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Donnerstagmorgen, 13. Juni

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Am Morgen wachte er mit bestialischen Kopfschmerzen auf. Die Sonne schien auf seinen Kopf. Bereits eine kleine Drehung nach links verursachte einen Schmerz, als würde ein glühend heißes Eisen in seine Augen gebohrt. Wie spät war es? Er blinzelte auf seine Armbanduhr. Kurz nach neun. Er wollte früh aufstehen, um sich eine Strategie für den Tag zurechtzulegen. Wollte nicht Delgado um zehn kommen? Schon das Denken führte zu einem leichten Wummern in seinem Schädel. Er griff zu den Aspirin. Zwei Stück waren noch in der Schachtel. Baptista entschied daher, nur eine zu nehmen und die andere für den frühen Abend zu bewahren. Morgen sollte der Arzt kommen. Er zerbiss die Tablette und wartete, bis die Wirkung eintrat.

Dann stand er auf und machte sich fertig. Qualvoll. Als er angezogen die Türe öffnete, war er bereits wieder schweißgebadet. »Bom dia«, begrüßte ihn die Dame des Hauses überschwänglich. »Einen Galão?« »Obrigado«, murmelte Baptista. »Ein herrlicher Tag, nicht wahr?« Baptista überhörte den Satz einfach. Als Kaffee und Milch seinen Hals hinunter rannen, begann er sich etwas besser zu fühlen. Senhora Lancha ließ sich nicht entmutigen: »Eine Cousine von mir lebte in Furnas auf São Miguel. Dort bin ich rettungslos den Bolos Levados verfallen, die sie in den nächsten Tagen hier zum Frühstück bekommen. Guten Appetit!« Baptista wollte noch immer nicht sprechen. Er biss in einen kleinen Bolo und spürte trotz seines schon wunden Halses ein angenehmes Gefühl. Dann kam auch schon Delgado. Nun krächzte Baptista auch sein »Bom dia.« »Wo fangen wir an?«, fragte Delgado. »Mit dem Ort des Geschehens. Wir sollten uns die Fundstelle ansehen. Danach möchte ich gerne mit der Familie von Francisco Amaral sprechen.« Sie stiegen in den Wagen und fuhren höchstens zwei Minuten zum Hafen. Auf der Hafenmauer saßen bereits die älteren Dorfherren und beäugten interessiert, wie die beiden ausstiegen.

»Wir haben insgesamt drei Häfen auf Corvo. Da gibt es einmal den alten Hafen Porto Novo. Er wird jedoch nicht mehr als Hafen benutzt. Eigentlich schwimmen wir und die Touristen nur noch darin. Hier stehen wir am Casa. Er ist am wenigsten geschützt. Aber die Mole entspricht modernen Anforderungen und da drüben gibt es sogar einen kleinen Kran.« Delgado wies nach rechts. »Naja, und dann gibt es noch den Fischerhafen de Boqueirao. Aber außer für kleine Boote ist er nicht zu gebrauchen.« Delgado grüßte einen Bekannten in einer Bar nebenbei. »Ein Cousin von mir. Kommen Sie. Hier an der äußeren Mole hat man Francisco gefunden.« Delgado parkte das Auto gegenüber der Gruppe alter Männer. Als sie ausstiegen, waren sie gezwungen an den Herrschaften vorbei zu gehen. Während Delgado allen freundlich zunickte, kam sich Baptista wie unter einem Mikroskop vor. Nicht dass er solche Situationen nicht kennen würde. Im Gegenteil, sie waren typisch für seinen Beruf. Aber er hatte auch nach über zwanzig Jahren keine Routine entwickelt. Jeder Tote stürzte Baptista in tiefe Trauer und die Beobachtung von Fremden verursachte Unbehagen. Damit lebte er und seine Gesundheit musste es ausbaden.

Delgado führte ihn zu einer niedrigen Hafenmauer. Kleinere Fischerboote hatten dort festgemacht. Obwohl die Boote verwittert wirkten, machte das Hafenbecken einen romantischen Eindruck auf Baptista. Vielleicht war es auch einfach die Vorstellung, auf einer winzigen Insel mitten im Atlantik zu sein. Dennoch brannte die Sonne dermaßen intensiv auf seinen mit Schmerzen angefüllten Kopf, dass ihm selbst keine Sekunde romantisch zu Mute war. »Stellen wir uns einige Fragen«, begann Baptista die beruflichen Überlegungen. »Kann der Mord hier geschehen sein? Und wenn nicht, wie gelangte die Leiche hierher?« »Als Todeszeitpunkt wurde Mitternacht angegeben. Um die Zeit ist hier niemand auf der Straße. Allerdings liegen um den Hafen herum einige Häuser. Dort hätte man sicher die Schreie gehört.« Baptista ließ seinen Blick schweifen.

