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3.

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„Und was nun?”, fragte sie eine halbe Stunde später, als er den Wagen aus der Garage setzte und auf die Straße einbog, um schon nach wenigen Metern zu beschleunigen. Sie hatte gar nicht erst Anstalten gemacht, selbst fahren zu wollen und kauerte in ihrem Sitz.

Obschon es, wie nach den vielen heißen Tagen zuvor, wiederum eine warme Nacht war, hatte sie sich etwas übergezogen, eine kleine Jacke aus Leder, die deutlich zu teuer für diesen Anlass wirkte und knapp saß, was ihre Brust noch voller erschien ließ, als er sie von vorhin in Erinnerung hatte. Er musste ein paarmal dort hinsehen, obwohl er es eigentlich nicht wollte, und auch in ihr mädchenhaftes Gesicht, in dem Anspannung, Angst und Müdigkeit lagen. Sie hatte es sich inzwischen gewaschen, aber auf neues Make-up verzichtet.

„Versuchen Sie einfach, sich ein bisschen zu entspannen”, sagte er. Als sie auf der Potsdamer Chaussee waren, der großen Ausfallstraße in Richtung Südwesten, fragte er sie:

„Was meinen Sie, hat ihn eigentlich jemand gesehen, als er zu Ihnen kam?”

„Wieso, weshalb? Ist das wichtig? Könnte das...irgendwie...gefährlich sein?”, fragte sie erschrocken zurück. Dann überlegte sie kurz. „Nein, ich glaube nicht. Die Nachbarn auf der einen Seite, Burgmüllers, sind gar nicht da, die sind in Urlaub. Und die anderen, die Schöllers, kümmern sich praktisch überhaupt nicht um andere Leute. Aber das tun ja die meisten nicht dort in der Gegend. Wieso wollen Sie das wissen?”

„Ach, nur so, schon gut”.

Wenig später wollte er erneut etwas wissen.

„Das Messer – stammte das eigentlich aus solch einem Sortiment, steckte es in einem dieser Blöcke, die man komplett kaufen kann?”

„Das Messer, oh Gott”, sagte sie und zuckte zusammen. „Nein, so etwas habe ich nicht. Kein Block. Es hat vorher einfach nur in der Schublade gelegen.”

„Das ist gut.”

„Aber wieso?”

„Vergessen Sie's, denken Sie einfach nicht mehr daran.”

Die ganze Zeit arbeitete es in seinem Kopf, genau genommen schon seit dem Moment, als er sich erstmals über den Toten gebeugt hatte. Anfangs hatte er vorübergehend erwogen, ihn nach Spandau zu bringen, in die Nähe seiner Adresse. Aber er kannte sich dort nicht aus, wie die meisten Berliner, in deren Augen dieser Bezirk eine Art exterritoriales, nicht wirklich zur Hauptstadt gehörendes Gebiet war; und er wohnte ohnehin erst seit gut drei Jahren in dieser Stadt und war noch längst nicht überall gewesen.

Am besten würde es sein, in den Grunewald zu fahren. Er lief oder wanderte dort dann und wann und wusste, dass es befahrbare Wege gab, die ziemlich tief in den Wald hineinführten. Er war sich nur noch nicht ganz klar darüber, was genau sie mit dem Leichnam machen sollten – ihn einfach irgendwo ablegen oder versuchen, ihn zu verstecken.

Was sind das nur für Gedanken, schoss es ihm immer wieder durch den Kopf. Er erinnerte sich, wie er einmal im Sudan dabei gewesen war, als Männer, die sich selbst als Freiheitskämpfer bezeichneten, die Leichen mehrerer Soldaten hatten verschwinden lassen. Sie hatten sie mit Benzin überschüttet und anschließend die verkohlten Reste vergraben. Sein Bericht hierüber war, entgegen allen üblichen Gepflogenheiten, unter einem Pseudonym abgedruckt worden.

Auf der Straße war weit und breit kein anderes Fahrzeug zu sehen, als er in den Wald einbog. Er überlegte, ob es von Nutzen sein könne, den Toten auszuziehen und die Kleidung zu verbrennen, verwarf den Gedanken aber sofort. Wichtig war, all seine persönlichen Gegenstände zu beseitigen und Oliver Rensing – zumindest vorübergehend und am besten für möglichst lange Zeit – in eine namenlose männliche Leiche zu verwandeln. Gefunden werden würde sie ohnehin über kurz oder lang, das war gar nicht zu vermeiden, und irgendwann würde der Namenlose identifiziert werden. Auch dagegen ließ sich nichts machen. Am wichtigsten war, dass nichts, keinerlei Spur, kein noch so geringer Hinweis auf die Tatsache zurückblieb, dass Rensing an diesem Abend bei Julia Gerlach gewesen war. Deshalb musste er auch die Decke verschwinden lassen, mit der er hatte verhindern wollen, dass etwaige Blutspuren im Wagen zurückblieben. Und noch etwas fiel ihm ein.

