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DER ERBAUER
Оглавлениеthree forgotten magic words
1979 zieht der 34-jährige Denis Tourrenc in die Gegend um Montélimar, genauer gesagt an den Ortseingang von Grignan, Adresse Grange Chapouton, in ein großes Haus mit fünfunddreißig Zimmern, mit seinen Kindern und seiner Lebensgefährtin Laurence de Staël, einer der Töchter von Nicolas de Staël. Die Staëls sind eine bedeutende Familie (der Vater von Nicolas war bis 1917 Vizegouverneur der Festung Peter-und-Paul in Sankt Petersburg und starb 1919 im polnischen Exil), ihr berühmtestes Mitglied ist der große Maler Nicolas de Staël (1914–1955), eigentlich Baron Nicolaï Vladimirovitch Staël von Holstein. In dieser Familie fühlt sich Denis wie das fünfte Rad am Wagen und entwickelt einen Minderwertigkeitskomplex, so sehr belastet ihn der Rang Nicolas de Staëls. In der Freundschaft mit Michel Petrucciani wird er ein Gegengewicht finden, das ihn weiter in dieser Familie hält, die so geprägt ist vom Genie und der Omnipräsenz des »zornsprühenden Prinzen«, wie der Maler einmal bezeichnet wurde.
Denis Tourrenc stammt aus der Sarthe und arbeitet als Architekt in Montélimar, er ist Amateurpianist und Jazzfan, hat eine große Plattensammlung, außerdem einen alten Pleyel-Konzertflügel. Während der Renovierung seines Hauses in Grignan fragt ihn einmal ein Klempner, ob er Pianist sei, und erzählt ihm, in der Gegend lebe ein junger Kerl, der spielen könne wie Oscar Peterson. Zwei Wochen später erzählt ihm wieder jemand von dem jungen Genie, von dem man nicht genau weiß, wo er lebt. Denis gibt nicht viel auf diese Geschichte, erkundigt sich aber bei Monsieur Viossat, dem Musikalienhändler in Montélimar, nach dem Pianisten. Der erklärt ihm, der Junge leide an einer seltenen Krankheit und sein Vater verbiete jedermann, ihn aufzusuchen. Denis notiert sich die Adresse, findet das moderne Haus, das vereinzelt auf einem Feld steht, fünfzig Meter entfernt von der alten Bahnlinie Paris – Marseille. »Schlimmer gehts nicht!«, stöhnt Denis und ruft bei den Petruccianis an. Nach dem üblichen Austausch von Höflichkeiten fragt Denis, ob er Musikunterricht bekommen könne, und erhält von Tony ganz trocken mit seinem südländischen Akzent zur Antwort: »Nein, der ›Kleine‹ gibt niemandem Unterricht!« Er legt auf. Eine Woche später versucht es Denis aufs Neue. »Nein, wenn ichs Ihnen doch sage, der ›Kleine‹ arbeitet und soll dabei in Ruhe gelassen werden.« Tony will seinen Sohn schützen. Er hat Angst, die Außenwelt werde ihm schaden. Also wird er besitzergreifend, und das in den Augen von Beobachtern ziemlich übertrieben.
Zwei Monate später, an einem Sonntagmorgen, es weht ein starker Mistral, steigt der Architekt in seinen Wagen und fährt zu diesem Haus. Er hat eine Flasche Cognac gekauft und klopft an die Tür. Tony öffnet ihm und sagt: »Na gut, komm rein, setz dich hin und halt den Mund.« Das Wohnzimmer ist mit allerhand altem Kram möbliert, ein schwarzer Flügel steht darin und dahinter tauchen zwei kugelförmige Augen auf. Louis ist am Kontrabass und Tony an der Gitarre. Denis ist verblüfft und begreift nicht, wie ihm geschieht. Ist das da ein Kunstflieger oder der Kleine Prinz? Wer ist der wahre Erwachsene und wer das wahre Kind in diesem Bild vor seinen Augen? Plötzlich wird ihm das Tempo bewusst und er lauscht der Musik, die er so liebt. »Es war das Schönste, was man sich vorstellen kann, einfach atemberaubend. Michel Petrucciani hatte die Oscar-Peterson-Schule bereits hinter sich, sein Spiel klang wie das von Bill Evans!«, berichtet Denis Tourrenc. Mit ohrenbetäubendem Lärm rauscht ein Zug vorbei. Für einen Moment hört man keine Musik mehr, wie in einem Stummfilm, dann ist der Ton wieder da, in unvermindertem Tempo. Wie betäubt und fassungslos ist der jazzbegeisterte Architekt, ein solches musikalisches Niveau hatte er bislang nur in den Clubs erlebt, in denen die Großen dieser Kunst auftraten, im Village Vanguard etwa.
