Читать книгу Die Frau am Tor - Ben Worthmann - Страница 6

4.

Оглавление

Es war fast Tag, als er wieder in seiner Wohnung ankam. Er duschte, während die Kaffeemaschine lief, aß zum Frühstück seine üblichen zwei Scheiben Vollkorntoast mit Magerquark und Honig und verwarf den Gedanken, sich für ein paar Stunden ins Bett zu legen. Er würde ohnehin nicht schlafen können, und außerdem war das nicht die erste Nacht, die er ohne Schlaf hinter sich gebracht hatte. Früher waren es meist Gründe gewesen, die direkt mit seinem Job zu tun gehabt hatten – Ereignisse, die sich nicht nach der Tageszeit richteten, Zeitdruck, weil ein Beitrag unbedingt fertig werden musste. Dann, vor ein paar Jahren, waren auf einmal andere Ursachen für fehlenden Nachtschlaf hinzugekommen. Sie standen zwar auch im Zusammenhang mit dem, was er tat, jedoch mehr auf eine indirekte Weise, was dann letztlich zu der für ihn selbst überraschenden Konsequenz geführt hatte, dass er von einem bestimmten Zeitpunkt an nichts mehr tat, und zwar, weil er es einfach nicht mehr konnte.

Eines Morgens, nach einer Nacht, in der er sich schweißnass im Bett gewälzt hatte, ohne ein Auge zuzutun, war er in der bestürzenden Gewissheit aufgestanden, keine Zeile mehr schreiben zu können. Er saß an einem Artikel über Shanghai, die neue Boom-Town Ostasiens, und für ein paar Tage gelang es ihm, die Redaktion des Magazins zu vertrösten. Doch dann kapitulierte er. Auf Zureden eines Kollegen, mit dem er über fast alles reden konnte, wandte er sich an einen Arzt, der ihn nach kurzer Konsultation als „geradezu klassischen Burnout-Patienten” bezeichnete und ihm dringend riet, seinen Beruf nicht mehr auszuüben, zumindest nicht in dieser Form. Er erinnerte sich, dass ihm selbst regelrecht schwindelig geworden war, als er dem Arzt – und später auch einem Therapeuten, dessen Hilfe er zeitweise in Anspruch genommen hatte – davon erzählt hatte, was er gesehen und erlebt hatte, von all den endlos vielen Worte, die es gekostet und die er gebraucht hatte, diese Bilder und Eindrücke und Gedanken anderen, ihm völlig fremden Menschen zu vermitteln. Über Kriege und korrupte Politiker, Hungersnöte, Naturkatastrophen und Skandale, Sieger und Geschlagene, demente Boxer und Nobelpreisträger, über Leben und Tod.

Ihm war klar, weshalb er jetzt wieder an all das denken musste.

„Sie sind bestimmt jemand, der gar nicht weiß, was das Wort Angst überhaupt bedeutet”, hatte sie gesagt, und seine Antwort war absolut ehrlich gewesen. Ja, er wusste es, er kannte Angst, auch wenn sie sich paradoxerweise dann, wenn sie am ehesten begründet gewesen wäre, nie eingestellt hatte. In realen Gefahrensituationen – wie beispielsweise im Kosovo-Krieg oder eines Nachts in einer Straße in New York, wo ihn Jugendliche mit Messern umringt hatten – war es ihm fast immer gelungen, geradezu unnatürlich ruhig zu bleiben, sodass es ihm oft selbst nicht ganz geheuer war. Doch er hatte auch diese anderen Momente erlebt, in denen ihm der Boden unter den Füßen weggezogen zu werden schien, in denen er nicht an einer äußeren Bedrohung, sondern nur an sich selbst zu scheitern fürchtete.

Das Gefühl, das er jetzt in sich spürte angesichts dessen, was er in der zurückliegenden Nacht erlebt und getan hatte, glich allerdings weder der einen noch der anderen Angst, und er hätte nicht einmal zu sagen vermocht, ob es tatsächlich Angst war, die dabei die wesentliche Komponente bildete. Das alles passte überhaupt nicht in sein emotionales Wahrnehmungsraster – und in das rationale schon gar nicht. Dazu mutete es im Rückblick einfach zu unwirklich an.

