Читать книгу REJ - Der spezielle Gefangene - Beli / Tanja Sorianumera / Giesecke - Страница 7

4 - Erniedrigung und der Gnom

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Scheinbar war er eingeschlafen, denn er erinnerte sich nicht mehr an die letzte halbe Stunde, aber nun rüttelte Sajan sanft an seiner Schulter. Er schlug die Augen auf und sah verschwommen das Gesicht seines Zellengenossen über sich. "Der Mittagsappell ist in wenigen Minuten. Sehen Sie zu, dass Sie die Augen auf kriegen." Rej blinzelte ein paar Mal und sah sich dann zur Orientierung um. Er registrierte die weißen gemauerten Wände, das grelle Licht, das von der Wandlampe ausging, die Atemmaske, die ihm Sajan wohl wieder über die Nase geschoben hatte, als er eingeschlafen war, die Schmerzen, die durch seinen Körper pulsierten. Dann wich der Schleier der Träume gänzlich von seinem Verstand und er erinnerte sich, dass er sich im Gefängnis von Xiantiao befand.


"Ich bin hier", gab er dem Mitgefangenen zu verstehen und zwang sich dazu, die Augen offen zu halten. Er hatte einen schalen Geschmack im Mund, auch Hunger meldete sich mit einem ziehenden Gefühl in seinem Magen. Er streckte Sajan den Arm entgegen und dieser half ihm, sich aufzurichten. Einen Augenblick wartete der, bis sich sein Kreislauf an die Positionsveränderung gewöhnt hatte, dann hob er ihn zurück in den Rollstuhl und schnallte ihn fest. Rej verspürte noch immer starken Widerstand dabei, aber er fühlte sich zu matt, um sich erneut auf eine Diskussion darüber einzulassen. Der Schlaf hatte ihm gut getan, aber auch den Eindruck hinterlassen, dass er noch sehr viel mehr davon gebraucht hätte.


Nur wenig später waren Schritte von schweren Stiefeln auf dem Gang zu hören, die auf Höhe ihrer Zelle anhielten und dann hämmerte jemand mit einem Stock gegen die Gitterstäbe an die Tür. "Mittagsappell!", bellte einer der ShaoSetFai zu ihnen herein, dann wurde die Türe aufgeschlossen und geöffnet.


"Alles klar, nur die Ruhe", quasselte Sajan mit ruhiger Stimme auf die angespannten Wärter ein. "Wir sind schon auf dem Weg."


"Ruhe!", wurde er rüde zurecht gewiesen. "Auf den Wegen ist absolutes Sprechverbot!" Der dunkelhaarige Mann hob beschwichtigend die Hände und schob dann den Rollstuhl auf den Gang hinaus. Rej verdrehte die Augen. Es erschien ihm alles so hirnrissig und bescheuert. Wozu sollte diese Regelung gut sein? Aber da er die Regeln nicht machte und auch nichts an ihnen ändern konnte, akzeptierte er sie für den Moment.


Draußen vor der Türe mussten sie stehen bleiben und warten. Während zwei der ShaoSetFai bei ihnen stehen blieben, traten zwei weitere in das Innere ihrer Zelle und begannen routiniert einmal grob alles abzusuchen. Rej wollte fragen, was das sollte, erinnerte sich aber an das Sprechverbot. Als die Soldaten damit fertig waren, wurde die Zelle abgeschlossen, dann schubste man Sajan ans Ende des Ganges zu einer breiten Treppe - der hatte Mühe, den Rollstuhl auf dem Weg zu halten. Dort war nicht, wie erwartet, eine Aufzugkabine, die sie in ein anderes Stockwerk brachte, nein, der Pfleger musste seinen Mithäftling die Treppe hinunter tragen. Da die ShaoSetFai äußerst ranzig wirkten, viel zu angespannt und nervös in seiner Gegenwart, machte Rej keine Umstände und half mit, als Sajan ihn aus dem Rollstuhl hob. Einer der Wärter trug das Transportvehikel nach unten.