Die Zeit vergeht, irgendwann ist der Vater weg. Louis, Michel und Denis stecken ihre Nasen in Cognacgläser … Denis spürt, dass Michel sich nach etwas Freiheit sehnt, und Michel merkt, Denis könnte ihm einen Fluchtweg bahnen. Für den nächsten Tag vereinbaren sie einen Termin für eine Musikstunde. Denis will ihm vierzig Franc dafür bezahlen, aber Michel lässt ihn wissen, er wolle ihn als Kumpel und nicht als Schüler haben. Ab diesem Moment wird das Haus der Tourrencs für Michel Petrucciani zur zweiten Heimat. Tony erlaubt ihm, das Haus zu verlassen, aber er darf nur zu Denis Tourrenc. Oft begleitet Anna ihren Sohn und manchmal kehren sie erst um zwei, drei Uhr nachts wieder heim.
Manhu Roche
Bei Manhu Roche mit Denis Tourrenc Rochemaure 1976
Das Haus in Grignan ist riesig, sie können dort ohne Zeitdruck musizieren. Bald kommt auch Louis regelmäßig zu Besuch. Philippe, der älteste Bruder, schaut ebenfalls ab und zu rein, aber er hat seinen Weg schon anders gewählt und spielt Gitarre in einer eigenen Formation. Zwei Jahre lang ist Denis Tourrenc überglücklich, die geliebte Musik bei sich zu Hause zu erleben. Sie motiviert ihn, sein eigenes Spiel im Rahmen seiner Möglichkeiten zu verbessern, und Michel wiederum stimuliert Denis’ Welt auf zwei Ebenen: intellektuell, denn ihre Gespräche kreisen oft um Kunst, insbesondere die von Nicolas de Staël, und materiell, aufgrund des Komforts, den das Haus bietet.
Eines Tages fragt Denis Michel, ob er John Coltrane kenne. Antwort negativ. Sie verabreden sich zum gemeinsamen Hören der Musik des amerikanischen Saxofonisten. Im Klavierzimmer steht ein Hi-Fi-Turm mit LPs, Denis fischt das Album Coltrane Live at Birdland von 1963 heraus. Kaum sind die ersten Takte erklungen, legt sich Michel zu Füßen des Turms, und solange die Platte läuft, stöhnt er immer wieder auf und bricht in Tränen aus. Die Musik dringt in ihn ein und überwältigt ihn. Er verbindet sich mit jedem Ton Coltranes, seiner Spiritualität und seiner unvergleichlichen harmonischen Modernität, seiner Tiefe im Ausdruck, seiner Suche und seinem Kampf. Diese spezielle Verbindung aus der Instrumentalmusik und ihrem kulturellen Kontext löst in ihm eine Art emotionale Trance aus.
Vielfach hat sich bestätigt, dass nur Coltrane diese Wirkung auf Michel Petrucciani hat, den er sogar als seinen »Gott« bezeichnete. Man muss wissen, was diesem Phänomen vorausgeht, im Vorfeld dieser regelrechten Krise. Kann es sein, dass Michel in John Coltrane wirklich eine Art »Gottheit« sieht, im Sinne von »göttlich«? Das Wort ist ziemlich starker Tobak, aber die Trance derart intensiv, dass es gerechtfertigt erscheint. Der Musikethnologe Gilbert Rouget schrieb in seinem Essay La musique et la transe: »Der Auslöser für eine Trance folgt sehr häufig dem gleichen Muster. Sobald er ›seine‹ Melodie, ›seine‹ Devise (oder vielmehr die seines Gottes) vernimmt, verfällt der Besessene in Trance.« Das Mysterium, das es in diesem Fall zu sein scheint, sollte man nicht näher zu ergründen versuchen. Wichtig ist, die Interaktion zwischen Coltrane und Petrucciani als einen dramatischen Vorgang zu erkennen, der ihn mit heftiger Wucht innerlich erfasst, eine Art physische und mentale Obsession.
Der Genius Michel Petruccianis zeigt sich in diesem Vermögen als ein hypersensibler Empfänger. Etwas drängt mit Feingespür und Gefühlsdichte aus seinem Innersten hervor. Und dieses Innerste enthüllt sich bei Laurence und Denis, denn bei ihnen fühlt Michel sich frei. Zum besseren Verständnis sei hier der Neuropsychologe Bernard Lechevalier erwähnt, der in seiner Abhandlung Le cerveau mélomane de Baudelaire (Baudelaires musikbegeistertes Gehirn) analysiert, was beim Musikhören geschieht. Darin bezieht er sich auf Baudelaires L’art romantique (Die Kunst der Romantik), worin es heißt, er habe 1861 beim Hören von Wagners Tannhäuser in der Pariser Oper »das Bewusstsein verloren«. Lechevalier stellt die Frage nach dem »unterschiedlichen Hören von Musik bei Musikern und Nichtmusikern«. Man mag erahnen, was Michel Petrucciani beim Hören von Coltranes Musik empfunden hat, und dazu Baudelaire zitieren: »Es schien mir, als ob diese Musik die meinige sei.« Trance, Enstase und Ekstase, als Begriffe definiert vom Religionshistoriker Mircea Eliade (1907–1986) – wenn Petrucciani zuhört, prallen diese Bewusstseinszustände aufeinander.
