Читать книгу REJ - Der spezielle Gefangene - Beli / Tanja Sorianumera / Giesecke - Страница 4
1 - Arzt oder Arsch
ОглавлениеAm Tag nach dem Prozess wurde der Gefangene zu einem Transporter gebracht und dort im Inneren innerhalb einer vergitterten Zelle fixiert. Rej, der die letzten Stunden damit verbracht hatte, darum zu kämpfen. um an der Oberfläche des Bewusstseins zu bleiben, sank in den Fesseln in sich zusammen. Er fühlte sich ausgelaugt und erschöpft, müde war gar kein Ausdruck dafür. Aber es war irgendwie beruhigend, endlich zu wissen, wie es nun weiterging.
Sechs Wochen würde er also im Hauptgefängnis von Xiantiao verbringen und wenn er diese Zeit auch nur irgendwie überstand, was er sich kaum vorstellen konnte, dann würde er öffentlich hingerichtet werden. Seine Zeitlinie würde spätestens durch die Vollstreckung des Urteils beendet werden, sein Kampf für die Song dann endgültig vorbei sein. Aber solange er wusste, dass seine Familie, angeführt durch seinen Bruder Shen To, weiter für ihre Sache kämpfen würden, war es ein erträgliches Schicksal. Und Rej hatte in der kurzen Zeit, seit er aus dem künstlichen Koma gerissen worden war, erleichtert feststellen können, dass sich sein kleiner Bruder in den letzten zwei Wochen zu einem guten und selbstsicheren Anführer entwickelt hatte. Auch Hanma Cerasela hatte den Jüngeren akzeptiert, und das bedeutete wirklich sehr viel.
Während der Fahrt fiel er immer wieder in einen Dämmerzustand, der die an seinen Kräften zehrenden Schmerzen ein wenig dämpfte. Er erwachte erst, als der Wagen endlich anhielt und die Türen von außen geöffnet wurden. Im starken Gegenlicht konnte er nichts von Draußen genauer erkennen. Er kniff die Augen zusammen und drehte den Kopf zur Seite, da die Helligkeit ihn blendete, das grelle Licht sich wie glühende Lanzen in seine Pupillen bohrte.
Mehrere Schatten beugten sich über ihn, zielten mit Waffen auf ihn, die Fixierungen, die ihn an Ort und Stelle gehalten hatten, wurden gelöst und er wurde empor gezerrt. Scheinbar hatte man immer noch nicht begriffen, dass er nicht dazu in der Lage war, selbst zu laufen. Man behandelte ihn wie einen normalen Häftling, aber Rej war es einfach nicht möglich, ihnen diesen Gefallen zu tun. Er spürte seine Beine über den Boden schleifen, seine nackten Füße auf dem Asphalt, aber er konnte sie nicht bewegen und auch nicht sein Gewicht mit ihnen abstützen.
Sie schleiften ihn, an den Oberarmen eingehakt, aus dem Fahrzeug und ignorierten, dass er vor Schmerzen stöhnte, als sich sein Rücken durch die grobe Behandlung verdrehte und sich ihre behandschuhten Finger in seine wunde verbrannte Haut unter den verrutschten Bandagen drückten.
Es waren nur wenige Meter im Freien, dann wurde er durch ein paar dunkle Gänge gebracht, die Arme noch immer mit einer metallenen Manschette auf den Rücken gefesselt. In einem etwas besser ausgeleuchteten Raum hielten sie schließlich für einen Moment an und jemand packte mit stahlhartem Griff sein Kinn und zwang ihn, seinen Kopf nach oben zu drehen. In Rejs Ohren rauschte das Blut, hämmerte durch seine Schläfen und riss seine Gedanken mit jedem Herzschlag in einzelne nutzlose Fetzen, aber ein paar der Worte seines Gegenübers drangen trotzdem zu ihm durch. Jedoch waren sie nicht direkt an ihn gerichtet, es waren nur weitere Befehle für die ShaoSetFai-Soldaten. "Bringt ihn zu Dr. Bianco. Aber lasst ihn nicht aus den Augen und lockert auf keinen Fall seine Fesseln. Es gilt die oberste Sicherheitsstufe. Unterschätzt dieses Monster bloß nicht."
Hätte er sich nicht so unendlich elend gefühlt, hätte Rej jetzt am liebsten laut gelacht. Ihn in diesem Moment zu unterschätzen kam einer wirklich schwierigen Aufgabe gleich. Denn der ehemalige Anführer der Song war nicht einmal in der Lage, seinen Kopf aus dem erniedrigenden Griff des Befehlsgebers zu befreien. Auch konnte er nicht erkennen, wie das Gesicht aussah, das vor seinen Augen schwebte und ihn vermutlich musterte.
