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Dienstagabend, 11. Juni

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»Boa tarde«, begrüßte er die Besitzerin. »Jao Baptista«, nannte er seinen Namen. »Ich hatte für eine Nacht reserviert.« »Herzlich Willkommen. Ich zeige Ihnen gleich Ihr Zimmer.« Sie führte ihn eine enge Treppe in den ersten Stock und öffnete eine quietschende Holztür. In dem kleinen Zimmer befand sich ein Bett, das mit einem schrecklich blau gemusterten Überzug bezogen war, und ein winziger Schreibtisch. »Es soll noch regnen«, gab ihm die Zimmerwirtin mit. »Eine gute Zeit für einen Galão nebenan.« Dann verschwand sie nach unten und hinterließ ihm einen kleinen Schlüssel mit einem riesigen Holzpflock. Ist das als Waffe gedacht, fragte sich Baptista unwirsch. Er wuchtete seinen Koffer auf das Bett, das sofort zu Ächzen und Stöhnen begann. Nur das Notwendigste für eine Nacht packte er aus. Dann zog er ein leichtes Baumwollhemd an und wollte losgehen. Sollte er einen Schirm mitnehmen, wie ihm die Zimmerwirtin geraten hatte? Draußen schien die Sonne. Ein Schirm war also unnötig, befand er. Er wollte lediglich einige Schritte am Hafen entlanggehen und ein leichtes Abendessen zu sich nehmen. Als er nach unten ging, war niemand am Empfangstisch. Er legte den schweren Schlüssel ab und trat vor die Tür.

Zum Hafen waren es rund zehn Fußminuten. Er atmete die frische Meeresluft ein und ging los. Ponta Delgada ist für Festlandsverhältnisse eine Kleinstadt mit 20.000 Einwohnern. Trotzdem kommt hier schnell das Gefühl einer Großstadt mit ihren Schaufenstern und Restaurants auf. Der Hafen bot einen wunderbaren Ausblick, obwohl die rostigen Hafenanlagen hässlich und bedrohlich wirkten. Sie hatten gegen den blauen Himmel, das Meer und die Stadt keine Chance, eine negative Wirkung zu verströmen. Baptista entschied sich, direkt im Hafen an der prachtvollen Avenida Infante Dom Henrique entlang zu gehen und durch die engen Gassen zurück. Dort würde er schon ein Restaurant finden. Nach einigen Minuten wurde es dunkel. Zunächst dachte er, die Abenddämmerung habe eingesetzt. Dann sah er jedoch große dunkle Wolken über sich. Schlagartig begann es intensiv zu regnen. Baptista war in Sekunden von oben bis unten durchnässt. Die meisten Leute falteten ihren Schirm auf oder zogen sich direkt in einen Unterstand zurück. Verärgert dachte er an die warnenden Worte der Zimmerwirtin. Während er zurück in die Pension eilte, verzogen sich schlagartig die Wolken und eine tropische Hitze machte das Atmen schwer. Baptista schwitzte und fror zugleich. Kopfschmerzen machten sich bemerkbar. Er würde sicher wieder krank werden.

