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Mittwochabend, 12. Juni

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Die zehn Passagiere stiegen aus und wurden von der halben Insel interessiert willkommen geheißen. Es war früher Abend und man hatte offensichtlich Zeit. Ein vierzigjähriger Mann mit Krawatte und einem sympathischen Gesicht, das von dunklen Haaren eingerahmt war, kam auf Baptista zu. »Bem-vindo in Corvo. Sie müssen Senhor Baptista sein. Ich freue mich, Sie im Namen des Bürgermeisters willkommen zu heißen. Mein Name ist Delgado, Teo Delgado. Aber kommen Sie, ich bringe Sie zu Ihrem Zimmer.« »Sehr erfreut«, hustete Baptista. Sie gingen einige Schritte zu Delgados Wagen, einem einfachen Seat. »Ich hoffe, Ihr Flug war angenehm.« Wieder verfiel Baptista in einen Hustenanfall. Er hatte das Gefühl, kaum noch atmen zu können. »Danke, der Flug war gut. Ich benötige etwas für meine Erkältung. Wo gibt es denn einen Arzt?« Sie fuhren seit drei Minuten. Senhor Delgado hielt an. Baptista dachte, er habe eine falsche Frage gestellt. »Wir sind da«, seufzte Delgado, als wären sie seit Stunden unterwegs. »Einen Arzt gibt es erst übermorgen. Er kommt zweimal die Woche aus Flores. Bis dahin müssen Sie mit Kamillentee vorliebnehmen.« Corvo besaß ein einziges Hotel, das Casa de Hóspedes. Senhor Delgado – Dezernent für außergewöhnliche Angelegenheiten – wie er sich vorstellte, brachte ihn jedoch zu María Lancha, die ein Haus direkt neben dem Rathaus besaß. Sie stiegen aus. Delgado klopfte an die Tür und trat dann ein. Er rief etwas in das Haus hinein. Die Treppe knarrte und eine alte Dame, Senhora Lancha, stand vor ihnen. Sie begrüßte Delgado überschwänglich und beäugte Baptista misstrauisch. Schließlich entschied sie sich, ihm die Hand zu geben.

»Sie sind also der Polizist?« Senhora Lancha machte keinen Hehl aus ihrem Misstrauen. »Der arme Francisco. Nun soll ihm Gerechtigkeit widerfahren.« »Baptista. Sehr erfreut.« »Ihr Zimmer ist im ersten Stock.« Die beiden Männer folgten ihr die knarrenden Stufen hinauf. In einem sehr einfachen, aber sympathischen Zimmer stellte Baptista seinen Koffer ab. Er fühlte sich schrecklich und plante sich ins Bett zu legen. »Kommen Sie doch gleich mit. Meine Frau hat uns etwas zubereitet. Dabei können wir auch für morgen das Wichtigste besprechen.« »Ich fühle mich schrecklich«, meinte Baptista. Die Gesichter von Delgado und Lancha klappten schlagartig nach unten. Er hatte wohl eine ungehörige Beleidigung ausgesprochen. Er räusperte sich kurz. »Geben Sie mir fünf Minuten. Ich komme dann runter.« Die Gesichter der beiden hellten sich auf. »Sehr schön.« Die Tür fiel ins Schloss. Baptista fiel auf das Bett. Ihm wurde schwarz vor Augen. Er hatte fiebrigen Schweiß auf der Stirn. Sein Brustkorb war ein einziger Schmerz. Er kramte einige Aspirin heraus und nahm zwei auf einmal. Durch das Fenster hörte er die Stimmen von Delgado, Lancha und zwei weiteren Personen. »... nicht richtig, dass ein Fremder hier rumwühlt.« »... unser Geheimnis ...« »Die interessiert doch gar nicht, was mit uns geschieht. Am besten reist er schnell wieder ab.« »... endlich hat es den Richtigen getroffen ...« Baptista ging vorsichtig ans Fenster und versuchte zu erkennen, mit wem Delgado und Lancha redeten. Das kleine Fenster ließen jedoch keinen Blick auf das Grüppchen zu. Das kann ja heiter werden, murmelte Baptista in seinen fiebrigen Kopf hinein. Rasch wechselte er das Hemd und ging nach unten. Sobald die Treppen knarrten, verstummten die Stimmen. Delgado saß scheinbar wartend in seinem Auto. Senhora Lancha zupfte alte Blumenblätter.