Erneut wurde er weiter gezerrt, nochmal durch dunkle Gänge - er verlor völlig die Orientierung. Sein Richtungssinn konnte gerade noch ausmachen, wo oben und unten war. Schließlich hielten sie für einen Moment an, warteten, dann ging vor ihnen eine elektrische Doppelflügeltür auf. Vermutlich hatten sie gerade eine Schleuse passiert.
"Dr. Bianco, hier ist der spezielle Gefangene, den Sie sich ansehen und die nächsten Wochen betreuen sollen."
Es ertönte ein schnarrendes Signal, dann ging das automatisierte Schleusentor zu beiden Seiten auf und sechs ShaoSetFai-Soldaten kamen auf die Krankenstation gestapft. In ihrer Mitte hatten sie einen Mann, der wohl eigentlich von großer Statur war, allerdings völlig verkrümmt in sich zusammengesunken war. Noah legte den Bericht zur Seite und musterte den Neuankömmling von oben bis unten. So sah also der gefasste Anführer der Terrorgruppe "Song" aus. Erst hatte er von seiner Festnahme in den Nachrichten gehört, dann hatte man ihn informiert, dass der Mann in das Staatsgefängnis verlegt werden sollte und er eine spezielle medizinische Versorgung benötigen würde. Und Dr. Noah Bianco sollte sich darum kümmern. Für diesen Nachmittag hatte der junge Arzt extra alle Termine abgesagt, um sich Zeit für die Ankunft des Song-Kommendans zu nehmen und bei dessen Aufnahme nicht gestört zu werden. Und irgendwie hatte er sich da diesen Mann noch anders vorgestellt.
Der Terror der Song verbreitete Angst und Schrecken. Die Medien berichteten immer wieder von ihren Taten, die die Regierung torpedierten und den Komfort des Alaver-Bezirks ThanaVelu beeinträchtigten. Auch hatten sie schon unbeteiligte Opfer gefordert. Das Bild, dass er aus den Nachrichten kannte, welches auch Rej Lio'Tas Akte zierte, die er gerade auf das Bord neben sich gelegt hatte, war in Noahs Kopf verbunden mit einem harten, entschlossenen und vor allem gefährlichen und bösen Mann. Einem Mann, der vermutlich lachte, wenn er hörte, dass es zivile Opfer gegeben hatte.
Zwar hatte der Arzt gehört, dass die Videoaufnahmen der Verhandlung vom Vortag nicht den erwünschten Effekt bei der Bevölkerung erzielen hatten können, immerhin hatte der Song-Kommendan in aller Öffentlichkeit seine Schuld an den unschuldigen Opfern eingeräumt, sich zudem als dazu verantwortlich bekannt und auch dazu bereit, die Konsequenzen dafür zu tragen. Aber Noah selbst hatte die Aufnahmen nicht gesehen. Vielleicht auch, weil er befürchtete, dann einen Funken Sympathie für den Mann zu empfinden. Und für ihn sollte Rej Lio'Ta das personifizierte Böse bleiben.
Doch als der Song nun vor ihm, völlig verkrümmt und mit Schmerzverzerrtem Gesicht, in dem Schraubstockartigen Griff der ShaoSetFai hing, begann die Vorstellung des ultimativen Bösen in Noah zu schwanken, das Bild zu bröckeln. In der Akte hatte er von den verheerenden Verletzungen erfahren, mit denen sie den Mann aufgegriffen hatten. Einige noch nicht ausgeheilte Knochenbrüche, Verletzungen des Rückenmarks und schwere teilweise auch innerliche Verbrennungen. Auch, dass der Song-Kommendan nur noch eine Niere und einen Lungenflügel besaß, war dort notiert gewesen. Trotzdem hatte die Vorstellung bis jetzt nicht in das Bild gepasst, dass sich der Doktor von dem Terroristenanführer gemacht hatte.
Nun sah er jedoch mit einem Blick, dass dieser Mann keinerlei Gefahr darstellte. "Bringen Sie ihn her", hörte sich Noah zu den ShaoSetFai sagen und deutete mit dem Plastift, einem nützlichen Multifunktionswerkzeug, auf die Diagnoseliege. Die Soldaten rührten sich nicht, stattdessen wollte der Gruppenleiter widersprechen. "Der Direktor hat die höchste Sicherheitsstufe bei dem speziellen Gefangenen angeordnet. Keine Abnahme der Handschellen außerhalb der Zelle."
Noch einmal ließ der Arzt seinen Blick über den in sich zusammen gefallenen Körper des Sträflings gleiten, dann schüttelte er entschieden den Kopf. "Sehen Sie nicht, der Mann kann doch nicht mal stehen. Legen Sie ihn hier auf die Liege. Wir passen schon auf. Die Fesseln bleiben ja dran."