Denis Tourrenc verschafft Michel einige Engagements in Restaurants und Pizzerias. Michel spielt für hundert Franc und freie Kost. Rasch fällt Denis Michels musikalischer Mitteilungsdrang auf, ein Heißhunger, den er nie verlieren wird. Was in Grignan bei den Tourrencs geschieht, hat Ähnlichkeiten mit der Zeit in Montélimar bei den Clauzels. Denis und Michel bleiben enge Freunde. Der Pianist kommt manchmal ins Büro des Architekten, um zu telefonieren. Gemeinsame Essen, Pläne schmieden, Gelächter und gute Musik charakterisieren diese beiden Jahre mit Denis Tourrenc und Laurence de Staël, bevor Michel nach Toulon umzieht, in die Villa Los Flamingos, impasse Tesi (wo die Eltern Petrucciani von 1979 bis 1992 leben). In dieser Zeit verliert er den Kontakt zu den Freunden in Montélimar. Denis lädt ihn zu Weihnachten 1980 nach Grignan ein. Michel hat kein Geld und schenkt ihm ein Tonband mit zwei Stunden Musik. 1981 gibt er ein Konzert in Grenoble und nennt es »Hommage an Nicolas de Staël«. In seinem letzten Lebensjahr wünscht er sich, dass Denis ihn nach Montélimar fährt, in das moderne Haus nahe der Bahnstrecke, wo sie sich das erste Mal begegnet waren. Michel vertraut ihm an: »Denis, siehst du den Schutt, all die Steine und den Feigenbaum hinter dem Haus? Dorthin bin ich gegangen, um zu weinen. Ich bin vom Haus bis zu diesem Haufen gekrochen und habe mich ausgeweint, geweint über meine Einsamkeit und meine Verzweiflung, stundenlang, ganz allein.«
Michel Petruccianis Leben ist ein Labyrinth, in dem es von Geheimnissen wimmelt. All diese Zeichen helfen, seine Sehnsüchte, seine Ängste und seinen Ehrgeiz zu verdeutlichen, die seinem Leben den verborgenen Sinn geben. Der Feigenbaum, unter den er sich als Junge flüchtet, ist gleichsam das Bindeglied zwischen Erde und Himmel. Aber er symbolisiert auch »die Unsterblichkeit und das höhere Wissen: Der Feigenbaum war Buddhas Lieblingsbaum, unter dem er seine Schüler unterrichtete.« In seinen letzten Monaten ist Michel derart müde, dass er eines Tages Denis anruft: »Scheiße, in einem Monat nehmen wir uns drei Tage frei. Du nimmst mich mit zu Manhu und wir spielen drei Tage lang Belote (ein Kartenspiel), wie in den guten alten Zeiten.« Seine Zeit ist total für Auftritte verplant, die Stunden entrinnen ihm. Denis bestätigt: »Er hatte drei Mobiltelefone, wie der Chef eines multinationalen Konzerns. Ständig deckte man ihn mit schwierigen Fragen ein und erwartete sofortige Antwort. Aber das gehörte auch zu seinem Erfolg.«
Während eines Abends, an dem viel getrunken wird, tönt Michel, in Montélimar sei er bekannt wie ein bunter Hund. Er fordert Denis auf, ihn im Wagen hinterm Lenkrad auf seinen Schoß zu nehmen, damit er selbst fahren kann. Mit dem Ergebnis, dass er nichts als Schlangenlinien fährt. Denis: »Pass auf, Michel, verdammt, sei vorsichtig!« – Michel: »Was hast du? Weißt du in einem Chorus immer schon vorher, was du spielen wirst? Lässt du dich nicht manchmal forttragen? Also lass mich bitte in Ruhe weiterfahren.« Gendarmen kreuzen auf und halten den schaukelnden Wagen an. Das Fenster wird heruntergedreht und die Typen mit den Käppis werden blass: »Monsieur Petrucciani!« – Michel: »Ach, na ja, ich versuche gerade, Auto zu fahren. Leicht ist das nicht!« – Ein Gendarm: »Das sollten Sie nicht tun, das wissen Sie doch! Aber wo wollen Sie bloß hin, Monsieur Petrucciani?« – Michel: »Zum Golfclub.« – Ein Gendarm: »Gut, hören Sie, Monsieur Petrucciani, wir fahren voraus und begleiten Sie.« Königliche Eskorte für eine Anekdote, wie aus einem Film von Jean Girault.
