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Donnerstagmittag, 13. Juni

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Es war noch früher Mittag, als sie Marias Haus verließen. Fiebrig wankte Baptista durch den Garten. Auf dem Weg zum Auto stützte er sich mehrmals an einigen Pfosten ab. Etwas Eigenartiges kam ihm ins Gesichtsfeld, aber er war zu müde, um darüber nachzudenken. Es passte nicht mehr in seinen wummernden Kopf. Er bat, in die Pension zu fahren und erst am Nachmittag mit der Untersuchung fortzufahren. Kaum angekommen, musste er sich vor Schmerz übergeben. Dann trank er Leitungswasser und sank in einen kurzen komaähnlichen Schlaf. Als er aufwachte, hatte er hohes Fieber, jedenfalls fühlte sich sein Körper so an. Dennoch ging es ihm besser als zuvor. Seine Kopfschmerzen hatten nachgelassen. Langsam setzte er sich auf. Er musste einige Stunden geschlafen haben. Aber für eine kurze Befragung war noch Zeit. Er zog sich erneut um. Dann ging er nach unten und rief bei Delgado an. Dessen Frau war am Telefon und sagte ihm, dass Delgado in der Bar Di Caldeirão zu finden sei. Ohne einen genauen Plan, wo das sein könnte, lief Baptista Richtung Zentrum los.

Die kleine Stadt hatte eine intensive Wirkung auf jeden Betrachter. Man konnte jedem Winkel seine Besonderheit ansehen. Nur dreihundert Menschen auf kleinstem Raum. Eine geschlossene Gemeinschaft. Kaum Infrastruktur, ein Arzt, der gelegentlich vorbeikam. Alle versuchten gemeinsam der Natur zu trotzen. Waren nicht alle irgendwie gleich? Jeder hatte Fischer in seiner Familie und Bauern. Es gab hier keine Programmierer oder Finanzmakler. Warum auch? Für wen sollte man denn eine Villa mit Pool haben? Mit einem Auto konnte man vielleicht zwanzig Minuten fahren. Niemand braucht dafür eine Luxuskarosse. Auch die Fassaden der Häuser. Für wen machte man sie schön? Für die eigene Verwandtschaft? Es war einfach zu klein für große Unterschiede. Baptista lief einige Straßen in Richtung des ansteigenden Teils der Stadt. Als er an einem der kleinen Häuser vorüberging, hörte er Stimmengewirr und Musik. Er ging einige Schritte zurück. Dann erkannte er, dass hier die besagte Bar sein musste. Er trat ein. Die Stimmen verstummten. »Baptista, hier bin ich. Setzen Sie sich, bis ich mein Bier ausgetrunken habe.« Baptista konnte in der Dunkelheit nicht sofort sehen. So stieß er schmerzhaft gegen eine Tischkante, als er in Richtung von Delgados Stimme ging. Allmählich begannen die Gestalten um ihn herum wieder zu sprechen. »Geht es Ihnen besser?«, fragte Delgado. »Geht so. Ich brauche gleich morgen den Arzt.« »Wie sollen wir weiter machen?« »Wir sollten die Geschwister besuchen.« »Gut. Marias Schwestern wohnen hier in der Straße.« Delgado trank sein Bier aus, warf ein Geldstück auf den Tisch und nickte den anderen beim Hinausgehen kurz zu.

Sie gingen wenige Schritte. Dann klopfte Delgado und trat ein. »Ich komme gleich«, hörten sie aus dem oberen Stockwerk. Eine sechzehnjährige Schwarzhaarige lief mit gekonntem Hüftschwung die Treppe hinunter. »Ach du bist’s, Magdalena. Ist deine Mutter da?« »Sie ist bei Lorenzía. Geht doch einfach rüber. Was gibt’s denn?« »Baptista. Sehr erfreut. Ich bin der Comissário. Einige Fragen müsste ich Ihrer Mutter stellen.« »Wir gehen gleich rüber«, meinte Delgado etwas abrupt. »Dann können wir ihre Schwester gleich mitbefragen.« Baptista fühlte sich etwas übertölpelt. Familienangehörige gemeinsam zu befragen, hatte sich in seiner Arbeit als ungünstig erwiesen.