Er hatte es immer nur mit der Realität zu tun gehabt, wobei ihn, zugegeben, das Offensichtliche nie besonders gereizt hatte. Vielmehr hatte er es immer als seine Aufgabe betrachtet, unter der Oberfläche dessen, was die anderen sahen und berichteten, zu einer noch tieferen Wirklichkeit vorzustoßen. Doch dies hier war noch wieder etwas völlig anderes.

Er räumte den Frühstückstisch ab und musste daran denken, wie er heute schon einmal aufgeräumt, wie er Gläser in jene andere Küche getragen und wie er geputzt und gewischt hatte, um etwaige Spuren zu beseitigen, die Hinweise auf den Mann hätten liefern können, dessen Körper er unter einer Laubdecke im Grunewald verscharrt hatte. Rein juristisch betrachtet galt das wohl als Strafvereitelung. Ein wenig kannte er sich in diesen Dingen aus, das hatte schon der Beruf mit sich gebracht; außerdem hatte er einige Semester Jura studiert, aber das war schon lange her. Auch die Beseitigung der Leiche fiel seines Wissens unter diese strafrechtliche Kategorie. Schließlich war er selbst ja erst ins Spiel gekommen, nachdem die Tat bereits ausgeführt war, sodass man ihm nicht Mittäterschaft oder Beihilfe anlasten konnte.

Aber dieser rechtliche Aspekt war gar nicht das Entscheidende, und eigentlich mochte er auch überhaupt nicht daran denken, in welch eine Lage er geriete, wenn es denn so weit käme, dass diese Fragen wirklich eine Rolle spielten. Denn das würde ja zugleich auch bedeuten, dass man der Frau, die diese Situation ursprünglich herbeigeführt hatte, die Tat nachgewiesen hätte. Nach allem, was sie ihm berichtet und dem Eindruck nach, den er von ihr gewonnen hatte, handelte es sich offenkundig um einen Fall von Notwehr. Wahr war aber auch, dass er nicht dabei gewesen war, dass es keinen Zeugen gab. Die entscheidende Frage lautete, ob es denn – jenseits der juristischen Betrachtung – moralisch vertretbar war, dass er ihr geholfen hatte, und er fragte sich das nicht nur einmal, sondern immer wieder. Doch zu einer abschließenden Antwort gelangte er nicht. Denn sobald er sich diese Frage stellte, sah er die Frau, Julia, Julia Gerlach vor seinem inneren Auge, und dann sah er sich sofort neuen, anderen Fragen ausgesetzt, und er merkte, wie sich in seinem Gehirn die Gedanken aufhäuften, kippten und zu einem Gebilde von wirrer Struktur ineinander schoben.

Gegen Mittag rief ihn Eva an. Nach wenigen Sätzen meinte sie, er wirke ein bisschen merkwürdig, ob etwas sei.

„Ach, es ist nichts weiter”, sagte er und gab sich Mühe, normal zu klingen. „Es ist hier nur immer noch entsetzlich heiß. Man kommt kaum dazu, richtig zu schlafen. Ich fühle mich ziemlich zerschlagen.”

„Ja, ich weiß, ich sehe es immer im Wetterbericht. Da um Berlin ist momentan die heißeste Gegend des ganzen Landes. Und hier regnet es.”

Er fragte sie, wie es mit ihrer Arbeit in Köln vorangehe und wann sie zurückkomme. „Deswegen rufe ich eigentlich an. Ich komme morgen, 17.50 Uhr. Kannst du mich in Tegel abholen? Das wäre schön.”

Er versprach es ihr. Er hatte sie ziemlich genau zu jener Zeit kennengelernt, da er sich weniger denn je darüber klar gewesen war, an welchem Punkt seines Lebens er angelangt war. Nachdem sich vor rund drei Jahren in der Branche herumgesprochen hatte, dass er nicht mehr schrieb, hatte es etliche Versuche gegeben, ihn umzustimmen – Versuche der großen Zeitschriften- und Magazinverlage, die für jeden anderen vermutlich eine sehr ernsthafte Versuchung dargestellt hätten. Doch er war dagegen gut gefeit gewesen. Er hatte nie große materielle Ansprüche gestellt und stets bescheiden gelebt, wobei ihm zustatten kam, dass in puncto Spesenabrechnungen seinerzeit noch eine Großzügigkeit herrschte, die später von jüngeren Kollegen, die unter der Geißel der Rationalisierung litten, ins Reich der Fabel verwiesen werden würde. Er hatte immer gut, wenn nicht sehr gut verdient und etliches beiseite gelegt.