Ende 1998 sitzt Denis Tourrenc am Klavier, als Michel ihn anruft und fragt, was er gerade spiele. Denis antwortet, er versuche sich an »Misty« von Erroll Garner. Michel: »Dann hoffe ich aber, du spielst es in des.« Drei Tage später gibt Michel ein Konzert in Paris. Als Zugabe spielt er »Misty«. Es ist das letzte Mal, dass Denis Michel im Konzert erlebt. Ein andermal, in der Schweiz, genauer in Neuchâtel, treffen sie sich nach fünf, sechs Jahren erstmals wieder. Sie verabreden sich für den Nachmittag und erinnern sich an die schöne Zeit in Grignan. Am Abend improvisiert Michel ein Intro mit all den Standardthemen, die sie seinerzeit zusammen gespielt hatten. Er sagt kaum ein Wort, aber musikalisch übermittelt er seine Freigebigkeit und dankt so Denis, dass er gekommen ist, um ihn zu sehen.
Ende 1998 gönnt Michel sich einen Monat Urlaub und lässt Denis wissen, er werde seinen Plan einer internationalen Schule trotz der Ferien umsetzen. Der Pianist und Pädagoge Bernard Maury wünscht sich, dass seine Schule, die Bill Evans Piano Academy, in dieses Projekt integriert würde. Am 6.Januar 1999 erfährt Denis in Paris vom Tod Michels durch den Anruf eines Freundes, der auf Bali über CNN davon erfahren hat. Blitzartig tauchen die Bilder vor ihm auf, wie die Familie Petrucciani in diesem Haus an der Bahnlinie und der Straße von Châteauneuf nach Montélimar Jazz spielte. Stell dir einen Moment lang vor, du kommst aus der Auvergne und landest direkt im Mittleren Westen der USA. Du erreichst ein Motel. Man fragt dich nach deiner Herkunft und sagt dir, nebenan spiele eine Truppe von Folkmusikern aus der Auvergne. Genau solch ein Gefühl von etwas ganz Vertrautem in der Fremde ergriff Denis Tourrenc in Montélimar an dem Tag, als er die Familie Petrucciani entdeckte. »Ich hatte das Gefühl, mitten in der Pampa die höchstentwickelte Musik zu hören.« Jazz, den gibt es im Village Vanguard, im Blue Note, im Cotton Club … aber wie war das möglich, ein Genie des Jazz in Montélimar? Vielleicht wird eines Tages ein Musikwissenschaftler diese Situation als Prozess einer Transkulturation analysieren. Der Jazz hat in den USA ein Vaterland der besonderen Art. Und eine bescheidene Familie im Departement Drôme provençale, die Petruccianis, eignet sich die Materie auf unvergleichliche Weise an. In einem seiner letzten Gespräche mit Denis Tourrenc soll Michel ihm wie der Meister dem Schüler noch etwas mitgegeben haben. Drei Worte, die er tief in seinem Gedächtnis verbarg; er hat sie nie verraten. Drei Worte, die noch immer seine Haltung zum Musizieren prägen.
Am 16. März 1984 nimmt Michel Petrucciani mit Palle Danielsson und Eliot Zigmund im Village Vanguard ein Livealbum auf. Der siebte Track dieses Albums ist eine Eigenkomposition mit dem Titel »Three Forgotten Magic Words« und bezieht sich auf einen Traum, den er in Big Sur hatte mit einer Stimme, die leise sagte: »Vergiss nicht die drei vergessenen magischen Worte!« Waren dies die drei Worte, von denen Denis Tourrenc gesprochen hat? Während eines Triokonzerts in Genf muss Denis Michel ansagen und macht dabei einen auf Zeremonienmeister: »Meine Damen und Herren, guten Abend. Wir haben heute Abend die Ehre, ein außergewöhnliches Trio begrüßen zu können. Applaus für Victor Jones am Schlagzeug und Andy McKee am Kontrabass. Und jetzt bitte ich Sie um ein herzliches Willkommen für den Giganten Michel Petrucciani!« In diesem Moment, erzählt Denis Tourrenc, hätten sich alle von ihren Plätzen erhoben und ihm zehn Minuten lang applaudiert. Michel Petrucciani hatte immer das Image eines golemhaften Entertainers, der sich seinem Publikum ganz hingibt und für es spielt. Er hatte Freude am Spielen und teilte sie leidenschaftlich mit seinem Publikum.
© Benjamin Halay
Mit Bernard Maury an der Universität Tours, 22. September 1997
© Jean-Jacques Pussiau
Im Zug nach Paris, zurück von den Aufnahmen zu »Note ’n Notes« in Montpellier, 5. Oktober 1984