Über die breite Treppe kamen sie ein Stockwerk tiefer, doch die Doppelflügeltür zu ihrer linken blieb genauso verschlossen, wie die zu ihrer Rechten. Sajan trug ihn noch ein weiteres Stockwerk hinab, unten setzte er den bewegungsunfähigen Mann zurück in den Rollstuhl und zog die Schnallen, die ihn an Ort und Stelle hielten, wieder fest.


Direkt vor ihnen befand sich ein Gitter mit einem verschlossenen Durchlass und Rej war sich nicht sicher, ob er den Ort nicht doch schon mal gesehen hatte. Er vermutete, dass sich dahinter die Schleuse zu Dr. Biancos Krankenstation befand. Aber er konnte sich nicht daran erinnern, dass sie auf dem Weg in ihre Zelle eine Treppe passiert hatten. Gegenüber von dem Zaun war eine breite Tür, über der eine Kamera befestigt war, die den gesamten Gang im Fokus zu haben schien. Sie öffnete sich automatisch, als die kleine Gruppe von Menschen sich ihr näherte.


Den ShaoSetFai konnte es nicht schnell genug gehen. Immer wieder schubsten sie den dunkelhaarigen Mann und drängten ihn dazu, schneller zu gehen. Und als sie den Essenssaal betraten, hatte Rej das Gefühl, dass sich unzählige Augenpaare auf sie richteten. An fünf Tischen saßen an die dreißig Männer und Frauen in Häftlingskleidung verteilt und hatten sich alle zum Eingang herum gedreht. In den vier Ecken des Raumes stand jeweils ein ShaoSetFai-Soldat mit gezücktem Schockstab und überwachte die Lage. Am linken Ende, hinter den Sitzgruppen, befand sich eine Theke, die bis auf eine kleine Durchreiche vergittert war, und keinen Zugang für die Häftlinge gewährte. Dahinter standen zwei Bedienstete und warteten darauf, dass sie das Essen ausgeben konnten.


Sajan schob Rej an den einzigen Tisch, an dem nur zwei Plätze besetzt waren, an all den anderen Tischen saßen jeweils sechs Personen. Aber da der Rollstuhl etwas mehr Platz brauchte, war ihr Tisch nur für insgesamt vier Leute vorgesehen. Rej spürte direkt, wie die Blicke der Mithäftlinge sich in ihn bohrten, während Sajan neben ihm Platz nahm. Kaum dass er sich hingesetzt hatte, erklang ein Gong und die anderen beiden an ihrem Tisch erhoben sich und machten sich auf den Weg zu der Theke.


"Ab jetzt können wir essen von der Theke holen. Sobald der Gong schlägt, können wir uns anstellen. Ich werde Ihnen dabei helfen, das Tablett an den Platz zu bringen." Während Sajan den Rollstuhl nach vorne schob, versuchte Rej den Blick zu heben und den verschwommenen Klecksen von Personen, die nur aus Augen zu bestehen schienen, entgegen zu sehen. Er wusste, dass der erste Eindruck wichtig war und dass es daher umso entscheidender war, wie sie ihn wahrnehmen würden - ob schwach oder stark.


Aber seine Position war nicht besonders gut, ihm blieb nur, das Bestmögliche daraus zu machen. Er konnte nicht damit rechnen, dass in dem selben Zellenblock andere inhaftierte Song aufhielten. Aber er hoffte, dass sich keine radikalen Gegner der Song unter den Mithäftlingen befanden. Erkennen konnte er niemanden, aber alle schienen ihn zu kennen, was nicht sonderlich verwunderlich war. Die meisten hatten sein Gesicht vermutlich in Zusammenhang mit den Nachrichten im Fernsehen gesehen. Im Zusammenhang mit erfolglosen Forderungen an die AneLAAN und darauf folgenden Attentaten auf das Regierungsgebäude oder auf Supporteinrichtungen von ThanaVelu. Vermutlich gab es so viele verschiedene Meinungen über ihn, wie anwesende Personen in dem Raum.