»Steigen Sie ein. Das Essen wird Sie wieder aufpäppeln«, rief ihm Delgado zu. Du falscher Hund, dachte Baptista. »Gerne. Danke.« Er stieg ein und sie fuhren um zwei Straßenecken herum in die Rua da Fonte, wo sie vor einem einfachen Haus ausstiegen. An der Fassade blätterte Farbe ab und der Vorgarten war vollkommen ungepflegt. Als sie eintraten, sah Baptista jedoch sofort, dass sich der schlechte Eindruck lediglich auf die Fassade bezog. Der Innenraum war hervorragend eingerichtet und hatte beinahe etwas Luxuriöses. Senhora Delgado eilte ihm aus der Küche entgegen. Sie war umgeben von einem appetitanregenden Duft. »Sehr erfreut. Setzen Sie sich doch. Mein Mann serviert Ihnen einen kleinen Aperitif.« Ein scharfer Seitenblick zu ihrem Mann zeigte deutlich, wer in diesem Haus die Entscheidungen traf. Baptista konnte es nicht vermeiden, einen Blick auf das runde Hinterteil von Senhora Delgado zu werfen. Wie die meisten Frauen auf den Azoren war sie üppig und strahlte dadurch eine große Lebensfreude aus. Trotz seines fiebrigen Zustandes fühlte Baptista die Anziehungskraft, die Senhora Delgado auf ihn ausübte.

»Was möchten Sie, Senhor Baptista? Einen Maracujalikör?« Baptista wollte eigentlich nichts Alkoholisches. Doch als er den erwartungsvollen Blick von Delgado sah, stimmte er zu. »Man hat mir erzählt, dass es auf Corvo noch nie einen Mord gegeben hat. Stimmt das?« »Noch nie. Ich weiß nicht, ob Sie sich die Bestürzung hier überhaupt vorstellen können. Hier kennt jeder den anderen. Etwas mehr als dreihundert Personen leben hier. Wir stammen alle von zehn Familien ab. Durch Heirat sind die meisten miteinander verwandt. Auf dieser Insel gibt es noch nicht einmal Schlösser an den Türen.« »Das ist mir schon aufgefallen. Ich dachte aber, das sei eine Ausnahme.«

»Nein, nein. Niemand schließt seine Tür ab. Wozu auch? Warum sollte ich meiner eigenen Familie etwas stehlen. Hier müssen alle zusammenhalten. Wir sind eine kleine Herde auf einem brodelnden Vulkan. Gott schütze uns.«

»Normalerweise arbeite ich in Berlin und Brüssel, wie sie vielleicht wissen. Dort geschehen in jedem Stadtviertel jährlich dutzende Morde. Sie leben hier im Paradies.« Dann verfiel Baptista in einen Hustenanfall. Er sprang auf und suchte im Bad, das er zum Glück gleich fand, einen Moment Ruhe. Er schüttete sich Wasser ins Gesicht und stand auf seinen zittrigen Beinen eine Weile ruhig da. Wie soll ich das bis übermorgen schaffen, dachte er. »Alles in Ordnung?«, fragte die Senhora und klopfte leise an die Tür. »Ja. Bin gleich soweit.« Offensichtlich war er schon einige Minuten im Bad gewesen. Er riss sich zusammen und ging wieder ins Wohnzimmer. Senhora Delgado blickte ihn mit einem besorgten, warmen Blick aus ihren großen Augen an. Jao Baptista verschwand in diesem Blick, wurde aber jäh wieder herausgerissen, als Senhor Delgado einen Salat mit grünen Tomaten und einen duftenden Eintopf aus der Küche hereintrug. »Seit ich aus Berlin fort bin, hat mich eine elende Erkältung gepackt«, erklärte Baptista sein Verbleiben im Bad. »Da ist der Eintopf genau das Richtige. Aber zuvor nehmen Sie doch etwas Salat.«

