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6.

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„Hallo? Hier ist Julia”, sagte sie wieder. Und diesmal legte sie nicht auf.

Es war kurz nach neun, und er war nach dem dritten Klingeln aus dem Bett gesprungen, nachdem er sich vergewissert hatte, dass Eva neben ihm weiterhin, tief atmend und gelegentlich ein bisschen schnorchelnd, ihre gleichmäßigen Schlafgeräusche von sich gab; auch das Ausschlafen am Samstagmorgen gehörte zu ihren festen Regeln. Er selbst hatte schon seit mehr als einer Stunde wach gelegen, verschwitzt und den Kopf voll von vagen Resten eines unruhigen Traums, die sich mit jenen anderen Bildern vermischten, die leider nicht einem Traum entstammten, sondern einer nur zu realen nächtlichen Begebenheit, die gerade dabei war, ihn wieder einzuholen.

Vorsichtshalber nahm er den Apparat mit ins Bad und verschloss die Tür hinter sich.

„Was ist los? Weshalb rufen Sie an?” Er versuchte, fest und energisch zu klingen, aber das gelang ihm höchstens halbwegs.

„Entschuldigung, ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt. Haben Sie heute schon Zeitung gelesen? Ich habe das gerade getan. Sie haben ihn gefunden. Ich...ich bin...völlig fertig. Ich halte das nicht aus. Ich weiß nicht, wie ich das.....”

Ihre Stimme zitterte und drohte umzukippen.

„Herrgott, nun beruhigen Sie sich doch. Das war doch zu erwarten. Und es hat doch zunächst einmal gar nichts zu bedeuten für Sie. Oder hatten Sie etwa gedacht, er würde dort ewig unentdeckt bleiben?”, sagte er.

Er gab sich Mühe, ruhig zu wirken, obwohl er immer noch weit weniger ruhig war, als er gern gewesen wäre. Nur allmählich begann er sich etwas zu fassen.

„Aber ich habe Angst, ich habe solch eine schreckliche Angst.”

„Die müssen Sie aber gar nicht haben. Sie werden sehen, nichts wird passieren. Wo ist denn übrigens Ihr Mann? Wollte der nicht gestern zurück sein?”

Der Gedanke war ihm erst in diesem Moment gekommen und er meinte ein kleines Zögern bei ihr zu merken.

„Der ist gerade los, eine Runde joggen und Brötchen holen“, entgegnete sie stockend. „Mein Gott, wenn er wüsste...”

„Nun beruhigen Sie sich doch, bitte, versuchen Sie einfach, ganz ruhig zu bleiben”, beschwor er sie.

„Kann ich Sie denn vielleicht später noch mal anrufen?“, kam es fast flehend zurück. „Irgendwann am Nachmittag? Da muss er nämlich noch mal weg.”

„Hören Sie, das geht nicht. Ich bin nicht allein, meine...Partnerin ist das ganze Wochenende über bei mir. Wir sind auch wahrscheinlich kaum zu Hause. Also bitte, seien Sie vernünftig, bitte.”

Er sagte das nicht unfreundlich, aber doch mit einer kaum misszuverstehenden Bestimmtheit.

Sie schwieg eine Weile und murmelte dann noch etwas, das er nicht verstand, es klang eher wie ein Seufzer. Dann war die Leitung tot.

Er hatte kaum das Telefon zurück auf die Station gelegt, als die Schlafzimmertür aufging und Eva ihn gähnend fragte, wieso er denn schon auf den Beinen sei. Er riet ihr, sich noch ein bisschen hinzulegen, er werde derweil das Frühstück vorbereiten. Doch sie klagte, dazu sei es viel zu warm, und verzog sich ins Bad.

Er atmete einige Male tief durch und holte den „Tagesspiegel“ herein, den er immer noch abonniert hatte, obschon ihm für die Zeitungslektüre mittlerweile die Online-Ausgaben vollauf reichten. In der Küche, während der Kaffee durchlief, durchsuchte er den Lokalteil und stieß auf der zweiten Seite unten auf eine relativ kurze, relativ nichtssagende Meldung, deren Verfasser offensichtlich wenig Ehrgeiz gehabt hatte, den Polizeibericht umzuschreiben. Sie besagte, dass Spaziergänger im Grunewald durch ihren Hund auf den Toten aufmerksam gemacht worden seien, nachdem das Tier plötzlich im Laub zu scharren begonnen habe. Die Identität des Mannes sei bisher unbekannt. Auch die Tatwaffe fehle. Es handele sich eindeutig um ein Verbrechen. Und fest stehe auch, dass der Fundort nicht der Tatort sei. Wesentlich eindrucksvoller als der Text – zumindest, was die Wirkung auf ihn, den Leser Robert Kessler anbelangte – war das Foto, das über der Titelzeile „Unbekannter Toter im Grunewald gefunden” platziert war. Es zeigte das Gesicht des Mannes, der den Namen Oliver Rensing getragen hatte, in seinem Zustand als einstweilen anonyme männliche Leiche.

Er faltete die Zeitung wieder zusammen und legte sie mit auf den Tisch in der Küche, wo sie zu frühstücken pflegten. Sie aßen beide morgens nicht sehr viel und es lohnte nicht, deswegen den Tisch im Wohnzimmer zu decken. Außerdem war die Küche geräumig genug, so wie viele Küchen in den alten, großzügig dimensionierten Wohnungen. Während er Toast, Quark und Honig auf den Tisch stellte, ging ihm die Frage durch den Kopf, wie lange es wohl dauern würde, bis die Polizei dahinter käme, welcher Name zu dem unbekannten toten Mann gehörte.