Neben der Theke hielt Sajan den Rollstuhl an und drückte seinem Patienten ein graues Tablett in die Hand. Rej legte es neben sich auf die Ablage und zog es mit sich. Der Krankenpfleger stellte ihm ein Glas darauf, legte Besteck dazu, während er sich auch selbst sein Tablett herrichtete. Dann erreichten sie die Durchreiche und der Bedienstete schob ihm einen Teller mit einem Stück Fleisch und einem Klecks undefinierbarer Beilage auf den Tresen. Rej musste sich anstrengen, um über die rechte Seitenlehne hinaus den Teller mit den Finger zu fassen zu bekommen, jede Bewegung war mit Schmerzen verbunden. Er zog ihn auf sein Tablett und wollte sich dieses dann auf den Schoß stellen. Allerdings war es so unausbalanciert viel zu schwer für seine linke Hand, die darauf hin fürchterlich zu zittern begann und das Tablett zum Klappern brachte. Der Song ärgerte sich, als Sajan über seine Schulter hinweg griff und die andere Seite des Tabletts festhielt. Gleichzeitig schien er keine großen Schwierigkeiten dabei zu haben, das eigene Tablett auf die Schiebegriffe zu befördern und es so mit dem Rollstuhl zurück an den Platz zu schieben.


Er stellte Rej seinen Teller direkt vor die Nase, dann setzte er sich neben ihn und drehte sich zu ihm herüber. Mit ausdruckslosem Gesicht starrte Rej auf das Essen vor sich, während sein Helfer begann, das fleischige Etwas in kleine Stücke zu schneiden. Die anderen beiden Häftlinge, die sich mit ihnen den Tisch teilten, setzten sich ebenfalls und starrten zu Rej und Sajan herüber. Keiner von den Nachbartischen war aufgestanden, um sich an der Theke ihr Essen zu holen, der Song hatte das Gefühl, dass noch immer alle Blicke auf ihn und Sajan gerichtet waren.


Ja, sie waren die Neuen hier und ja, er konnte nicht einmal selbst sein Essen schneiden. Sajan hatten sie zwar wohl gestern schon kennen gelernt, aber nicht in seiner Funktion als Krankenpfleger. Und ein Mann im Rollstuhl war wohl etwas gänzlich neues hier in der Vollzugsanstalt. Und ein äußerst bekannter Anführer einer Terroristengruppe im Rollstuhl erst recht. Rej versuchte sich davon nicht ablenken zu lassen. Als Sajan sich seinem eigenen Teller zu wandte, griff er nach der Gabel und piekste ein Stückchen Fleisch darauf auf. Es war grau und sah nicht sonderlich schmackhaft aus und obwohl der Song Hunger verspürte, war sein Magen wie zugeschnürt.


Natürlich hatte er schon in ganz anderen Situationen Essen zu sich genommen, in einem Versteck nahe dem Schlachtfeld, oder in der Aufregung einer direkt bevorstehenden Aktion. Aber das ließ sich mit der Situation hier überhaupt nicht vergleichen. Dort war er in seinem Element gewesen und zumindest Herr der Lage auf seiner Seite. Hier im Gefängnis hatte er nichts im Griff, ihm fiel es ja schon schwer, die Gabel zu halten. Und, dass alle zu ihm herüber starrten, machte ihn ganz verrückt. Wenn sie wenigstens etwas gesagt hätten, dann hätte er irgendwie darauf reagieren können, so aber blieb ihm nur die Möglichkeit, zurück zu starren. Und noch wollte er das nicht, denn mit einem direkten Blickkontakt machte man sich verdammt schnell Feinde. Und diese konnte er sich jetzt nicht leisten.


Er schob sich das graue Stück Fleisch in den Mund und begann langsam zu kauen. Sein Kiefer schmerzte auf der rechten Seite, das Essen schmeckte nach nichts. Sajan schien das nicht zu stören. Er schaufelte seine Portion mit einer Freude weg, als hätte er es mit einer kulinarischen Spezialität in großen Mengen zu tun. Aber Rej bekam den Brocken beim besten Willen nicht runter. Der Appetit war noch nie dagewesen, aber der Hunger war soeben auch völlig verflogen. Als er kurz aufsah, glaubte er, dass die beiden Personen, die mit ihnen am Tisch saßen, zu ihm herüber blickten.