Baptista nahm sich von den grünen Tomaten. Sie sahen nicht besonders schön aus. Und die Senhora hatte sich auch keine Mühe gegeben, die Tomaten irgendwie anzurichten. Lieblos, ging ihm durch den Kopf. Zwischen den Tomatenstücken fand er eingelegten Tintenfisch. Als er jedoch den ersten Bissen im Mund hatte, erfüllte ein wunderbares Aroma seinen Gaumen. Gartenfrisch und mit einer nussigen Note betörte der Salada de Polvo seinen Geschmack. Abgerundet durch einen Schluck Rotwein hätte er in diesem Moment sich nichts vorstellen können, das er lieber hätte essen mögen.

Danach erweckte der Eintopf bei Baptista einen vergleichbaren Eindruck. Farbe und Konsistenz waren beinahe unappetitlich. Nichts, das man einem Gast vorsetzen würde. Der Geschmack zarter Möhren und Zwiebeln, von deftigem Kohl, aromatischen Kartoffeln und Speck, bestreut mit frischen Kräutern, ergab jedoch einen unnachahmlichen Geschmack. Baptista dachte, dass das Essen ein wenig wie die Häuser auf Corvo sei: verfallene Fassade, aber wunderbares Innenleben.

Während des Essens war es recht still. Baptista blickte verschämt zu Senhora Delgado hinüber und bekam einige feurige Blicke als Antwort. Senhor Delgado schien mit dem Essen und dem Wein beschäftigt. Niemand wollte über den Mord sprechen. So beschränkte man sich auf Themen wie Wetter und Weinanbau. Letztlich wussten aber alle, dass es um ein unappetitliches Ereignis ging. Zusammen mit einem Schnaps wurde als geschmackliche Krönung ein Maçãs assadas, ein Bratapfel, serviert. Und erst nach dem Schnaps entstand ein ungezwungeneres Gespräch. Baptista fragte: »Was hat es eigentlich mit diesem Vulkan hier auf sich? In allen Reiseführern wird er erwähnt.« »Der Vulkan und wir, wir gehören zusammen. Den Krater nennen wir Corvianer nicht wie die anderen Bewohner der Açores Caldeira, sondern Caldeirão. Diese Insel ist ein Vulkan. Wir lieben ihn und verehren ihn. Er ist alles, was wir haben. Wissen Sie, Senhor Baptista, unser Leben hier ist sehr einfach. Wir bauen etwas Gemüse an und werden von Touristen besucht. Der Vulkan gibt uns guten Boden und er sorgt dafür, dass die Touristen kommen.« »Kann er denn nicht eines Tages ausbrechen?« »Das weiß nur Gott. Bis dahin ernährt er uns.« Baptista spürte, wie nach dem Wein und dem guten Essen seine gesamte Lebensenergie in Richtung Magen floss und für den Rest nichts mehr blieb. Er wurde stark fiebrig und konnte die Delgados nur noch schemenhaft erkennen. Senhor Delgado fuhr ihn dann zu seinem Zimmer.

Baptista ließ sich in seinen Kleidern auf das Bett fallen. Von unten hörte er wieder Stimmen. »Wenn er es herausfindet ... wir müssen Luìs warnen ...« Er war sich jedoch nicht sicher, ob er alles nur in seinem Delirium fantasierte. Mitten in der Nacht schreckte er auf. Etwas berührte ihn im Gesicht. Er fuchtelte panisch herum, bis er schließlich merkte, dass es sein umgeklappter Hemdkragen war. Baptista mühte sich auf. Seine Kleider waren durchnässt. Er zog sich einen Schlafanzug an. Dann nahm er wieder zwei Aspirin und öffnete das Fenster. Eine sternenklare Nacht. In Berlin mochte er den Mond, auch wenn man ihn nicht so oft sah. Hier erschien er ihm unheimlich. Einige Fledermäuse gingen auf Jagd. Baptista schloss das Fenster und schlief unruhig wieder ein.

Das Schweigen der Familie

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