Als er in nassen Kleidern die Treppen hoch lief, erntete er von der Besitzerin einen verachtenden Blick. Seinen ordentlich gepackten Koffer musste er nun doch auspacken. Die nassen Kleider hängte er notdürftig über einige Bügel, wohlwissend, dass sie in der hohen Luftfeuchtigkeit nicht trocknen würden. Er nahm ein Aspirin gegen die Kopfschmerzen. Inzwischen war es schon nach neun. Er ging wieder los und wollte beim nächsten Lokal etwas essen. Doch die ersten beiden waren voll besetzt. Es war Haupt-Speisezeit. Die Kellner gaben ihm zu verstehen, dass sie ohnehin in einer Stunde schließen würden und er daher nicht warten brauchte. In einem leichten Anfall von Panik – Baptista hatte seit heute Morgen nichts mehr gegessen – eilte er Richtung Innenstadt. Schließlich bekam er in einem schäbigen Lokal einen Platz. Er bestellte Fisch und bekam ein öliges Etwas, von dem er anfangs nicht wusste, ob es wirklich essbar war. Wie lieblos kann man denn mit einem Lebewesen umgehen, fragte er sich. Er trank einen mittelmäßigen Rotwein und wurde gegen zehn Uhr tatsächlich gedrängt zu zahlen. Ihm war schlecht von dem öligen Essen, als er nach Hause lief. Er legte sich ins Bett und schlief schnell ein. Mitten in der Nacht wurde er aus dem Schlaf gerissen. Er hatte Magenschmerzen. Unruhig lief er in dem kleinen Zimmer auf und ab. Irgendetwas schien ihm an dem Fall Amaral merkwürdig. Er nahm noch ein Aspirin und schlug das Dossier auf.

Im Flugzeug hatte er den forensischen Bericht nur rasch durchgeblättert. Doch etwas war ihm aufgefallen. Er sah sich die schrecklichen Fotos der aufgedunsenen Leiche an. Der Gerichtsmediziner sagte, dass der Tod durch vier Messerstiche im Rücken eingetreten war. Beim ersten Blättern hatte Baptista auf dem Rücken kleinere Flecken bemerkt, die in dem Bericht nicht erwähnt wurden. Er dachte, dass es sich um Blut handeln würde. Er bemühte sich im schemenhaften Licht der kleinen Zimmerlampe, das Bild genauer zu erkennen. Die Flecken erinnerten ihn an einen anderen Fall. Damals waren es Abdrücke einer brennenden Zigarette. Wurde Francisco vor seinem Tod gefoltert? Wie können Menschen nur so hassen, fragte er sich. Dann schlug er nochmals im Bericht nach, aber dort war über die Flecken nicht das Geringste zu lesen. Was für eine Schlampigkeit. Oder Absicht. Er begann zu husten. Die Lungenentzündung machte sich wieder bemerkbar. Angeekelt von den Fotografien legte er das Dossier zur Seite. An Schlaf war nicht zu denken. Baptista nahm sich daher den Reiseführer über Corvo zur Hand.

Er entdeckte eine höchst ungewöhnliche Insel. Corvo ist die kleinste und nördlichste Insel der Azoren. Sie liegt nur wenige Seemeilen von der Nachbarinsel Flores entfernt und ist siebzehn Quadratkilometer groß. Am Fuß eines Vulkankraters befindet sich die Hauptstadt Nova do Corvo. Sie ist mit gut dreihundert Einwohnern die kleinste Gemeinde mit Stadtrecht in Portugal. Die Infrastruktur ist für europäische Verhältnisse völlig unterentwickelt. Selbst Priester und Ärzte waren noch vor zwanzig Jahren nur auf der Nachbarinsel zu bekommen. In dem Führer waren einige Bilder zu sehen. Ein Paradies, dachte er. Und nun ein Mord, der erste Mord in der Inselgeschichte. Wahrscheinlich wird sich niemand freuen mich zu sehen, ahnte Baptista. Seine Magenschmerzen ließen nach. Er löschte das Licht und fiel in einen unruhigen Schlaf.

Eine Wasserleiche stach mit einem Messer wild auf seinen Brustkorb ein. Schweißgebadet wachte er auf. Seine Lungen schmerzten. Die Dämmerung hatte begonnen. Es war kurz nach sechs. Entkräftet und übermüdet stand er auf und rasierte sich. Der Spiegel war beschlagen. Er schnitt sich am Hals und begann zu bluten. Wie ein abgeschlachtetes Schwein, ging es ihm durch den Kopf. Mit einem Handtuch versuchte er vergeblich die Blutung zu stillen. Er nahm sein Hemd vom Bügel und ging gegen sieben Uhr nach unten in den kleinen Frühstücksraum.

Das Schweigen der Familie

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