"Es schmeckt gewöhnungsbedürftig", meinte die eine von ihnen, "aber es ist nicht das schlimmste Essen in der Woche." Die Stimme gehörte zu einem menschlichen Mann um die fünfundzwanzig, der das schwarze Haar locker zu einem Knoten gebunden hatte und sich durch einen Drei-Tage-Bart etwas älter mogelte. Lebendige blaue Augen musterten den Song-Kommendan.


"Das schlimmste Essen in der Woche gibt es morgen", pflichtete ihm eine freundliche Frauenstimme bei. Die dazugehörige Inhaftierte saß links neben dem anderen Mann und Sajan gegenüber, dadurch waren ihre Züge für Rejs getrübtes Augenlicht nicht mehr ganz so gut zu erkennen. Aber der eher rund wirkende hellblaue Schädel, die zu den Seiten weit abstehenden Ohrbögen und die großen Kulleraugen deuteten klar darauf hin, dass sie eine vom Volk der Beszar war. Ihr heller Teint wurde an manchen Stellen von glitzernden Schuppen überlagert und von beigegrauem schulterlangem Haar umrahmt, welches ab Augenhöhe in türkise Farbe überging. Beide Mithäftlinge wirkten auf den ersten Moment freundlich, aber was sich genau in ihrer Mimik abspielte, konnte der Widerständler nicht erkennen. Zumindest spiegelte sich in ihren Stimmen keine Feindseligkeit wieder. Höchstens etwas zurückgehaltene Neugier.


"Und ich dachte, gestern Abend hätte es das Übelste gegeben, was ich je gegessen habe", brachte sich Sajan in das angefangene Gespräch mit ein. "Das war eine schaurige undefinierbare Masse, Rej, seien Sie froh, dass Sie gestern Abend noch nicht hier essen mussten." Sein Einwurf brachte die Konversation sofort in Schwung.


"Darauf könnt ihr euch jetzt jeden Donnerstag abends einstellen. Aber auf der Skala der Mahlzeiten hier schafft es das Essen von gestern nur auf Platz vier der schaurigsten Menüs vom Xiantiao Hauptgefängnis." Der schwarzhaarige Mann sprach zu Sajan, da Rej nicht auf das Gespräch eingestiegen war. "Morgen Mittag kommt das Schlimmste. Und das wiederholt sich dann immer wieder. Ein Glück, dass jeder Monat nur zwei Donnerstage hat. Stellt euch vor, das gäbe es an einem Samstag." Er schüttelte sich demonstrativ. "Ich bin übrigens Rifka", stellte er sich Rej vor und streckte ihm die rechte Hand entgegen. "Wir hatten ja gestern schon das Vergnügen", meinte er zu Sajan und wartete darauf, dass der ihm Gegenübersitzende seine Hand ergriff.


Rej blickte von der Gabel, die nach dem ersten Bissen auf dem Teller liegen geblieben war, zu der Hand des Menschen. Statt den Gruß zu erwidern, fragte er undiplomatisch: "Ist es hier eigentlich immer so still?" Er wusste selbst nicht so genau, was er damit eigentlich gemeint hatte, den gesprächigen Mitinsassen gegenüber, oder aber das Schweigen, dass an den anderen vier Tischen herrschte.


Rifka nahm die Hand wieder zurück, hob die Schultern und schob sich eine Portion der undefinierbaren Beilage in den Mund. "Eigentlich nicht. Die anderen beobachten uns nur. Ob du uns auffrisst." Er grinste schief. "Oder in die Luft sprengst." Über diesen blöden Kommentar musste sogar Rej lachen. "Das überlege ich mir gerade noch", meinte er in sich hinein schmunzelnd. Er legte die Gabel beiseite und nahm seine Hand vom Tisch. Er hatte nicht vor, noch etwas von dem grauen Pampf zu essen. Dann hob er den Blick. "Dann gehe ich richtig in der Annahme, dass ich mich nicht vorstellen brauche?" Er sah zwischen den beiden Mithäftlingen hin und her, Rifka schüttelte den Kopf und die Beszarfrau nickte zeitgleich.