Am Hafen waren die Fassaden besser gepflegt als etwa in Delgados Straße. Die Wände leuchteten weiß, Türen und Fenster waren in strahlendes Blau gefasst. Es gab drei kleinere Bars, die die Fischer und andere mit dem Wichtigsten versorgten. Wie kann man in so einer Umgebung einen Mord begehen, fragte sich Baptista. Möglicherweise gab es ein wirklich perfides und sadistisches Gehirn, das den Mord detailliert geplant hatte. Dann hätte er das Opfer betäubt und mit einem Wagen hier her gebracht, um es vor allen Augen in den Hafen zu werfen. Baptista erschien das völlig unglaubwürdig. Das sind Methoden der organisierten Kriminalität, die auf Corvo wohl nicht zu finden ist. Und überhaupt: Warum sollte man sich auf einer fast unbewohnten Insel ausgerechnet den Hafen für ein Verbrechen aussuchen? »Kann es sein, dass die Leiche hier angeschwemmt wurde?«, fragte Baptista. »Möglich ist das auf jeden Fall. Sehen Sie dort.« Delgado wies auf einen dunklen Fleck, der mit einem Netz an der Hafenmauer befestigt war. »Das ist ein toter Hai. Er wurde erst gestern vom offenen Meer hereingeschwemmt. Allerdings müssen dafür die Strömungen günstig stehen. Der Golfstrom erzeugt einen ungeheuren Sog, der alles von den Inseln wegspült.« Baptista sah auf den toten Fisch und überlegte, ob Fische auch Schmerzen spüren konnten.

»Im Obduktionsbericht stand, dass er einige Stunden im Wasser lag. Tagsüber wäre es wohl ausgeschlossen, dass er diese lange Zeit unbemerkt blieb. Über Nacht ist das natürlich denkbar. Trotzdem: Ihn mitten im Hafen abzuwerfen erzeugt unnötige Aufmerksamkeit.« Bei diesen Überlegungen beließen es die beiden. »Kommen Sie. Ich bringe Sie nun zu seiner Frau.« Delgado lief in Richtung Wagen. Wieder wurden sie von den rund zehn älteren Männern argwöhnisch betrachtet. »Sag schon, Teo. Es war doch Pão. Das Schwein!« Baptista sah etwas erschrocken auf. Der Mann, der ihnen die Worte zurief, hatte ein verwittertes Gesicht. Tiefe Furchen zogen sich vom Mund nach unten. »Wer ist das?«, raunte er Delgado zu. »Ach, der alte Bastelio. Die Sonne hat sein Gehirn ausgetrocknet, als er einmal zu lange auf dem Meer blieb. Nehmen Sie ihn bloß nicht ernst.« »Und dieser Pão. Warum verdächtigt er ihn?« »Pão ist ein Einzelgänger. Er ist der Bruder von Francisco und tickt nicht mehr ganz richtig. Er wohnt am Rand des Kraters. Bei Vollmond zündet er ein Feuer an und tanzt laut schreiend herum. Die Leute glauben, er sei an allem Schuld.« Dann wandte sich Delgado an Bastelio. »Sag deinen Schafen einen Gruß. Und mach ihnen keine Angst mit deinen Geschichten.« In Bastelios Gesicht machte sich beinahe ein Lächeln breit. Die anderen gaben ein leises Gekicher von sich. Delgado und Baptista verließen mit dem Auto Vila Nova und fuhren ein Stück auf einem Feldweg, bis sie ein Haus erblickten.

Maria Grazia arbeitete im Garten. Sie hatte die einfache Kleidung der Bauersfrauen an und zupfte zwischen den Beeten das Unkraut. Unwillig hob die fünfzigjährige rüstige Frau den Kopf, als sie das Auto wahrnahm. Delgado reichte ihr die Hand. »Maria, gut, dass du da bist. Das hier ist Senhor Baptista. Er untersucht den Fall.« Mit großer Skepsis betrachtete Senhora Maria Grazia den Herrn aus Europa. »Wie soll ein Fremder denn helfen können?«, meinte sie wenig erfreut. Das fragte sich Baptista auch. Dennoch sagte er mit überzeugender Stimme: »Nun ja, ich werde mein Bestes tun. Und Senhor Delgado unterstützt mich ja auch tatkräftig. Hätten Sie ein paar Minuten Zeit für einige Fragen?« »Zeit, Senhor Baptista, davon haben wir auf Corvo im Übermaß. Man kann daran ersticken.« Baptista war überrascht über die unverhohlene Feindseligkeit, die Senhora Grazia gegen ihn zu hegen schien. Aber er hatte bei den Angehörigen von Mordopfern in seiner Laufbahn schon oftmals sehr überraschendes Verhalten erlebt. Vor Jahren wurde auf einer Hochzeit der Bräutigam in der Kirche von seinem besten Freund erschossen. Als Baptista die junge Witwe besuchte, gab sie ihm eine heftige Ohrfeige und begann zu weinen. Die ersten Reaktionen können eine gute Hilfe bei den Ermittlungen darstellen. Man musste sie allerdings richtig zu deuten wissen.

