Читать книгу Michel Petrucciani - Benjamin Halay - Страница 7

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einleitung

»Kein Wunder: Er hat sich nicht damit begnügt, mit einem Talent geboren zu sein, er hat sich ein Schicksal geschmiedet.« ~ le matin, schweiz

»Offensichtlich macht seine Physiologie aus ihm einen Prototyp (…) Für MP läutet der Wecker um 5 Uhr morgens sechs- oder siebenmal in der Woche. Abzählen der blauen Kacheln in der ersten Person.« ~ le figaro

»Er, der oft sagt, dass ›nur der Himmel die Grenze‹ sei, hat dennoch einige kalte Schweißausbrüche erlebt, Augenblicke, in denen seine verrückte Wette plötzlich verloren schien.« ~ le monde

»Wunderkind: Als Erstes würde ich jetzt gerne meine Mutter in die Arme nehmen.« ~ libération

Die Presse ist einhellig begeistert und stürzt sich auf das Phänomen, auf das die Welt wie mit den Augen verwöhnter Kinder schaut. Es ist der immer gleiche unabänderliche Ablauf. Die Medien senden die Nachricht von ihrem Sendemast herab, das Publikum schnappt das prägende Merkmal des Genies auf und stürzt sich vampirhaft darauf. Der Mann, von dem in den einleitenden Zitaten die Rede ist, trägt dieselben Initialen wie der Pianist und Komponist Michel Petrucciani, es ist die Rede von Michael Phelps, dem amerikanischen Schwimmer und vierzehnfachen Olympiasieger. Michel Petrucciani beschließt das 20. Jahrhundert, Michael Phelps eröffnet das 21. Man hätte den Vergleich auch mit Usain Bolt ziehen können, dem jamaikanischen Sprinter mit den goldenen Schuhen. Nur mit dem Unterschied, dass wie bei Michael Phelps im Schwimmsport – »1,93 Meter bei 84 Kilo Gewicht, einem Armspannweite von zwei Metern und einem Paar Schwimmflossen Größe 49« (Le Figaro) – noch nie ein Künstler so viele Bemerkungen zu seinem Körperbau über sich ergehen lassen musste wie Michel Petrucciani.

»Da ist zunächst der physische, emotionale Schock angesichts dieses kleinen Menschen, der kaum einen Meter groß ist und sich mit Mühe fortbewegt, während er sich auf Kinderkrücken stützt.« (Le Point) »Dieses einen Meter zehn große Genie gibt uns die größte Lektion, und zwar die einer unendlichen Menschlichkeit, die der Erfolg nicht erschüttert hat.« (L’Humanité Dimanche) Wie die meisten von uns repräsentieren weder Michael Phelps noch Michel Petrucciani einen Kanon des Schönen oder Hässlichen. Umberto Eco, Autor einer Geschichte der Schönheit und einer Geschichte der Hässlichkeit, schrieb: »Der allgemeine Geschmack korrespondiert mit dem künstlerischen Geschmack seiner Zeit.« Bei diesen beiden Künstlern haben wir es mit Unförmigkeit und ästhetischer Bedingtheit zu tun. Sie verleiten den Menschen in seiner Verlegenheit und eingefahrenen Art zum Stammeln oder dazu, sich mit einem scherzhaften Spruch aus der Affäre zu ziehen. Ich bin nie zu Schwimmwettkämpfen gegangen, aber wie oft musste ich, wenn wir Petruccianis Konzerte verließen, beim Hinausgehen unsäglich dumme und deprimierende Kommentare vernehmen: »Wie toll er spielt, aber um Gottes willen, ist der Kerl hässlich!« »Verheiratet ist er? Mit einer Frau im Bett kann ich ihn mir kaum vorstellen!« »Anfangs hatte ich Mitleid mit ihm, aber danach vergisst man, dass er ein Zwerg ist.« »Mit Petrucciani ist es ein bisschen wie im Zirkus!« … Ganz zu schweigen von schändlichen Kommentaren und geschmacklosen Scherzen bekannter Personen in den Medien.