"Seit einer Woche ist hier von nichts anderem die Rede. Die ShaoSheiari trippeln aufgeregt durch die Gegend, seit die Segregator und die Shimaramaya das Song-Schiff platt gemacht haben und bekannt wurde, dass wir den Ex-Kommendan der Terroristen hier bei uns untergebracht bekommen." Der lapidar geäußerte Kommentar traf den Widerständler wie ein Faustschlag in die Magengrube. Die Segregator war das XSF-Schiff, dass die Tahemetnesut angegriffen und erfolgreich geentert hatte. Die sich sonst nicht sonderlich freundlich gesinnten Mächte der ShaoSetFai-Spezialkräfte von Xiantiao und der sich in alle Angelegenheiten einmischenden Cadence hatten sich irgendwie geeinigt und verbündet, um seinem Schiff und seiner Crew den Todesstoß zu verpassen. "Der bin ich dann wohl", murrte er freudlos. "ShaoSheiari, witzig", kommentierte er dann stattdessen das Wortspiel des Häftlings, ohne weiter auf dessen Aussage einzugehen, er versuchte sich dabei nicht anmerken zu lassen, was in ihm vorging.


"Ja", erklärte dieser unnötigerweise, "wie Sheisheiari - Tänzerinnen eben. Wir nennen die ShaoSetFai hier so. Aber lasst sie das bloß nicht hören." Verschwörerisch blickte er von einem Soldaten zum anderen, die in den Raumecken Wache hielten und grimmig durch ihr Visier zu ihrem Tisch herüber blickten.


Die Beszarfrau lehnte sich über die Tischplatte zu Rej herüber und streckte ihre dreifingrige blassblaue Hand nach ihm aus. "Sie wirken sehr traurig", meinte sie mit freundlicher einfühlsamer Stimme. So sehr er sich auch bemüht hatte, nichts davon durchscheinen zu lassen, sie hatte es wohl trotzdem mitbekommen. Unwillig verzog er das Gesicht und rückte ein wenig tiefer in seinen Sessel, um vor ihrer Hand zurückzuweichen, auch wenn sie für eine tatsächliche Berührung zu weit weg gesessen hätte. "Glücklich darüber, hier zu sein, bin ich nicht gerade", gab er genervt als Antwort zurück. Der heutige Tag erschien ihm wie ein Marathonlauf. Erst der Transport, die schmerzhafte Behandlung und das Kennenlernen mit Dr. Bianco. Dann der freundliche wie nervtötende Zellengenosse und Krankenpfleger, dessen Hilfe er gezwungen war, anzunehmen. Das Herumgeschubse durch die XSF-Soldaten, die starrenden Blicke der anderen Mithäftlinge, ein am Tisch Sitzender, der scheinbar noch mehr redete, als Sajan und nun auch noch eine Lady, die mit ihm über seine Gefühle sprechen wollte. Es war alles verwirrend und kompliziert. Er wünschte sich, dass der Tag bald enden möge, doch er hatte noch den ganzen Nachmittag und Abend vor sich. Und er sollte ja auch noch den Verhörspezialisten vorgestellt werden.


Es wurde noch mehr am Tisch geredet, aber Rej klinkte sich völlig aus. Er musste mit seinen spärlichen Kräften sorgfältig haushalten und die bei jeder unbedachten Bewegung aufflammenden aggressiven Schmerzen raubten ihm immer wieder für einen Moment die Sinne. Irgendwie ging das weitere Gespräch an ihm vorüber und so begnügten sich die Beszar und der Mann namens Rifka damit, mit Sajan zu reden, der dieses Hobby mit ihnen leidenschaftlich teilte. Lange dauerte es nicht, da ertönte der Gongschlag erneut und signalisierte damit, dass die Essenszeit für heute um war. Die Leute an den anderen Tischen standen auf, nahmen ihr Tablett und stellten sich dann an der Doppelflügeltür auf, wo daneben ein Rollwagen stand, der für das Geschirr vorgesehen war. Daneben zählte einer der Wärter ab, ob auch jedes Besteckteil zurückgegeben wurde.