Das schien dem XSF-Kommandanten zu genügen. Die Soldaten setzten sich in Bewegung und brachten Rej Lio'Ta zu der Liege. Sie hoben ihn hinauf und Noah half dabei, ihn auf die linke Seite zu drehen, da seine Hände auf dem Rücken mit einer Manschette zusammen gebunden waren. Er fixierte den Kopf mit einem Kissen und winkelte seine Beine leicht an, so dass der Körper nicht nach vorne kippte. Der Arzt beobachtete, wie sich das Gesicht des Gefangenen ein wenig entspannte, als der Zug auf seinen geschundenen Rücken endlich nach ließ.
"Schon in Ordnung. Sie können gehen", meinte er zu den ShaoSetFai und unterstützte seine Worte mit einer scheuchenden Geste. Die Situation war allein durch ihre Anwesenheit um einiges angespannter, als sie hätte sein müssen, und dadurch auch unberechenbarer und gefährlicher. Noah mochte es überhaupt nicht, die Wachposten auf seiner Krankenstation zu haben.
Der XSF-Kommandant streckte ihm auf einem elektronischen Klemmbrett ein Dokument entgegen. "Für die Übergabe brauchen wir noch eine Unterschrift." Noah griff nach dem Block und kritzelte mit dem Plastift seinen Namen irgendwo in die Tabelle. Dann verstaute er das Schreibgerät in seiner Brusttasche und wartete darauf, dass die Soldaten die Krankenstation verließen.
"Zwei meiner Leute sind gleich vor der Tür, Dr. Bianco. Falls Sie Hilfe benötigen, sind sie sofort zur Stelle." Der Arzt nickte das Angebot ab und beobachtete, wie die sechs ShaoSetFai den Raum verließen. Diese waren vielleicht geschult und dazu in der Lage, Gefahrenpotentiale einzuschätzen, aber sie hatten nicht das nötige medizinische Know-How, um zu erkennen, dass von Rej Lio'Ta wirklich keinerlei Bedrohung ausging. Der desolate Zustand des Häftlings half Noah dabei, Abstand zu seiner zuvor gemachten Vorstellung von dem Terroristen zu gewinnen. Vor ihm lag ein Gefangener, wie die anderen herkömmlichen Schwerverbrecher hier auch. Und dieser spezielle Gefangene war, so schwer es unter den Gesichtspunkten des Terrors, der von ihm ausgegangen war, auch zu akzeptieren war, in erster Linie ein Mensch.
Als die Schleusentore sich geschlossen hatten, beugte er sich über Rej Lio'Ta und musterte sein Gesicht, spulte dann seine Begrüßungsrede ab. "Sie befinden sich hier im Staatsgefängnis von Xiantiao auf der Krankenstation. Jeder neue Häftling kommt erst einmal zu mir. Ich bin Dr. Noah Bianco, der leitende Mediziner hier. Zuallererst werde ich die Aufnahme hier durchführen, Sie gründlich untersuchen. Im Anschluss werden Sie dann zu Ihrem Zellenblock überstellt. In Ihrem speziellen Fall werden wir uns täglich hier sehen, da Sie medizinische Leistungen benötigen. Sie können sich an mich wenden, wenn Sie gesundheitliche Schwierigkeiten oder Probleme haben oder bekommen sollten. Auch wenn Sie psychologische Unterstützung benötigen, kann ich Ihnen innerhalb eines gewissen Rahmens ein Ansprechpartner sein. Sie können sich mit jeglichen Fragen an mich wenden. Durch Ihren körperlichen Zustand erhalten Sie das Recht, jederzeit auf die Krankenstation gebracht zu werden, wenn Sie medizinische Leistungen benötigen. Außerdem sind spezielle Haftverschärfungen für Sie ausgeschlossen."
Noah war sich nicht einmal sicher, ob der Gefangene ihm zuhörte. Seine müden blauen Augen waren unfokussiert, auf einen Fleck in der Ferne gerichtet, seine Atmung ging ruhig. Auch das hatte der Mediziner in der Akte über den Song-Kommendan gelesen: Er hatte eine starke Einschränkung der Sehkraft durch schwere Nervenschäden erlitten. Dass der Mann ihn nicht ansah bedeutete also nicht, dass er ihn absichtlich ignorierte. "Verstehen Sie mich, Herr Lio'Ta?", fragte er deshalb deutlich. "Können Sie mir folgen?" Er wusste nicht, wie grob sie mit dem Gefangenen beim Transport umgegangen waren und ob er überhaupt bei vollem Bewusstsein war.
