die Straße hinunter und versuchte es per Anhalter. Natürlich hielt niemand. Auf dieser Straße fahren die Leute wie die Verrückten.

Ein schönerer Schluss

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