Rej zog das kaum angerührte Tablett auf seinen Schoss, bevor ihm Sajan helfen konnte. Dieser kümmerte sich um sein eigenes, transportierte dieses wieder auf den Schiebegriffen des Rollstuhls. Rifka und die Beszarfrau waren direkt vor ihnen, sie selbst stellten sich als Letzte an der Warteschlange an und es dauerte eine Weile, bis sie an die Reihe kamen. Der ShaoSetFai musterte mit undefinierbarem Blick das Tablett von Rej, machte keine Anstalten, ihm zu helfen. Dem bereitete es erhebliche Mühe, es dort hin zu bugsieren, wo es hin sollte. In dem Regal war in seiner Reichweite kein Platz mehr frei und so musste erneut der Krankenpfleger einspringen und helfen. Den XSF-Soldaten, die hinter ihnen das Schlusslicht bildeten, ging das schon wieder viel zu langsam und so trieben sie Rej und Sajan zur Eile an. "Moment, Moment", rief der Dunkelhaarige, "Sie sehen doch, dass das noch etwas Übung braucht."


"Das muss schneller gehen", raunzte einer der Wärter, während sich einige der Mithäftlinge aufgrund des kleinen Tumultes umdrehten und erneut Rej anstarrten. Dieser blickte missmutig zur Seite. Was glaubten die, wer er war? Er war ja nicht so geboren worden, er musste sich erst an sein Handicap gewöhnen.


Der Rollstuhl machte einen Satz nach vorne, als Sajan durch die Tür geschubst wurde, und landete in den Hacken eines schlaksigen braunhaarigen Alaver. "Ey, da stehen noch Leute!", beschwerte sich der Krankenpfleger bei den ShaoSetFai, die hinter ihm die Türen schlossen, während Rej sich bei dem Kerl vor ihm entschuldigte.


"Das war ein Versehen", meinte er, als sich der Elf mit empörtem Ausdruck im Gesicht umdrehte.


"Pass doch auf, du Freak!", schimpfte der und trat nach den Schienbeinen des im Rollstuhl Sitzenden.


"Ich sagte, das war ein Versehen!", meinte Rej finster, deutete mit dem Zeigefinger auf den unsympathischen Mann und sah ihn unter den Augenbrauen hervor an. Dessen goldene Fischaugen und der Mund waren etwas zu groß für das schmale mit Sommersprossen verzierte Gesicht und der Kinnbart verfehlte, anders als bei Rifka, das Ziel, ihn Älter erscheinen zu lassen. Er unterstrich eher das Gnomartige an ihm, das auch durch die viel zu großen abstehenden Elfenohren zustande kam. Innerhalb dieser kurzen Auseinandersetzung war die angespannte Stimmung in eine extrem aggressive unter den Insassen umgeschlagen.


"Ruhe!", brüllte der Anführer der Wächtergruppe. "Auseinander!"


Sofort richteten sich Waffen auf die Beiden, während Sajan die Handflächen in die Luft hob, um seine friedliche Gesinnung zu signalisieren. Wut glitzerte in den Augen des Gnoms, als er einen Schritt zurück trat und somit ebenfalls zu verstehen gab, dass er nicht weiter auf Konfrontation aus war. Rej ließ seine Hand sinken und nahm seinen Blick von dem Ärgernis, wandte ihn stattdessen einem der Wärter zu, die eine Waffe auf ihn gerichtet hatten. In ihm war trotz der Maske, die Mund und Nase verhüllte, soviel Anspannung zu erkennen, dass der Widerständler befürchtete, dass dieser einfach so abdrückte, nur um sich abzureagieren. Ein Teil von ihm reagierte amüsiert darauf, dass man nur wegen seiner Anwesenheit so aus dem Häuschen war, ein anderer Teil aber ärgerte sich ziemlich über die Unprofessionalität der XSF - immerhin waren sie es durch ihre Ungeduld gewesen, die den Konflikt zwischen ihnen überhaupt erst ausgelöst hatten. Um zu zeigen, dass auch er keine Lust auf Ärger hatte, hob er ebenfalls die Hand und verdrehte genervt die Augen.


Selbstverständlich waren jetzt erst recht alle Blicke auf sie gerichtet, besonders stach aber ein größerer breitschultriger Mann hervor, der sich neben den Gnom in Position geschoben hatte. Er überragte ihn um einen halben Kopf und schien so ziemlich das Gegenteil von ihm zu sein. Er war auch ein Elf, die Ohren zeigten spitz nach oben, aber er hatte ein von mehreren Falten durchzogenes Gesicht mit aufgeworfenen Lippen, die zu einem finsteren Grinsen verzogen waren. Das schwarze Haar war in den Nacken zurück gekämmt und seine blass grünen Augen funkelten düster unter steil herabgesenkten buschigen Augenbrauen hervor. Er sagte nichts, legte nur seine Hand auf die Schulter des anderen Alavers und fixierte dabei Rej mit herausforderndem Blick.