"Ich verstehe Sie", antwortete der Häftling matt. Noah nickte, mehr für sich selbst, als für sein Gegenüber. "Gut." Er machte einen Bogen um die Liege und öffnete dann mithilfe seines funkgesteuerten Armdisplays die Fesseln an Rejs Handgelenken. "Erschrecken Sie bitte nicht", meinte Noah ruhig, als er die Handgelenke des Gefangenen berührte, um die Handschellen zu lösen. "Ich mache Sie jetzt los. Bitte tun Sie mir den Gefallen und rühren sich nicht, solange ich es nicht von Ihnen verlange. Ich möchte nicht die ShaoSetFai rufen müssen." Der Song-Kommendan gab mit einem knappen Nicken seine Zustimmung.
Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Noah sich in Gefahr gebracht hatte, weil er das Gefahrenpotential der Häftlinge falsch eingeschätzt hatte. Aber diese taten sich damit selbstverständlich keinen Gefallen. Das Schlimmste was dem Medic dabei bis jetzt passiert war, waren ein blaues Auge, eine aufgeplatzte Lippe oder ein paar Prellungen gewesen, doch für den Regelüberschreitenden Häftling bedeutete ein Übergriff auf den Arzt unangenehme Haftverschärfungen und harte Strafen.
Vorsichtig hob er den rechten Arm des Gefangenen von dessen Rücken und legte ihn nach vorne. Obwohl seine schweren Verbrennungen von silbern beschichteten Mullbinden bedeckt waren und der Arm in einer Schiene steckte, war zu erkennen, dass sich Elektrizität verheerend auf die Gliedmaße ausgewirkt hatte. Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger, die nicht von dem Verband verdeckt waren, waren wie zu einer Klaue verkrampft und lila und blau angelaufen. Die Fesseln des Obersten Gerichtes von Xiantiao hatten sicherlich nicht zur Besserung des Zustandes beigetragen. Vermutlich hätte man ihm den Arm durch einen Cyberarm ersetzt, wenn er kein Gefangener mit Todesurteil gewesen wäre.
"Ich werde Sie jetzt kurz scannen, bitte halten Sie still." Noah zog einen Roboterarm, der an einem Gerätebaum neben der Liege hing, heran und schob ihn über den Kopf des Gefangenen. Auf einem Display stellte er die Parameter 'Larca', das Alter von dreißig Jahren, die ungefähre Größe, den Name des Patienten und die Häftlings-Identifikations-Nummer ein und schickte den Scanner dann auf seinen Weg. Das Diagnosegerät umkreiste die Liege auf mehreren Bahnen und zeichnete dabei den körperlichen Zustand des Inhaftierten auf. Als es wieder zurück auf seinem Posten einrastete, warf der Medic einen knappen Blick auf die Uhr, dann speicherte er die erfassten Daten ab und warf einen groben Blick darüber. In der Akte, die man ihm für den speziellen Patienten vom Gericht übergeben hatte, waren die Verletzungen nach Sicht zwar grob zusammengefasst gewesen, aber das Diagnoseaggregat war sehr viel akkurater und Noah wollte sich nicht auf ungenaue Angaben der ShaoSetFai verlassen.
Die Schadstoffwerte im Blut waren stark erhöht, der Gefangene benötigte eine Blutwäsche, um die ganzen Abbauprodukte, die durch die Heilung der Verbrennungen entstanden, herausgefiltert zu bekommen. An den Kaliumwerten sah der Mediziner, dass Rejs Niere zu schwach war, um diese Leistung zu vollbringen. "Sie brauchen Dialyse", erklärte er dem Mann vor ihm. "Danach werden Sie sich ein wenig besser fühlen. Aber dafür müssen Sie jeden Tag hier her kommen. Bis Ihre Organe diese Funktion wieder übernehmen können. Oder bis..." Noah hielt inne. Er wollte es seinem Gegenüber nicht unter die Nase reiben, dass er ein Todeskandidat war, der auf seine Hinrichtung in sechs Wochen wartete. "Bis...", versuchte er den Satz anders zu beenden, aber es fiel ihm nichts passendes ein.
"Schon in Ordnung", meinte der Häftling müde. "Bis ich zu Tode geschockt werde. Dann brauch' ich keine funktionierenden Organe mehr."
Noah verzog das Gesicht. Er erinnerte sich selbst nur ungern an die Ereignisse, wo er selbst mit einem Elektroschocker malträtiert worden war. Dass man dem Song-Kommendan nicht die mildere Strafe des Todes durch eine Giftinjektion gewährt hatte, lag vermutlich daran, dass er als Staatsfeind der Xiantiao-Regierung galt. Und zudem keinerlei Informationen über das weitere Vorgehen der Song unter Shen To preisgegeben hatte.