Sie gingen in das Haus. Von außen schien es beinahe zusammenzufallen. Im Wohnzimmer knarrten die nicht gut befestigten Fensterläden im Wind. Sie setzten sich an den Esstisch. Baptista hustete und hatte zum wiederholten Male das Gefühl, dass sein Brustkorb platzen würde. Maria Grazia machte nicht die geringsten Anstalten, ein Wasser anzubieten, geschweige denn, dass sie Mitleid zeigte. So stand Baptista kurz entschlossen auf und holte sich selbst ein Glas Wasser aus der Küche. Er atmete tief durch und ignorierte sein nassgeschwitztes Hemd. »Senhora Grazia, ich habe von Francisco nur aus den Akten gelesen. Was für ein Mensch war Ihr Mann?« »Francisco war mein Mann.

Das ist im Wesentlichen alles.« Die Senhora schwieg. Alle schwiegen. Schließlich durchbrach Baptista das Schweigen. »Nach einem Mord möchte man gerne alles vergessen. Könnten sie dennoch erzählen, wie er war?« »Den Mord vergessen? Ha. Ich wurde gezwungen ihn zu heiraten, als ich sechzehn war. Damals hatte ich am Frühstückstisch gesagt, ich wolle nach São Miguel und Jura studieren. Mein Vater ist blass geworden und warf ein Messer nach mir. Meine Mutter schrie hysterisch, und eine Woche später war ich verheiratet. Francisco war damals dreiundzwanzig Jahre und was das Wichtigste war: Er kam aus der Familie der Amarals. Vielleicht war Francisco kein ganz schlechter Mensch. Aber er benahm sich wie ein Tyrann. Ich habe ihm nie den Tod gewünscht. Aber das Gute in der Welt ist durch seinen Tod nicht viel weniger geworden. Und das sage ich als seine Frau. Punkt.« Baptista hatte sich ein kleines Notizbüchlein auf den Tisch gelegt und versuchte mitzuschreiben. Er stockte jedoch mehrfach, weil ihm so ungeheuerlich erschien, was Senhora Grazia sagte.

»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal lebend gesehen?« »Er lag betrunken am Dienstagnachmittag im Bett. Zuvor hatte er versucht, mich mit einer Zaunlatte zu verprügeln. Aber ich kann mich wehren. Am Ende war er es, der mit blauen Flecken im Dreck lag. Ich habe ihn ins Bett geschleift und bin mit den Kindern zu meiner Schwester gefahren. Als ich am Mittwochmorgen wiederkam, war Francisco weg.« »Wo sind ihre Kinder denn jetzt?« »In der Schule, Senhor. Wir sind hier zwar in der Mitte des Ozeans, aber eine Schulpflicht gibt es trotzdem. Allerdings befindet sich die weiterführende Schule auf Flores. Ich hoffe, dass meine Kinder bald nach São Miguel zum Studieren gehen und das tun, was ich nicht durfte.« »Darf ich mich im Haus kurz umsehen?« »Aber fassen Sie nichts an. Ich mag es nicht, wenn Fremde meine Sachen berühren!«

Baptista war froh, dass er dem unangenehmen Gespräch entfliehen konnte. Als er das Wohnzimmer hinter sich hatte, hörte er wieder dieses Wispern, dass er schon von seinem Hotelzimmer her kannte. Er ging sehr langsam, damit sein Kopfschmerz auszuhalten war. Im Schlafzimmer sah er, dass die Kleider von Amaral zu einem großen Berg aufgetürmt waren. Sie hat keine lange Trauerphase gehabt, dachte Baptista. Zu kurz. Niemand hatte Francisco am Abend seines Todes gesehen. Sie hätte ihn hier töten können und irgendwo ins Wasser werfen. Er würde ihr zutrauen, soviel Hass zu empfinden. Die Kinderzimmer wirkten aufgeräumt. Er dachte, dass er auch gerne Kinder gehabt hätte. Warum hatten Menschen wie Francisco Kinder und er nicht? Ihm wurde schwindelig. Er stützte sich auf. Dann ging er wieder zu den beiden anderen. Als er sich dem Zimmer näherte, hörten sie schlagartig auf zu sprechen. »Ich muss Sie leider bitten, sich für weitere Fragen bereitzuhalten.« »Wenn Sie dafür das Unkraut jäten ...« Baptista war versucht zu lachen, doch dann verstand er, dass Maria den Satz ernst meinte. Sie gab ihm zum Abschied nicht die Hand.

Das Schweigen der Familie

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