Er hatte es also nur bis zum ersten Mittagessen geschafft. Rej seufzte innerlich. Er war noch keine vierundzwanzig Stunden hier und schon hatte er sich offiziell die Missgunst einiger Leute zugezogen.


Die ShaoSetFai wiesen die Häftlinge an, sich umzudrehen, und die Treppe hinauf zu laufen und forderten Sajan auf, Rej nach oben zu tragen. Das passte dem Song-Kommendan gerade überhaupt nicht in den Kram. Im Rollstuhl zu sitzen und herum geschoben zu werden, das war eine Sache. Aber von einem anderen Mann getragen zu werden, eine ganz andere. In diesem Moment hasste er seine Situation nur umso mehr. Wäre er doch nur nach dem Sturz im Maschinenraum seiner Tahemetnesut verreckt. Diese Erniedrigung schmerzte ihn mehr, als alle seine Verletzungen zusammen. Sajan schien aber seine Stimmung ganz gut aufzufangen, er hatte wohl spezielle Antennen dafür, denn er war diesmal wenig fürsorglich.


Mechanisch öffnete er die Verschlüsse an den Haltegurten und hob den Verletzten aus dem Rollstuhl, ohne sich darum zu kümmern, ob dieser schon so weit war. Er schleppte ihn die zwei Treppen nach oben und ließ ihn dort wieder in das Sitzpolster fallen, nachdem einer der Wärter die Fortbewegungshilfe herauf gebracht hatte. Die anderen Mithäftlinge verstreuten sich, aber Sajan und Rej wurden bis zu ihrer Zellentür eskortiert.


"Am Ankunftstag ist bis auf die Termine und Appelle Einschluss", blaffte der Wortführer der XSF und wies auf den Durchlass. Der Pfleger schob Rej in die Zelle und hinter ihnen fiel die Tür ins Schloss. Erst als sich die Schritte der Soldaten entfernten, wagte der Widerständler wieder Luft zu holen.


"Das...", ächzte er, doch Sajan beendete für ihn den Satz, "...war etwas heftig. Ja, finde ich auch." Er ging vor ihm in die Hocke und musterte das graue schweißnasse Gesicht des ehemaligen Song-Kommendan, tastete zeitgleich nach seinem Handgelenk. Dann schob er ihm die Atemmaske über die Nase, die schon seit dem Essen nutzlos um Rejs Hals baumelte. "So", meinte er in ruhigem Tonfall, "jetzt atmen Sie erst einmal tief durch und beruhigen sich wieder. Atmen Sie, das bringt Ihren Puls wieder runter."


Das Herz klopfte ihm bis zum Halse, aber die freundliche Stimme des Krankenpflegers hatte tatsächlich eine entspannende Wirkung auf ihn. Eigentlich war ja überhaupt nichts passiert. Er verstand selbst nicht, warum er sich so aufregte. "Mir... geht es gut", brachte er nicht sonderlich glaubwürdig hervor und zog sein Handgelenk aus dem Griff des Zellengenossen, um sich die Atemmaske wieder abzunehmen. Doch Sajan ließ es nicht dabei bewenden. "Sie zittern und Ihr Puls rast. Wollen Sie darüber reden? Darüber, was Ihnen so Angst gemacht hat?"


Rej spürte, wie innerlich Groll gegen den neugierigen Mann in ihm aufstieg. Es ging ihn doch überhaupt nichts an. Und Angst war es nicht gewesen. Oder doch?


"Angst ist das nicht...", gab er deshalb zögerlich als Antwort. "Eher Wut. Das ist so... erniedrigend." Sajan ergriff erneut seinen linken Arm und hielt ihn fest - allein dafür hätte ihm Rej gerne eine verpasst, aber er zitterte noch immer zu stark und er fühlte sich flau.