„Sie müssen nachher, zu Hause, noch einmal gründlich putzen und alles, wirklich alles abwischen, was er angefasst haben könnte.”

Sie nickte ergeben.

Nach etwa einem Kilometer kamen sie an eine Stelle, wo ein kleinerer, nicht befahrbarer Weg abzweigte und, wie im Scheinwerferlicht zu erkennen, der Boden von einer besonders dicken Laubschicht bedeckt war. Auch einige abgebrochene Äste und Zweige lagen herum.

„So, dann wollen wir mal”, sagte er und stoppte.

Diesmal half sie ihm ohne weitere Aufforderung. Gemeinsam hievten sie den Toten aus dem Wagen, trugen ihn ein Stück und ließen ihn aus der Decke auf die Erde gleiten. Mit einem Ast schaufelte er einiges Laub zur Seite, sodass eine flache Mulde entstand. Sie rollten den Leichnam hinein und verteilten das Laub darüber. Zum Schluss legte er noch einige Zweige obenauf, rollte die Decke ein und warf sie hinten in den Wagen zu der Tüte.

Als er wieder einsteigen wollte, stand sie auf einmal vor ihm und ließ sich gegen ihn fallen. Sie drückte ihr Gesicht in seine Halsbeuge.

„Bitte einmal ganz fest halten, ganz fest”, flüsterte sie, und dann: „Danke, danke.”

„Danken Sie mir nicht zu früh”, sagte er, während sie sich voneinander lösten, und bereute es sofort angesichts ihres verängstigten Blicks.

Auf der Rückfahrt sprachen sie wenig. Er fuhr einige Umwege, möglichst weit weg vom Grunewald. An einer Baustelle, vor der ein übervoller Schuttcontainer am Straßenrand stand, hielt er an und stopfte die Decke zwischen die Masse aus Mörtelresten, Steinen, leeren Zementsäcken und verschmutzten Plastikplanen.

Als sie in Lichterfelde auf einer der Kanalbrücken waren, bremste er abermals, wartete, bis ein Auto fort war, das gerade vorbeikam, nahm das Handy und das Messer aus der Tüte und warf beides hinab in das dunkle träge Wasser. Den Fahrschein zerfetzte er, sodass die Schnipsel hinterherregneten. Den Schlüsselbund ließ er einige hundert Meter weiter in einen Gully fallen. Jetzt befand sich nur noch Oliver Rensings Brieftasche in der Tüte. Er zog sie heraus, schob sie in seine Jackentasche, zerknüllte die Tüte und steckte sie an einer Bushaltestelle in den Abfalleimer.

Sie hatte alles, was er tat, mit aufmerksamen, unsicheren Blicken verfolgt. Er selbst betrachtete sein Vorgehen als wahrscheinlich übertrieben akribisch. Doch wenn er sich schon auf all dies eingelassen hatte, wollte er auch ganz sicher gehen und keinen unnötigen Fehler machen.

„Was haben Sie denn mit der Brieftasche vor?”, fragte sie.

„Nur Geduld”, sagte er etwas schroff, weil sich in ihm gerade ein unbestimmtes Gefühl von Bitterkeit und Unbehagen regte, “das werden Sie dann schon noch sehen.”

Als sie wieder bei ihrem Haus ankamen, begann bereits das Morgendämmern mit ersten zaghaften Ansätzen den Himmel zu färben.

Sie weigerte sich, auszusteigen.

„Ich kann das nicht, ich kann jetzt nicht in dieses Haus”, schluchzte sie unvermittelt auf und klammerte sich an seinen Arm.

„Na, na, was soll denn das”, sagte er mit einem rauen Klang in der Stimme. „Es ist doch jetzt gut. Und Sie müssen doch sowieso wieder dorthin zurück. Es nützt überhaupt gar nichts, wenn Sie sich jetzt dagegen sperren.”

„Kann ich nicht mit zu Ihnen? Nur für diese paar Stunden, bis es richtig Tag ist?”

„Nein, tut mir leid, das geht nicht, auf keinen Fall”, antwortete er entschieden.

Sie gab plötzlich einen glucksenden Laut von sich, der wie eine Mischung aus Jammern und einem kleinen ratlosen Lacher klang und sagte leise:

„Irgendwie ist das alles doch völlig verrückt. Ich weiß überhaupt gar nicht, wer Sie sind, nur, dass Sie Robert Kessel heißen. Sind Sie eigentlich auch verheiratet?”