"Warum machen Sie sich eigentlich die Mühe, mich unter diesen Umständen einzuknasten? Warum werde ich erst in sechs Wochen getötet?", stellte der Gefangene die nicht irrelevante Frage. Wie der Medic es von den Videos aus der Gerichtsverhandlung gehört hatte, schien der Terrorist seinem Ende tatsächlich sehr gefasst entgegen zu blicken. Aber mit diesem zerstörten Körper war der Tod vielleicht auch eher eine willkommene Erlösung denn eine Strafe.
"Verstehen Sie mich nicht falsch, Dr. Bianco", setzte Rej Lio'Ta fort und schloss durch seine weiteren Worte Noahs soeben erstellte Theorie sofort wieder aus, "ich hänge an meinem Leben. Aber für die LAAN ist das doch ein unnötiger Aufwand. Ein hoher Kostenfaktor."
Noah erinnerte sich daran, dass man ihn nicht nur einmal vor dem Widerstandskämpfer gewarnt hatte. Der spezielle Gefangene habe eine gefährliche Art, Konversation zu führen. Zu leicht ließe man sich in seine Welt, in seine Sicht der Dinge ziehen, wechselte, ohne es zu merken ganz langsam die Seiten. Der Arzt musste auf der Hut sein, wenn er es weiter dulden wollte, dass der Gefangene so viel sprach. Auf der anderen Seite war er als leitender Gefängnismediziner auch dazu hier, um die psychologische Komponente für die Häftlinge abzudecken, insbesondere, wenn sie krank oder verletzt waren. Aber den Abstand zu wahren, war ihm auch schon bei anderen Klienten ganz gut gelungen. "Sie sind hier, weil Sie den ShaoSetFai noch nicht ihre Fragen beantwortet haben. Aufgrund Ihres körperlichen Zustandes sind Sie nicht in der Lage, für Ihre Unterbringung und Nahrung zu arbeiten. Aber auch so wird der Aufenthalt für Sie hier kein Zuckerschlecken. Denn die ShaoSetFai werden Sie täglich zu den Befragungen abholen. Die LAAN ist sich sicher, sechs Wochen werden reichen, um an die benötigten Informationen zu gelangen. Danach sind diese auch nicht mehr all zu viel wert. Und Sie damit auch nicht mehr."
Der Gefangene lachte bitter. "Das haben die sich aber schön überlegt. Da bin ich gespannt, wer den längeren Atem behält."
"Sie, mit nur einem Lungenflügel? Dann sicherlich die ShaoSetFai", rutschte es dem Medic unüberlegt heraus und Rej lachte erneut. "So gesehen... haben Sie vermutlich recht."
Im selben Moment erklang erneut das schnarrende Geräusch von der großen Tür, dann setzten sich die Torflügel in Bewegung und zwei der ShaoSetFai tauchten in der Schleuse auf. Sie eskortierten einen Mann, der in der fürs Hauptgefängnis üblichen orange-schwarzen Gefängniskleidung steckte. Er hatte freundliche braune Augen, eine markante Nase, die aber gut in sein Gesicht passte und einen zu einem verschmitzten Lächeln verzogenen Mund. Das halblange dunkelbraune Haar hatte er sich lässig aus dem Gesicht gekämmt, allgemein machte er einen sehr gelassenen Eindruck, obwohl seine Arme mit einer Manschette auf den Rücken gefesselt waren.
"Hallo, Dr. Bianco", rief der Neuankömmling fröhlich durch die Krankenstation. "Die netten Herren wollten auf die Fesseln nicht verzichten. Bitte verzeihen Sie meine Verspätung."
"Sie können mir Herrn Bjantiya hier lassen", forderte Noah die Soldaten auf, welche sich augenblicklich wieder versteiften und den Gefangenen in ihrer Mitte etwas fester packten. Der Häftling verzog das Gesicht zu einem noch schieferen Grinsen. "Die sind heute einfach so ungemütlich. Ich weiß auch nicht, weshalb."
"Ruhe!", wurde er unwirsch von einem der ShaoSetFai angeblafft. "Unterschreiben Sie hier das Übergabeprotokoll, Doktor Bianco. Wollen Sie wirklich mit zwei der Insassen in einem Raum alleine bleiben?" Unter dem maskierten Gesicht sah Noah, wie der Soldat die Stirn runzelte. Die XSF waren heute tatsächlich etwas unentspannt. Wahrscheinlich lag es an dem speziellen Gefangenen. Vielleicht wollten sie in seiner Gegenwart besonders hart und unbeugsam wirken. Der Doktor zückte erneut seinen Plastift und quittierte das digitale Formular mit seinem Namenszug. "Herr Bjantiya hat vielleicht ein etwas loses Mundwerk, aber er riskiert es sicherlich nicht, seine vorzeitige Haftentlassung in einem halben Jahr zu gefährden, indem er mir hier eine überbrät. Davon hätte er absolut keinen Nutzen." Er packte den braunhaarigen Mann am Arm und zog ihn aus der Schleuse. "Sie können wieder gehen", ließ er die Wärter unhöflich wissen. "Und draußen vor der Türe herumstehen. Die hier machen wir erst einmal ab." Er wandte sich den Handschellen des Neuankömmlings zu und löste sie durch eine Codeeingabe am dort angebrachten Display. "Absolut sinnlos", murmelte er vor sich hin und legte die Fesseln zur Seite, schenkte den Soldaten keine weitere Beachtung mehr.