Zumeist gibt es klare Hierarchien und der eine plappert dem anderen nur nach. Er fühlte sich aber auch zu schwach, um zu protestieren. Als sie rausgingen, bemerkte er nicht, dass Magdalena schnell zum Telefon lief.

Zwei Häuser weiter war schon das Haus von Sophia. Wie üblich ein kurzes Klopfen, bevor sie in das nicht abgeschlossene Haus eintraten. »Sophia? Lorenzía?« »Wir sind im Garten!«, rief es. Sie gingen in den Garten, wo die beiden Frauen bei einem Erva do Calhau, einer wunderbaren Süßspeise, saßen. »Darf ich vorstellen, Senhor Baptista vom Kontinent.« »Meine Damen, entschuldigen Sie die Störung, aber im Zusammenhang mit Franciscos Tod habe ich einige Fragen zu stellen.« »Selbstverständlich«, lächelte ihn Sophia an. Sie war vielleicht vierzig Jahre alt, sah aber aus wie ein pummeliges, rundes Mädchen. Ihre Wangen waren rosa gefärbt und sie strahlte eine unverbesserliche gute Stimmung aus. Lorenzía wirkte wie das Gegenstück. Dunkle Augenringe dominierten ihr Gesicht. Es war hager und hatte durch ihre Frisur und ihre helle Haut etwas Düsteres. »Fragen Sie.« »Hatte Francisco irgendwelche Feinde, von denen Sie beide wissen oder vielleicht andere offene Streitigkeiten?« Die beiden Schwestern schauten sich an. Man konnte förmlich sehen, wie zwischen ihren Augen die Gedankengänge hin und her strömten. Schließlich antwortete Lorenzía mit ihrer dunklen Stimme: »Francisco war unser Schwager. Es ist schwer, über seinen Schwager zu sprechen. Aber vielleicht kann man schon sagen, dass er nicht der Beliebteste auf der Insel war. Sein Vater hatte eine harte Hand. Und er glaubte, dass Schläge einen Mann härter machen würden. Pão und Francisco hatten beide ihre Art damit umzugehen. Während Pão sich in sein eigensinniges Dasein zurückzog, gab Francisco seine Wut immer an die anderen weiter.«

»Aber er hatte auch seine lieben Seiten«, warf Sophia ein. »Er beschützte mich gelegentlich vor Horazio und dessen Bande.« »Du bist immer so nachsehend. Erinnerst du dich noch, wie er Pão verprügelt hat? Wir dachten, er sei tot. Wie auch immer. Weil jeder so seine Erfahrung mit Francisco gemacht hat, gab es eine Reihe von Feinden.« »Meine Schwester hat ihm nicht gut getan«, warf Sophia ein. »Diese Ziege. Sie wollte immer nur, dass er arbeitet. Nie hat sie ihm eine Pause gegönnt. Und selbst war sie immer mit Kleinigkeiten beschäftigt.« Baptista versuchte verzweifelt die Namen und Erzählungen zu notieren. Seine Hand war durch das Fieber aber noch langsamer als sonst. Schließlich gab er auf. »Gab es denn jemand Besonderen unter diesen Menschen? Jemand, dem sie einen Mord zutrauen würden?« Wieder sahen sich die Schwestern an. Baptista sah es kurz in Lorenzías Augen aufblitzen. Da wusste er, dass sie einen Verdacht hatten. »Nein«, sagte Lorenzía. »Nicht, dass wir wüssten.« Sophia nickte zustimmend und aß den Rest des Desserts.

Lorenzía entschuldigte sich kurz und ging ins Haus. Von der anderen Gartenseite rief ein Bekannter Delgado etwas zu. Er ging zu ihm und so war Baptista kurz mit Sophia allein. Sie lächelte verschämt. Dann wisperte sie kichernd und leise: »Der alte Bastelio hat ihm letzten Monat gedroht. Wegen des neuen Grundstücks. Aber sagen Sie bloß nicht, dass Sie es von mir haben.« Als Lorenzía wieder in den Garten kam, lachte Sophie übertrieben. In ihren Augen war aber eine kleine Träne zu sehen. Das war die erste Person, die um Francisco zu trauern schien. »Vielen Dank für Ihre Zeit«, verabschiedete sich Baptista. »Möglicherweise muss ich Sie in den kommenden Tagen noch einmal stören.« Delgado nickte seinem Bekannten kurz zu und ging mit Baptista zum Auto. »Meine Frau hat heute eine Barca für Sie gemacht. Sie werden begeistert sein. Das päppelt Sie auf.« Baptista wurde schon bei dem Gedanken an Essen übel. Dennoch wagte er nicht abzulehnen.