In der modernen Gesellschaft artikuliert sich im Lachen auf zynische Weise die Haltung der Verzweifelten, wie der Autor und Filmemacher Chris Marker konstatierte: »Wenn ein Spaßvogel Nicolas Sarkozy mit dem Pianisten Michel Petrucciani vergleicht und Martine Aubry mit einer Tabaksdose, entfesselt er eine Rohheit, die nichts Humorvolles mehr hat. Über den Präsidenten einer Republik zu lachen, weil er klein ist, über einen toten Künstler, weil er körperbehindert war, und über eine Frau in politischer Verantwortung, weil sie keine Wespentaille hat; über eine Schwäche zu lachen, über ein Gebrechen, derweil man sich für kritisch gegenüber den Mächtigen hält; kurz, über alles zu lachen außer über sich selbst, vielleicht ist das dem Menschen eigen – aber es ist auf jeden Fall der Tod des Humors.«1 In den Siebzigerjahren wurde einer der ersten Auftritte Michel Petruccianis bei einer Messeausstellung in Montélimar als etwas Staunenswertes angekündigt: »Besondere Attraktion, die Vorstellung eines Wunderkindes.« Genug! Soll man denken, dass die Leute nur kommen, um sich ein Phänomen anzusehen, wie den Gitarristen und Posaunisten Ray R. Myers (1911–1986), den »Krüppel von Lancaster«, den Schauspieler und Musiker Johnny Eck (1911–1991), genannt »der lebende halbe Mensch«, den Trompeter James Elroy, den österreichischen Geigenvirtuosen Rudi Sartoni, »der armlose Xylophon- und Violinkünstler«, den Multiinstrumentalisten John Owenel, bekannt als »das Wunder ohne Arme«, das unglaubliche Schicksal des verkrüppelten Geigers Carl Herrmann Unthan (1848–1929), der von Johann Strauß für eine Konzertreihe engagiert wurde, oder Adrien, den Zwerg aus Béarn. Eine Postkarte wirbt für ihn: »Niemals seit Menschengedenken hat sich ein so kleiner Neuling dem Publikum vorgestellt; empfangen wurde er mit enthusiastischem Beifall, einhelligem Lob sowohl in der Presse wie vom Publikum in Luné-ville.« Ernest Martin schrieb in seiner 1880 erschienenen Geschichte der Monstren: »Die Zwerge, die der menschlichen Rasse entstammen, sind Wesen, die in ihrer Entwicklung angehalten und in ihrer Vitalität behindert wurden; sie sind, in einem Wort, Monstren.« Seit den Anfängen der wissenschaftlichen Forschung durch den Anatomen Andreas Vesalius und Ambroise Parés Abhandlung Von Monstren und Wunderkindern aus dem Jahr 1573 hat die Teratologie (Lehre von den Fehlbildungen) Gestalt angenommen, falls man das Studium von Geburtsfehlern an menschlichen Wesen so nennen will. Trotz unbestreitbarer wissenschaftlicher Fortschritte schwanken die Menschen bis heute unausweichlich irgendwo zwischen Voyeurismus und Mitleid. Als Michel Petrucciani am 6. September 1994 am Klavier von Horowitz spielte, schrieb Le Matin, die Tageszeitung der romanischen Schweiz, gleich im zweiten Absatz: »Indes bereitete nichts diese beiden Monstren darauf vor, sich zu kreuzen.« Fällt Ihnen auf, dass man über einen sich in seiner Kunst selbst übertreffenden Künstler oft sagen hört: »Das ist ungeheuerlich!«? Ist es abergläubische Angst, die Menschen zu diesem Ausdruck greifen lässt? Übrigens schrieb Michel Petrucciani selbst in einem Brief an den Figaro vom 7. Mai 1998: »Der Jazz liegt im Sterben. All die großen Monstren sind tot: Parker, Miles Davis, Monk, Bill Evans, Duke Ellington. Es bleiben nur noch zwei oder drei wie Sonny Rollins, Keith Jarrett.« Das dritte Monstrum ist er. Aus Schamgefühl will er es nicht sagen.

Michel Petrucciani »hasst sein physisches Handicap, mit der Folge, dass die ihm gewogenen Journalisten es den Fotos überlassen, den Lesern, die ihn nicht auf einer Bühne gesehen haben, mitzuteilen, dass er nicht einmal einen Meter groß ist, sich auf kleinen Krücken fortbewegt oder von einem Musiker aus seinem Trio ans Klavier getragen wird.« (Télérama) Anlässlich des historischen Solokonzerts im Théâtre des Champs-Élysées am 14. November 1994 begann Francis Marmande den letzten Absatz seines Artikels in Le Monde mit den Sätzen: »Ein kleinwüchsiger Torero namens Chicuelo II besaß in den Fünfzigerjahren die Gabe, den Menschen vor dem Hintergrund von Tod und Freude etwas zu geben. Mit der Stille spielte er niemals. Bald schon wurde er vermisst.« Die Karriere war sehr kurz für diesen spanischen Matador, der bei einem Flugzeugunglück am 21. Januar 1960 sein Leben ließ. Wie für Michel Petrucciani, dessen Laufbahn am 6. Januar 1999 endete. Petrucciani und seine Krankheit sind nicht voneinander zu trennen, jetzt, wo er nicht mehr da ist, aber seine Antworten gegenüber den Medien waren stets bissig, wenn auch zutiefst fair: »Letztlich hat man sich immer mehr für den Pianisten, für meine Musik interessiert und sich nicht mehr so sehr mit dem Zustand meines Körpers befasst.« (L’Évènement du Jeudi)

Neben seinem überreichlichen musikalischen Talent besaß Michel Petrucciani die Gabe einer fast animalischen Anziehungskraft – man hat sie oder man hat sie nicht. Wenigen Menschen war es so wie ihm gegeben, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er war wie das zentrale Ornament in einem Perserteppich, auf das alle Blickachsen zulaufen. Er war ein Mensch mit Stil, er besaß Genie, eine komplexe Persönlichkeit, und einige wollten ihn für sich vereinnahmen, zu ihrem Profit und um sich mit ihm zu schmücken.

Der Künstler allein, ohne sein Werk, ist noch nichts, und ein Werk muss gepflegt werden wie ein Garten. Michel Petrucciani hat sein Werk zu seinem meisterlichen Abbild geformt und sein Selbstbild auf seine Kompositionen projiziert. Jedes Werk zeigt uns den Menschen, damit wir erfahren, wer er war, mit dem Wissen über die Existenz, die er führte. In den Überschriften der folgenden Kapitel verbirgt sich daher stets eine Anekdote oder etwas Erlebtes. Die Musik lebte in Michel Petrucciani wie eine Art innerer Phonograf. Während man ihn auf der Bühne erlebte, blickte man in den Himmel. Wenn man ihm lauschte, vernahm man die Sterne. Hier ist seine Geschichte.


© D.R.

Vor dem Konzert, Sorgues 1987

Michel Petrucciani

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