Der Name des Reporters Robert Kessler war so etwas wie ein Markenzeichen geworden. Die Themen, über die er schrieb, mochten nicht durchweg exklusiv sein – die Art, wie er schrieb, war es umso mehr. Man schmückte sich nur zu gern damit und ließ es sich etwas kosten. Nicht von ungefähr wurde für Leute wie ihn im Branchenjargon gern der Begriff der Edelfeder verwendet, den er selbst jedoch für sich nur widerwillig akzeptierte, weil mit ihm der unausgesprochene Verdacht verbunden war, es komme ihm und seinesgleichen lediglich auf möglichst elegante, ja brillante Formulierungen an und weniger auf die Fakten und Schicksale. Doch das war ein Trugschluss. Zeitweilig hatte er sich für hart und abgebrüht gehalten – um dann mehr und mehr festzustellen, wie nahe ihm oftmals ging, was er erlebte und beschrieb und wie viel davon in ihm zurückblieb und auf ihm lastete. Und je mehr Jahre vergingen, desto schwerer wurde die Last, desto dünnhäutiger war er geworden.

Letztlich sei das Ergebnis ähnlich dem bei Menschen, die am Helfersyndrom litten, hatte der Theraupeut gemeint. Und womöglich sei dieses Zusehenmüssen, oft mit einem Gefühl der Ohnmacht, in seinen psychischen Folgen sogar noch gravierender.

Nun, was Julia Gerlach anbelangte, so habe ich es immerhin nicht beim Zusehen bewenden lassen, sagte er sich in einem Anflug von Selbstironie, als er jetzt wieder daran denken musste.

Zwei Bücher – eins über China im Aufbruch, ein anderes über das Sterben in der Sahelzone – waren gleichsam als Nebenprodukte entstanden und hatten sich gut verkauft. Und dann war, einige Jahre nach Anbruch des neuen Jahrtausends, sein Onkel in Hamburg gestorben, bei dem er nach dem frühen Tod seiner Eltern aufgewachsen war, und hatte ihm einiges hinterlassen – angelegt in bemerkenswert sicheren Anleihen, denen weder das Desaster am Neuen Markt noch jetzt die jüngste Krise etwas hatten anhaben können. Obendrein bezog er inzwischen eine Rente, da ihm amtsärztlich bescheinigt worden war, dass er nicht mehr arbeitsfähig sei. Auch das war etwas, das Eva gelegentlich zum Anlass für ironische Bemerkungen nahm.

„Ich bin mit einem Frührentner liiert”, pflegte sie dann zu sagen. Aber er nahm beides nicht weiter ernst, weder ihre Worte noch das, worauf sie anspielten. Er hatte seinerzeit beschlossen, seinen bis dahin häufig wechselnden Wohnsitz endgültig nach Berlin zu verlegen. Jemand von seinen Bekannten war der Ansicht gewesen, wenn er schon nicht mehr schreibe, könne er doch vielleicht wenigstens ein anderes Medium von seinen Erfahrungen profitieren lassen, von seinen Weltkenntnissen, seiner Urteilskraft, von seinem enormen Know-how und seiner Kompetenz in grundlegenden journalistischen Belangen.

Er hasste solche Schleimereien, hatte sich aber dennoch überreden lassen, bei der Firma „Realfilm“ in Potsdam vorbeizuschauen, die sich auf die Produktion von Dokumentarfilmen spezialisiert hatte, ursprünglich vorzugsweise zum Themenbereich Globalisierung unter soziologischen und ökologischen Aspekten. In letzter Zeit allerdings hatte sich das Betätigungsfeld, wie Evas etwas verlegenen Andeutungen zu entnehmen war, deutlich in Richtung weniger anspruchsvoller Beiträge für gewisse private Fernsehsender verschoben, die keinerlei Scheu davor hatten, auch solche Programme als Dokumentationen zu deklarieren, die einzig und allein der Befriedigung voyeuristischer Bedürfnisse dienten. Ihr gegenwärtiger Aufenthalt in Köln stand im Zusammenhang diesen neuen Aktivitäten, von denen sie nicht eben begeistert war und die sie allein damit rechtfertigte, dass sie sich gut bezahlt machten.