Als sie in Delgados Haus eintraten, war Baptista erneut von dessen Frau fasziniert. Sie strahlte eine große Autorität und Ruhe aus. Dabei wirkte sie aber nicht abschreckend und herrisch, sondern würdevoll und erotisch. Eine winzige Handbewegung genügte ihr, um zu demonstrieren, wo man zu sitzen hatte. Oder ihrem Gatten den Unmut über die zu laute Musik zu zeigen.

Baptista war nicht verheiratet, eine echte Seltenheit unter den Kollegen aus dem Kommissariat. Nicht, dass er keine Gelegenheit gehabt hätte. Doch sobald die Abenteuer etwas seriöser wurden, gab er seinem Beruf stets den Vorrang. Selbst würde er das nicht so formulieren. Er konnte sich einfach den traumatischen Erlebnissen nicht entziehen, die ihn im Kommissariat umgaben. Der Fall eines strangulierten Jungen ergriff ihn beispielsweise eines Tages so sehr, dass er einen geplanten Kurzurlaub nach Paris nicht antreten wollte und verfallen ließ. Solche Ereignisse führten früher oder später – meistens früher – zum Bruch der aufkeimenden Beziehung. Umso mehr genoss es Baptista, nun einer hübschen Frau gegenüberzusitzen.

Delgado verhielt sich auffällig ruhig. Er sprach nicht über die Ermittlungen. Stattdessen brummte er gelegentlich ein zufriedenes Geräusch. Gegen neun Uhr klingelte es an der Tür. Der Bruder von Delgados Frau erzählte aufgeregt, dass der Strom in seinem Haus ausgefallen sei und er dringend das handwerkliche Geschick von Delgado bräuchte. Der ließ sich so geschmeichelt auch nicht lange bitten und ging mit seinem Schwager los. »Aber Sie bleiben doch noch zum Nachtisch!«, meinte Delgados Frau.

Baptista war sich nicht sicher, wie unschuldig das klang. Für ihn war es trotz oder gar wegen des Fiebers eine höchst prickelnde Vorstellung.

Senhora Delgado servierte eine köstliche Süßigkeit. »Wie lange werden Sie denn hier bleiben?«, erkundigte sie sich. »Wenn ich solche Köstlichkeiten vor mir habe, möchte ich nicht so schnell von hier fort.« Baptista meinte eigentlich das Dessert, wurde sich aber bewusst, dass er höchst doppeldeutig sprach. Er errötete. »Das Fieber treibt Ihnen die Hitze ins Gesicht«, meinte Senhora Delgado. »Sie gehören ins Bett und sollten sich pflegen lassen.« »Nichts wäre mir angenehmer. Aber dafür bin ich nicht die vielen Stunden aus Berlin nach Corvo geflogen.« »Leben Sie gerne in der Großstadt?« »Es hat sich so ergeben. Früher war es mir wichtig, heute hätte ich gerne mehr Ruhe. Aber meine Freunde leben in der Umgebung von Berlin oder Brüssel. Ich würde mich auf dem Land alleine fühlen.« »Sie würden dort neue Bekanntschaften schließen, glauben Sie mir.«

Senhora Delgado rückte den Stuhl etwas näher und zündete einen Kerzenleuchter an. Die Dunkelheit senkte Baptista nun endgültig in ein Fieber-Delirium. Das Essen, der Alkohol, das Ziehen in den Lenden. Mit letzter Energie sprang er auf. »Ich muss dringend ins Bett.« »Ich begleite Sie. In Ihrem Zustand finden Sie den Weg ja nicht.« So liefen die beiden unter Sternen und leuchtender Mondsichel zum Hotel. Unterwegs wurde es Baptista dermaßen schwindelig, dass er sich auf eine kleine Mauer setzen musste. Als sie ihn hinauf in sein Zimmer gebracht hatte, legte er sich aufs Bett und schlief sofort ein. Senhora Delgado zögerte kurz, dann zog sie ihn aus. Sie war zufrieden mit dem, was sie sah. Lächelnd machte sie sich auf den Heimweg.

Das Schweigen der Familie

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