„Kessler”, verbesserte er sie. „Nein, bin ich nicht, aber ich lebe in einer festen Beziehung.”

Erst jetzt musste er wieder an Eva denken. Es war nur gut, dass sie zurzeit nicht da war, sondern aus beruflichen Gründen für einige Tage nach Köln gefahren war. Ob sie sonst jetzt bei ihm zu Hause gewesen wäre, war allerdings fraglich. Sie hatte ihre eigene Wohnung in Potsdam, wo sie bei einer Filmproduktionsfirma arbeitete, und häufiger als zweimal pro Woche blieb sie fast nie über Nacht bei ihm, zudem meist am Wochenende. Rein theoretisch wäre es also möglich gewesen, Julia Gerlach mit in seine Wohnung zu nehmen – wenn nicht die übrigen Hausbewohner gewesen wären.

Er wohnte in einer Altbauwohnung in einer der großen, alten, für das Viertel typischen Gründerzeitvillen, etwa zwanzig Gehminuten vom Haus der Gerlachs entfernt, und er verstand sich mit den Mietern der übrigen vier Wohnungen gut. Aber in dem Haus wurde ziemlich viel geredet. Normalerweise störte er sich nicht daran. Doch was geschehen würde, wenn er dort plötzlich mit einer fremden Frau erschiene, einer anderen als Eva, konnte er sich lebhaft vorstellen. Bestimmt würde es irgendjemand mitbekommen, spätestens, wenn die Frau das Haus wieder verließe. Und schon würde das Getuschel losgehen.

„Können Sie denn wenigstens noch mit zu mir reinkommen?”, fragte sie schüchtern. „Nur für eine Weile, ich kann jetzt einfach nicht allein sein.”

„Ja, das lässt sich machen”, sagte er. Das hatte er ohnehin vorgehabt, um sich noch einmal zu vergewissern, dass es auch wirklich nirgendwo mehr irgendwelche Spuren gab. Sie atmete erleichterte auf.

Nachdem er den Wagen in die Garage gefahren hatte und sie wieder im Wohnzimmer saßen, fragte er sie, wann denn ihr Mann zurückkomme.

„Freitag, also übermorgen...ach nein, wir haben ja schon Donnerstag. Ich bin ganz durcheinander, ich weiß gar nichts.”

Sie ließ sich in ihren Sessel sinken, holte wieder ihre Zigaretten aus der Handtasche und bot auch ihm eine an. Er griff auch diesmal zu und inhalierte so tief, dass seine Lungen fast schmerzten. Aber er nahm sich vor, es dabei zu belassen und nicht wieder damit anzufangen. Auch nicht mit dem Trinken. Von dem Wein vorhin merkte er schon gar nichts mehr. Er hatte ihn fast vergessen.

„Sie sollten jetzt duschen oder baden und sich dann schlafen legen. Schlafen Sie so lange wie möglich”, sagte er. „Am besten nehmen Sie noch mal etwas zur Beruhigung”.

„Ja ja, zur Beruhigung. Julia nimmt etwas zur Beruhigung und schon wird alles gut. Nichts ist gut, gar nichts”, stieß sie in einem unvermittelt seltsam höhnischen Ton hervor, um dann resigniert, mit kleiner Stimme fortzufahren: „Sie wissen wahrscheinlich gar nicht, wovon Sie reden, weil Sie so etwas selbst nicht kennen. Ich habe Angst, schreckliche Angst, schon seit längerem, immer wieder, nicht nur heute, nicht nur wegen dieses......dieses Unglücks. Es sind solche Panikattacken, die mich immer wieder wie aus heiterem Himmel überkommen, verstehen Sie? Nein, Sie verstehen es bestimmt nicht, niemand kann das verstehen, der es noch nicht selbst erlebt hat. Es ist schrecklich, einfach nur schrecklich.”

Sie schaute ihn ähnlich an wie schon vorhin, als sie zum ersten Mal hier gesessen hatten, so als versuche sie zu ergründen, wer er eigentlich sei.

„Sie sind bestimmt jemand, der gar nicht weiß, was das Wort Angst überhaupt bedeutet.”

„Oh doch, seien Sie unbesorgt, das weiß ich ziemlich genau”, entgegnete er knapp. Dann ließ er sich von ihr erneut etwas zum Putzen bringen und bat sie außerdem um eine Schere.

„Gehen Sie nur, gehen Sie ins Bad, ich mache das hier schon”, sagte er und ignorierte ihren fragenden Blick.