Gemeinsam gingen sie zurück zu der Liege, auf der der spezielle Gefangene nur mit angehört hatte, was im Schleusenbereich vor sich gegangen war, und Noah schob den anderen Häftling in Rejs Blickfeld. "Das hier ist Sajan Bjantiya. Er ist ebenfalls ein Insasse hier. Er wird Sie die nächsten sechs Wochen begleiten."
Der mit dem Namen 'Sajan' vorgestellte Mann streckte dem Song-Kommendan die Hand entgegen, ließ sie dann aber wieder sinken, als er seinen schlecht bandagierten und geschienten rechten Arm sah.
"Ich habe die letzten vier Jahre im West gesessen", erzählte er stattdessen in entspanntem Tonfall. "Da ich, bevor ich dort gelandet war, als Pflegekraft gearbeitet hatte, hat man mir das Angebot gemacht, mir ein Jahr Haft zu erlassen, wenn ich mich die nächsten sechs Wochen um Sie kümmere. Ich fand das sei ein faires Angebot." Er ging in die Hocke, um sich mit dem ehemaligen Terroristenanführer auf Augenhöhe zu begeben. "Drum wurde ich gestern hier her verlegt. Ich habe mich mit Dr. Bianco schon ausgetauscht und mich mit den Gegebenheiten des Traktes hier vertraut gemacht."
Noah beobachtete argwöhnisch, doch neugierig, den Blickwechsel zwischen den beiden Männern. Er war sich nicht sicher, ob der neue Gefangene sich darauf würde einlassen können. Wenn der Funke übersprang und sich die zwei einigermaßen verstanden, dann würde es ihm die Arbeit ungemein erleichtern.
"Sie sind ganz schön zugerichtet, Rej. Ich darf Sie doch 'Rej' nennen?", fragte der braunhaarige Mann geradeheraus und Rej Lio'Ta nickte. "Rej? Ja", antwortete er knapp.
"Mich können Sie 'Sajan' nennen. Doktor Bianco nennt mich 'Herr Bjantiya', das geht auch, aber so förmlich muss es nicht sein." Der vor ihm liegende signalisierte mit einem Blinzeln sein Einverständnis. Der Krankenpfleger hob seine Hand auf Rejs Augenhöhe und streckte seine Finger in seine Richtung. "Ich werde Sie anfassen müssen, Rej", erklärte er behutsam. "Es wird ungewöhnlich für Sie sein, zu Beginn vielleicht auch unangenehm, aber daran werden Sie sich schnell gewöhnt haben. Und ich versichere Ihnen, ich passe gut auf Sie auf. Wenn Sie Schmerzen haben, müssen Sie mir das sofort sagen, oder irgendwie signalisieren. Wenn Ihnen etwas unbequem ist, dann äußern Sie auch das bitte. Ich werde versuchen, Ihnen so gut wie möglich zu helfen."
Noah war sich nicht sicher, aber er glaubte. so etwas wie Unbehagen unter einer vorgeschobenen Maske von Gelassenheit bei dem Widerständler zu erkennen. Dass ihm ein Fremder so nahe kam und dabei um Erlaubnis bat, war etwas, dass er wohl nicht kannte. Es schien so, als sei ihm die Art von Kontakt unangenehmer, als die grobe ungefragte Behandlung durch die ShaoSetFai. Doch der Gefangene nickte schließlich erneut und gab dem Pfleger seine Zustimmung. "Ich werde Sie jetzt berühren, ok?", erklärte Sajan seine nächste Handlung. Langsam streckte er seine Hand nach dem Song-Kommendan aus und legte sie ihm dann sanft auf seinen Unterschenkel. Der Medic war am Vortag mit ihm die in der Gerichtsakte notierten Verletzungen des speziellen Gefangenen durchgegangen und so wusste Sajan, wo er diesen berühren konnte, ohne ihm Schmerzen zuzufügen. "Gut", führte er weiter aus, "spüren Sie das?"