Der Besuch bei der Firma „Realfilm” erwies sich damals als genauso unergiebig, wie er erwartet hatte – ausgenommen höchstens den Umstand, dass es dort eine attraktive Aufnahmeleiterin gab, die Eva Uhlenbrock hieß, sechzehn Jahre jünger war als er, entfernte Ähnlichkeit mit Sharon Stone in jüngeren Jahren besaß und von Beginn wenig Hehl daraus machte, dass sie von Robert Kessler fasziniert war. Es war vor allem ihr Überschwang gewesen, mit dem sie ihn erobert hatte, ihr Mangel an Bedenken und Befangenheit, ihr Talent zur Begeisterung, die natürlich in erster Linie ihm galt, aber auch vielem anderen, sofern es nur neu war. Und selbstverständlich war er geschmeichelt gewesen, allein schon wegen ihres Aussehens und ihrer Jugend.

Davon abgesehen war es ihm aber auch in gewisser Weise logisch erschienen, nach all der Zeit der Unstete auch diesbezüglich eine gewisse Festlegung zu treffen. Sie hatte ihm auf den Kopf zugesagt, dass sie ihn für völlig bindungsunfähig hielt – wohl um sich selbst schon einmal präventiv den Lorbeer dafür zu sichern, dass sie es gewesen war und niemand sonst, die ihn bezwungen hatte, aber auch, um ihn damit zu einem sozusagen dauerhaft gelebten Dementi zu inspirieren. Aber sie hatte ja recht gehabt. Es hatte nie eine festere Bindung für ihn gegeben, nur eine lose Folge unregelmäßiger, mehr oder minder kurzer Begegnungen.

Und richtig fest, so, dass man darauf hätte schwören mögen, es würde ewig halten, wurde auch sein Verhältnis zu Eva Uhlenbrock nicht. Sie behielten jeweils ihre eigenen Wohnungen, sie ihre in Potsdam, er seine in Berlin, und besuchten sich wechselseitig, immer nur für ein oder zwei Tage und Nächte, wobei die Zeiten bei ihm deutlich überwogen, weil er, wie sie immer betonte, die schönere, größere, komfortablere Wohnung besaß. Er war heilfroh, dass er sie zu diesem Arrangement nicht groß hatte überreden müssen, da sie selbst großen Wert auf ein bestimmtes Maß an Eigenständigkeit legte.

Und je länger es ging, umso größer war seine Erleichterung, dass sie es so und nicht anders geregelt hatten. Denn er musste nach einer Weile feststellen, dass ihre Art auch ziemlich anstrengend sein konnte. Ständig war sie irgendwie auf dem Sprung, hatte dieses und jenes vor und geplant, von dem er keineswegs immer sicher war, dass es lohne, damit seine Zeit zu vertun. Und ein wenig zu oft für seinen Geschmack verwendete sie solche Vokabeln wie Projekt, Location, Kreativität, Event, Authentizität – Worte, die er nicht einmal denken konnte, geschweige denn, dass er sie je über die Lippen gebracht oder gar geschrieben hätte, höchstens als ironische Zitate. Doch zumindest in der ersten Zeit störte ihn das nicht allzu sehr. Fast nichts an ihr störte ihn zunächst. Selbst als er nach relativ kurzer Zeit die Entdeckung machte, dass die Verheißung, die ihre äußere Erscheinung suggerierte, nicht hunderprozentig den Fakten ihrer erotischen Fähigkeiten standhielt, fand er sich damit ab. Er fand sich mit so manchem ab und gewöhnte sich daran.

Sein Leben nahm einen Verlauf, von dem man sagen konnte, dass er sich in einigermaßen geordneten Bahnen vollzog – bis zu der Nacht, die an diesem Morgen zu Ende gegangen war, ohne für ihn auch nur eine Minute Schlaf bereitzuhalten, um ihm stattdessen die Begegnung mit einer Frau zu bescheren, die er im ersten Moment für eine Schlafwandlerin gehalten hatte.

Er musste etwas unternehmen, um auf andere Gedanken zu kommen, am besten etwas, das ihn körperlich so müde machte, dass er am Nachmittag ein paar Stunden schlafen konnte. Das Nächstliegende wäre gewesen, zum Schwimmen an den Schlachtensee zu fahren, so wie er es sonst immer tat. Doch der See lag am Rande des Grunewalds, und dorthin wollte er auf gar keinen Fall, obschon kaum anzunehmen war, dass man den Toten bereits gefunden hatte. Und selbst wenn, hätte ihn das rein theoretisch nicht weiter stören müssen. Aber allein der Gedanke, sich jetzt in diese Gegend zu begeben, hatte etwas Abschreckendes für ihn. Nach einigem Ringen mit sich selbst beschloss er, trotz der Hitze ins Fitnessstudio zu gehen und sich dort auszupowern. Also packte er sein Sportzeug zusammen und stieg in seinen Wagen, weil es doch ein ganzes Stück dorthin war und ihm der Sinn jetzt nicht nach einem Fußmarsch stand.