Eva blätterte die Zeitung einmal durch und legte sie weg. Sie interessierte sich nicht besonders für das, was darin stand, höchstens für die Veranstaltungsrubriken, doch ihr Programm für diesen Tag stand ohnehin längst fest. Als erstes fuhren sie zum Martin-Gropius-Bau, um sich die Bilder von Frieda Kahlo anzusehen, die dort nur noch für kurze Zeit in einer viel gerühmten Ausstellung gezeigt wurden. Eva selbst musste jedoch zugeben, dass dies „keine wirklich gute Idee” gewesen war, denn sie mussten bei brütender Hitze beinahe zwei Stunden um Karten anstehen, um sich anschließend als passive Bestandteile einer dichtgedrängten, schiebenden Masse wiederzufinden. Danach flüchteten sie erschöpft und leicht frustriert ins Café Einstein an der Kurfürstenstraße, ihrer beider Lieblingscafé, wo sie draußen im schattigen Garten Kaffee tranken und von der berühmten Sachertorte aßen und zu dem Schluss gelangten, dass es gut wäre, auf einen Sprung nach Hause zu fahren, um zu duschen und frisches Zeug anzuziehen.

Als sie von dort wieder aufbrachen, um zum Kino-Center am Potsdamer Platz zu fahren – Eva wollte unbedingt in den neuen Film mit Leonardo di Caprio, „Inception” – , kam ihnen nach wenigen Metern in der Grünewaldstraße ein silbergrauer BMW-Kombi entgegen. Am Steuer saß eine junge Frau mit schulterlangem dunklem Haar, in das sie ihre Sonnenbrille hinaufgeschoben hatte.

Er war sich nicht hundertprozentig sicher, dass sie es war, aber zu neunzig Prozent war er es doch. Der Wagen rollte ziemlich langsam an ihnen vorbei, und allein der Umstand, dass die Fahrerin nicht zu ihnen herüberblickte, sodass er ihr Gesicht nicht richtig erkennen konnte, machte die fehlenden zehn Prozent aus. Letzten Endes zählten aber auch die nicht, dazu hatte sie zu angestrengt geradeaus geschaut.

Nachdem der Film zu Ende war, äußerte Eva sich überschwänglich und wollte wissen, wie er ihn gefunden habe. Aber er hatte kaum etwas davon mitbekommen, weil vor seiner inneren Leinwand ein anderer Film abgelaufen war, einer, der wieder und wieder abgespult wurde, ohne dass er viel dagegen tun konnte, mit Bildern und Szenen, die leider nicht fiktional waren. Er musste sich zusammenreißen, um sich nichts anmerken zu lassen, und bestätigte Evas Urteil, jedoch so beiläufig und desinteressiert, dass sie ihn kopfschüttelnd anschaute.

Da Eva am nächsten Morgen, wie immer, schon früh los musste, fuhren sie gleich nach Hause und gingen zeitig zu Bett. Fast schon im Halbschlaf, rückte sie näher an ihn heran und tastete nach ihm und er ging darauf ein.

Doch es wurde ein Fehlschlag. Er versagte.

„Macht nichts, nicht so tragisch, so etwas kann vorkommen”, murmelte sie und wälzte sich auf ihre Seite.

In der Nacht wurde er von einem Donnerschlag aus dem Schlaf gerissen. Durch die Schlitze der nicht ganz heruntergelassenen Rollläden zuckten Blitze. Er stieg aus dem Bett, riss die Fenster auf und zog die Läden hoch, um endlich die ersehnte Kühle hereinzulassen. Doch die prasselnden Tropfen schienen gleich wieder zu verdunsten, was zur Folge hatte, dass die Luft nicht nur stickig blieb, sondern zusätzlich auch noch unangenehm feucht wurde. Weitere Donnerschläge folgten, die förmlich das Haus erbeben ließen. Eva bekam von all dem erstaunlicherweise nichts mit, sie schlief tief und fest weiter.

Er taumelte in die Küche und trank hintereinander zwei Glas Wasser, sah auf die Uhr, stellte fest, dass es kurz nach vier war und konnte sich nicht überwinden, wieder ins Bett zu gehen. Stattdessen wechselte er in sein Arbeitszimmer. Er versuchte zu lesen, griff sich „Die Demütigung“ von Philip Roth aus dem Regal, einem Schriftsteller, den er sehr schätzte, und warf sich in seinen Lesesessel. Es kam ihm vor, als sei es eine Ewigkeit her, dass er mit der Lektüre begonnen hatte, und er konnte sich nicht mehr genau erinnern, wie weit er bisher gekommen war, obschon es erst wenige Tage her sein musste, dass er sie unterbrochen hatte. Ein Lesezeichen hatte er nicht eingelegt und musste erst nach der Stelle suchen. Aber dann merkte er bald, dass es ihm gar nicht möglich war, die notwendige Konzentration aufzubringen, die Buchstaben schienen wie sinnlose Zeichen vor seinen Augen zu tanzen. Und er ging zurück in sein Bett, wo er lange wach lag.

Irgendwann musste er dann doch eingeschlafen sein. Am Morgen fand er auf seinem Nachttischchen einen Zettel, auf dem Eva ihm mitteilte, sie habe ihn nicht aufwecken wollen und werde sich später melden. Als gegen Mittag das Telefon im Flur klingelte, vermutete, ja hoffte er zuerst, sie sei es, ahnte aber schon seinen Irrtum, noch bevor er abgenommen hatte. Eva rief so gut wie nie über die Festnetznummer an.

Die Frau am Tor

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