"Rej, erniedrigend ist es nur, wenn Sie sich erniedrigen lassen. Glauben Sie mir. Ich habe mich schon um andere Menschen vor Ihnen gekümmert und den meisten ist es am Anfang sehr schwer gefallen, damit klar zu kommen. Aber ich garantiere Ihnen auch, Sie werden sich daran gewöhnen. Und das Gefühl, das Sie jetzt empfinden, wird geringer werden, mit jedem Tag."


Das konnte sich Rej beim besten Willen nicht vorstellen. Dumpf blickte er zur Seite und zog den Arm an sich heran, um der Berührung zu entkommen. Dann schüttelte er mehrere Male den Kopf. "Dieser blöde Sack hat genau gesehen, dass das keine Absicht war."


Sajan nickte. "Klar, der war auf Ärger aus. Der hat nur darauf gewartet, dass sich eine Gelegenheit bietet. Es tut mir auch echt leid, dass ich nicht besser aufgepasst habe." Der Ärger in Rej flammte auf, als ihm der freundliche Pfleger weiter Stoff gab. "Sie haben daran ja wohl keine Schuld, also tun Sie nicht so", schimpfte er finster und ballte die Faust. "Die ShaoSetFai sind so angespannt, dass sie ihre Anspannung auf die anderen Insassen übertragen. Kein Wunder, dass es hier beinahe gleich am ersten Tag zur Explosion gekommen wäre. Und die sollen ausgebildete Spezialkräfte sein? Die tun gerade so, als wäre ich einer von den apokalyptischen Reitern."


"Na ja, ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, Rej, aber irgendwie sind Sie das doch auch, oder?" Stirnrunzelnd sah der Song sein Gegenüber an. "Sie sind quasi das personifizierte Böse, der Anführer der Hölle, oder sowas. Die AneLAAN hat Sie, seit der Flötespieler verschwunden ist, zum Staatsfeind Nummer eins erklärt."


Der ehemalige Song-Kommendan schnaubte verächtlich. "Das ist Schwachsinn, das wissen Sie und das wissen hoffentlich auch die meisten Leute in Xiantiao, dass das nicht der Wahrheit entspricht!"


Sajan machte eine wegwerfende Handbewegung. "Wahrheit, Rej, was ist schon Wahrheit? Was Sie getan haben, oder tun haben lassen, wissen Sie selbst am besten. Aber die Wahrheit ist doch, dass die AneLAAN ganz deutlich und auch mit medientechnischer Unterstützung ein Bild von Ihnen in der Öffentlichkeit kreiert hat, dass der des personifizierten Bösen recht nahe kommt."


Den Widerständler hätte sehr interessiert, was der Krankenpfleger selbst für eine Meinung vertrat. Über die Song und über ihn selbst, aber er wusste, dass Fragen selten eine ehrliche Antwort produzierten. "Das Bild, was die Öffentlichkeit von mir hat, interessiert mich nicht", gab er stattdessen unfreundlich zu verstehen. "Ich tue, was ich für richtig halte, und daran wird sich auch in den letzten sechs Wochen, die ich noch habe, nichts ändern."


Sajan erhob sich aus der Hocke und ließ sich schwer auf sein Bett fallen. Er verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und lehnte sich zurück. "Diese Einstellung wird Ihnen hier drin leider nur wenig nützen", eröffnete er seinem Zellengenossen und griff nach dem Datenpad, dass auf dem Nachtkästchen herum lag.


"Wie Dr. Bianco schon sagte, bin ich nicht hier um mich zu erholen oder zu entspannen", gab der ehemalige Song-Kommendan trotzig zurück. Er wusste ja selbst, dass eine schwere Zeit vor ihm lag. Aber seine Prinzipien über Bord zu werfen, seine Familie zu verraten - wenn auch nur im Herzen - das kam nicht in Frage, egal wie hart es für ihn werden würde. Er hatte sich geschworen, aufrecht zu gehen, wenn seine Zeit gekommen war. Er wusste, dass es ein Symbol war, das die Song stärken würde, was wiederum über den Erfolg oder die Niederlage der Widerstandsorganisation entscheiden konnte.


REJ - Der spezielle Gefangene

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