Er besaß einen alten Alfa Romeo GTV in dem markentypischen klassischen Rot, den er sich seinerzeit von dem Honorar für sein China-Buch zugelegt hatte. Der Wagen war bereits damals für sein Alter fast sündhaft teuer gewesen, und im Lauf der Jahre hatte er mindestens noch einmal so viel Geld hineingesteckt, um ihn penibel in Schuss zu halten. Alles zusammen hätte gewiss für die Anschaffung eines neueren, schnelleren Sportfahrzeugs, entsprechend den aktuellen Standards, gereicht, doch er dachte gar nicht daran, sich von seinem Alfa zu trennen. Inzwischen trug er das berühmte H-Kennzeichen für echte Oldtimer und viele beneideten ihn um dieses Schmuckstück und nannten es „eines der letzten richtigen Autos”. Er mochte die Form von Unvernunft, die sich im Besitz eines solchen Wagens ausdrückte.

Der nächste Weg zum Studio führte nicht einmal andeutungsweise durch die Kolbestraße. Trotzdem ertappte er sich dabei, dass er genau diesen Umweg nahm. Aber als er es bemerkte, war es bereits zu spät. Er hatte den Wagen offenbar ganz unbewusst in diese Richtung gelenkt, und er erschrak förmlich, als er auf einmal mit verminderter Geschwindigkeit durch die Straße rollte, durch die er gut zwölf Stunden zuvor geschlendert war, ohne zu ahnen, wie dieser nächtliche Spaziergang enden würde. Er warf einen forschenden Blick zu dem Haus hinüber, aber da war nichts, es lag dort still und friedlich, und er trat rasch aufs Gaspedal, irritiert über sich selbst.

Im Studio stellte er ziemlich rasch fest, dass es ihm schwerfiel, seine letzten verbliebenen Energiereserven zu mobilisieren. Wenn es etwas gab, das ihn besonders unangenehm daran erinnerte, dass er den Scheitelpunkt überschritten hatte und dabei war, ein älterer Mann zu werden, dann war es die Erkenntnis, dass sich die Regeneration deutlich verlangsamte und er immer längere Pausen brauchte, um sich nach Phasen der Erschöpfung zu erholen. Dennoch zwang er sich, wenigstens eine halbe Stunde mit den Gewichten zu arbeiten und eine weitere halbe Stunde auf dem Crosstrainer zuzubringen. Danach war er nicht nur sehr müde, sondern hatte plötzlich auch großen Hunger. In einem italienischen Restaurant in der Nähe seiner Wohnung, das er normalerweise mied, da es nicht übermäßig gut war, bestellte er sich eine Portion Spaghetti bolognese und einen Salat und schlang beides herunter, wie es sonst nie seine Art war. Er aß normalerweise immer langsam und bewusst und genoss das Essen, egal, ob es sich um eine teure Mahlzeit in einem Lokal oder ein Müsli zu Hause in der Küche handelte. Doch an diesem Tag fühlte er sich so ausgelaugt und leer, dass er die Nahrungszufuhr wie eine dringliche Rettungsmaßnahme empfand, als müsse ein leerer Tank aufgefüllt werden.

Es war heller Nachmittag, als er sich schließlich ins Bett legte und sofort einschlief. Er schlief bis in den Abend, und womöglich hätte er gleich durchgeschlafen, wenn nicht das Telefon geklingelt hätte. Er brauchte eine Weile, um sich zu orientieren und herauszufinden, welch lästiges Geräusch da sein Trommelfell malträtierte.

Auf schlaftrunkenen Beinen taumelte er in den Flur und langte nach dem schnurlosen Apparat. Doch nur Sekunden, nachdem er ihn von der Station genommen hatte, wurde die Verbindung am anderen Ende der Leitung auch schon unterbrochen. Ungefähr eine Viertelstunde später wiederholte sich das Ganze noch einmal.

Die Frau am Tor

Подняться наверх