"Ja", antwortete Rej leise. Der Pfleger hatte eine Art an sich, die den Gefangenen verletzlich und nachdenklich werden ließ. Hatte der Widerständler zuvor sogar noch über seine eigene Hinrichtung lachen können, wirkte er nun von der Sanftheit und Zugewandtheit extrem eingeschüchtert. Sajan erhöhte ein wenig den Druck auf dessen Bein, um ihm die Möglichkeit zu geben, sich besser auf den ungewohnten Körperkontakt einzustellen. "Sie spüren die Berührung an Ihrem Bein, aber Sie können Ihre Beine nicht bewegen?", fragte er währenddessen interessiert nach. Noah beobachtete neugierig, wie Sajan mit dem Verletzten umging. Er erinnerte sich daran, dass es auch mal eine Zeit gegeben hatte, in der er einfühlsam mit seinen Patienten umgegangen war. Allerdings erschien es ihm wie eine Ewigkeit, wie aus einem anderen, weit entfernten Leben. "Teile seines Rückenmarks wurden verbrannt und das Nervensystem dabei schwer geschädigt", beantwortete der Medic für den Gefangenen die Frage. "Herr Lio'Ta wird nie mehr laufen können. Helfen würde möglicherweise nur eine Nervenrekonstruktion oder ein elektronischer Ersatz, aber das rentiert sich für ihn nicht mehr."
Die beiden Häftlinge warfen Noah einen überraschten Blick zu, dann sahen sie sich gegenseitig verdutzt an. "Das hat er jetzt nicht wirklich gesagt, oder?", fragte Sajan entsetzt den vor ihm liegenden und seine Augen wanderten zwischen den beiden Männern irritiert hin und her. Die Augen des Doktors hatten sich geweitet und er hob die Hand erschrocken zum Mund. Es war ihm fürchterlich unangenehm, dass er erneut so taktlos vor sich hin geredet hatte. Vielleicht arbeitete er schon zu lange für solche Einrichtungen.
"Der Punkt geht wieder an Sie, Doktor", meinte Rej aber nur lächelnd. "Das rentiert sich wirklich nicht mehr." Durch seinen Fauxpas schien der Terroristenanführer wieder zurück zu seiner gelassenen Selbstsicherheit gefunden zu haben und das machte es für Noah nicht ganz so peinlich und er lächelte unglücklich zurück. "Ich mache das nicht mit Absicht", versicherte er.
"Na wunderbar", meinte Sajan ebenfalls grinsend und nahm seine Hand vom Bein des anderen Gefangenen. "Dann packen wir mal an." Er stand auf und trat an das Kopfende der Liege, schob den Roboterarm des Scanners zur Seite, als fühle er sich hier gänzlich zuhause. Noah desinfizierte sich die Hände und zog sich dann Handschuhe über.
"Ich werde jetzt mal einen Blick auf ihre Wunden werfen, Herr Lio'Ta", kündigte er an und zog sich einen Stuhl heran. "Die Verbände sehen nicht mehr gut aus. Die wurden jetzt wie lange nicht mehr gewechselt? Hat sich da irgendjemand während Ihres Aufenthaltes im Gerichtsgebäudes darum gekümmert?"
Der ehemalige Anführer der Terrorgruppe schüttelte den Kopf. "Seit meiner Festnahme nicht mehr." Er wirkte nun wie ein verwundetes Tier, dass in die Enge getrieben worden war, als sich die zwei Männer von beiden Seiten näherten. Auch der Pfleger zog sich Handschuhe über, als er jedoch Rejs Skepsis bemerkte, suchte er erneut den direkten Blickkontakt zu ihm. "Sicherlich, es wird weh tun, aber es ist notwendig, Rej, und danach werden Sie sich besser fühlen. Sie sind ein harter Kerl und Sie haben schon Schlimmeres überstanden."
Noah nickte Sajan zu und dieser reichte ihm eine Schere. "Als erstes werden wir Sie von Ihren Kleidern befreien. Im Anschluss bekommen Sie dann sowieso die Häftlingskleidung. Halten Sie bitte still." Er nahm den grauen Stoff des schmutzigen Pullovers zwischen die Finger und begann ihn behutsam an der Vorderseite aufzuschneiden. Der andere Mann hob währenddessen so vorsichtig wie möglich den geschienten Arm ein Stückchen an, um dem Arzt mehr Bewegungsspielraum für die Schere zu geben. Der Patient schien allein schon durch die veränderte Position des Armes verstärkt Schmerzen zu verspüren, aber mit eiserner Miene hielt er sie zurück. Noah trennte den Stoff vom Kragen am Ärmel entlang bis zum Handgelenk auf und sein Helfer zog das zerschnittene Kleidungsstück zur Seite. Darunter kamen Haufenweise Verbände zum Vorschein, die den rechten Arm, die Schulter und große Teile des Torsos, besonders auf der rechten Seite, bedeckten. Die Haut, die dazwischen hervor schien, war teilweise stark gerötet, Leichenblass, oder schimmerte in allen Farben von Blutergüssen und Hämatomen. Die Bandagen waren an einigen Stellen verrutscht, saßen nicht mehr fest an Ort und Stelle, oder hatten sich zusammengeschoben und schnitten unangenehm in die Haut ein. Eiter und Blut hatte sie bräunlich gefärbt und starr werden lassen. Die Schiene an seinem Arm saß ebenfalls nicht mehr richtig und erfüllte auch nicht mehr ihren Zweck.