Nachdem sie hinauf ins Bad gegangen war, nahm er sich noch einmal den Boden in der Diele und in der Küche vor, widmete sich besonders intensiv der Türschwelle, wischte den Glastisch im Wohnzimmer ab, spülte in der Küche alle Gläser sorgfältig aus und rieb auch sämtliche Türklinken ab. Anschließend beschäftigte er sich ausgiebig mit Oliver Rensings Brieftasche. Er zog die Karten und den Personalausweis heraus und zerschnitt alles in kleine Streifen und Stücke. Auch die Brieftasche zerschnitt er, was sich als ziemlich mühselig erwies, denn die Schere war nicht richtig scharf und das Leder sehr zäh.

Als er mit dieser Arbeit endlich fertig war, trug er alles zusammen ins Gäste-WC gegenüber der Kellertür und warf es in die Toilette. Er musste mehrmals die Spülung drücken, bis auch die letzten Überreste all dessen, was er von dem Toten noch bei sich getragen hatte, mit einem Gurgeln hinabgesogen worden waren.

Die Idee zu dieser definitiven Entsorgungsmethode war ihm erst gekommen, als sie schon in die Kolbestraße eingebogen waren. Zweifellos konnte man es als pietätlos bezeichnen, die persönlichen Hinterlassenschaften eines Menschen ins Klo zu spülen. Doch wesentlich entwürdigender als alles Vorherige war das auch wieder nicht, was sowohl für den Toten galt als auch für ihn, Robert Kessler, und sein Tun, wie ihm abermals mit einer dunklen Aufwallung zum Bewusstsein kam. Jedenfalls war jetzt nichts mehr übrig, was an den toten Mann hätte erinnern können – nichts, bis auf die Geldscheine und die Münzen, die er beiseite getan hatte, bevor er mit seinem Zerstörungswerk begonnen hatte. Geld war schließlich neutral. Es gab nichts Neutraleres, nichts Unpersönlicheres als Geld. Er legte alles auf den Glastisch – es waren genau 93,65 Euro.

Als sie wieder zur Tür hereinkam, hatte sie einen weißen Bademantel an, der kurz genug war, um viel von ihren schlanken, schönen, leicht gebräunten Beinen zu zeigen. Sie hatte ihn nur lose zugebunden. Ihr Haar war noch nass und verstrubbelt.

„So, alles erledigt. Ich muss dann mal so allmählich los”, sagte er und stand aus dem Sessel auf.

Mit ein paar schnellen Schritten war sie bei ihm.

„Muss das wirklich sein? Können Sie nicht noch etwas bleiben?”

Sie trat noch dichter an ihn heran, umklammerte seine Schultern. Der Gürtel des Bademantels löste sich und er fiel auseinander.

„Bitte bleiben Sie...bleib doch einfach hier. Wir können auch zusammen schlafen, falls du...falls Sie das wollen.”

Er wollte das nicht, obschon ihm nur zu bewusst war, dass vieles dafür sprach, dass er genau das wollte.

„Nun wollen wir doch mal vernünftig sein”, sagte er und machte sich los. Für eine Weile schwiegen sie beide. Ihre Augen suchten seinen Blick.

„Können wir denn wenigstens mal telefonieren?”, fragte sie zaghaft, als sie einsah, dass es zwecklos war. “Ich meine, falls irgendetwas ist. Ich weiß doch überhaupt nicht, was da jetzt noch alles auf mich zukommen kann, was alles noch passieren kann.”

Er gab ihr nur die Festnetznummer und sie kramte ihr Handy aus der Handtasche hervor und tippte sie ein. Dann wollte sie auch seine Adresse wissen. Er zögerte. Er hatte das dunkle Gefühl, dass es bereits falsch gewesen war, ihr seinen Namen zu nennen, aber das ließ sich ja nun nicht mehr rückgängig machen. Nichts ließ sich mehr rückgängig machen.

„Grünewaldstraße”, sagte er nur, „es ist nicht allzu weit von hier, ungefähr zwanzig Gehminuten. Steht aber auch im Telefonverzeichnis.”

Erst jetzt entdeckte sie das Geld auf dem Tisch.

„Was ist denn das dort? Was soll das?”, fragte sie.

„Das war in seiner Brieftasche.”

„Und was soll ich damit?”

„Sie können es ja spenden. Spenden Sie es für Amnesty International oder die Kindernothilfe oder von mir aus auch für Attac”, sagte er mit einem Beiklang von verhaltenem Sarkasmus. Sie quittierte es mit einem verständnislosen, wunden Blick, der an den Blick eines getroffenen Tiers erinnerte.

Die Frau am Tor

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