Der Medic verzog das Gesicht. "Das muss ja weh tun", meinte er einfühlsamer, als er es sonst von sich selbst kannte. "Diese Verbände richten mehr Schaden an, als dass sie was nutzen." Er legte die Schere zur Seite und machte sich dann langsam an dem Verschluss der Armschiene zu schaffen. Vorsichtig zog er das nutzlose Plastikteil von Rejs Arm und legte die darunterliegende silberbeschichtete Wundauflage frei. Als die beiden Männer begannen, die antiseptischen Verbände von der verbrannten Haut zu lösen, drückte der Verletzte sein Gesicht in das Kissen unter sich, um sich selbst am Schreien zu hindern. Noah hatte schon einige Brandwunden gesehen, hatte auch am eigenen Leib schon spüren müssen, wie schmerzhaft diese sein konnten, aber so etwas hatte er bis jetzt noch nicht vor die Augen bekommen. Der Unterarm war bis zu dreißig Prozent verkohlt, vom Rest war die Hälfte mit tiefen Verbrennungen übersät, der Ringfinger und der kleine Finger sowie deren Mittelhandknochen fehlten völlig. Der Mediziner, der sich vor Lio'Tas Festnahme um die Wunden gekümmert hatte, hatte zudem einige der Muskeln komplett entfernt und versucht, das tote Gewebe vom noch zu Rettenden zu trennen. Aber durch die groben Behandlungen der letzten Tage bei Gericht, wo wenig Rücksicht auf den bedenklichen Zustand des Gefangenen genommen worden war, war kaum Heilung eingetreten.
"Ohne den Arm wäre er wahrscheinlich besser dran", murmelte Noah vor sich hin, als er die zerstörte Gliedmaße begutachtete. "Die Nekrose vergiftet noch seinen Körper. Aber ich darf hier keine Amputation vornehmen. Das muss auch so gehen."
Sie spülten die verbrannte Haut und versorgten sie dann mit einer hochwertigen silberbeschichteten Wundauflage. Noah schüttelte immer wieder den Kopf. Ihn beschäftigte der Gedanke, dass sich niemand, während der Prozess gegen den Terroristenanführer noch gelaufen war, um den Gesundheitszustand des Angeklagten gekümmert hatte. In diesem Fall wäre ein Freispruch oder ein Justizirrtum höchst unwahrscheinlich gewesen, aber er fragte sich, ob in anderen, weniger klaren Fällen ebenso menschenverachtend mit den Angeklagten umgegangen wurde.
Sajan war ihm eine große Hilfe. Er wusste genau, wo er unterstützend hin greifen musste und wie er die Belastungen für den geschundenen Körper des Mithäftlings am geringsten halten konnte. Der XSF-Medic passte diesem eine neue, besser sitzende Armschiene an, die am Ellenbogen abgewinkelt war und das übriggebliebene Gewebe zusammen hielt. Als er sich den bandagierten und gestützten Arm betrachtete, war er sehr zufrieden mit der Arbeit. Wenn die Bandagen regelmäßig gewechselt und die Wunden sauber gehalten wurden, dann bestand zumindest die Möglichkeit, dass sich ein Teil des Gewebes wieder regenerierte. Dann legten die beiden erst einmal eine Pause ein und säuberten ihre Hände, wechselten die Handschuhe. Der Gefangene konnte die Zeit nutzen, um sich von der Pein zu erholen.
Sajan ging erneut vor ihm in die Hocke und legte ihm behutsam die Hand auf das selbe Bein wie vorhin. "Sie haben es bald geschafft", versicherte er dem Patienten mit ruhiger Stimme. "Sie halten sich gut, Rej. Das sind wirklich üble Verletzungen, aber wir kriegen das in den Griff, ok?"
Das Gesicht des ehemaligen Song-Kommendan war bleich und wächsern, der Gesichtsausdruck der einer starren Maske. "Ok", keuchte er. Seine Stimme war schwach und zittrig.
"Normalerweise gibt man für so eine Prozedur Schmerzmittel", meinte Noah zu den beiden, "aber mir wurden hierfür keine Tranquilizer genehmigt. Da sind mir die Hände gebunden." Sajan nickte mit besorgter Miene, in seinen Augen spiegelte sich Betroffenheit.