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vorwort


Wer ist Michel Petrucciani? Für mich ist er mein Vater, mein Held, mein Vorbild, mein Stolz und mein Lebensmut. Aber für die anderen? Vielleicht eine Hoffnung, eine Emotion, ein geteiltes Gefühl oder das, was man ein »Genie« nennt.

Ich war zu jung, um verstehen zu können, wer er wirklich war. Ich fragte mich damals, warum er allein vor Tausenden von Leuten spielte und warum wir allesamt zwei Stunden lang auf unseren Stühlen sitzen bleiben mussten. Dass er am Klavier saß, war mir wohlvertraut. Wenn ich auf dem Teppich im Wohnzimmer spielen konnte, während er komponierte, war das schon wie ein Konzert. Heute ist mir klar, welches Glück es war, einen so begabten Vater wie ihn zu haben.

Seine Musik ist nicht auf den Jazz beschränkt. Es ist eine völlig offene Musik, offen für alle und jeden. Um einen Musikstil genießen zu können, muss man ihn zunächst verstehen, die Phrasierung, die Rhythmik, das Melodische. Im Jazz scheint mir das besonders entscheidend, weil es hier immer eine erst zu entschlüsselnde Architektur gibt, mit dem Frage-und-Antwort-Spiel zwischen den Musikern. Im Spiel meines Vaters verflüchtigt sich all diese Komplexität. Man hört nicht mehr Jazz, sondern eine totale Musik. Man spürt auch nicht mehr die Jahre immenser Arbeit, die zu ihr hingeführt haben: Alles erscheint so einfach und evident.

Dennoch sah sich mein Vater nicht als einen vollendeten Künstler. Nie war er zufrieden, auch wenn einige sein Niveau für gleichsam unerreichbar hielten wie eine Art weit entfernten Leuchtturm. Er selbst dachte von sich nie, er sei im Hafen angekommen. In meinen Augen macht das seine größte Begabung aus: immer weiter gehen zu wollen, besser zu werden, immer und noch mehr zu arbeiten, um sich einem Ziel anzunähern, das in die Ewigkeit weist.

Heute – gebeten, über meinen Vater zu sprechen – sehe ich ihn immer mit den Augen eines Kindes. Er war lustig, lachte stets und war sehr gelassen. Obwohl ihm das Leben nicht gerade die besten Karten in die Hand gegeben hatte, um trumpfen zu können. Aber dank seiner Courage und seines Optimismus ließ er nie den Kopf hängen. Er hat dem Leben diesen Humor und diese mitreißende Freude entrissen, die man in der Mehrzahl seiner Kompositionen erlebt.

Die Musik ist eine Sprache, eine Unendlichkeit an Worten und Nuancen, mit ihrer Hilfe kann man der Welt mitteilen, was sich in unserem Geist und unserem Herzen bewegt. Durch sie können wir einen Menschen besser verstehen, weil sie der Ausdruck seiner Gefühle ist, seiner innersten Wünsche. Wenn ich heute meinem Vater lausche, nehme ich sein Glück wahr, aber ich höre auch eine Vergangenheit, melancholisch und voll von Hoffnung, einen Kampf zwischen der Freude und der Traurigkeit, einen Kampf, den wir alle teilen.

Ich glaube, die Botschaft, die mein Vater übermitteln wollte, ist die von Mut und Hoffnung. Alles ist möglich, wenn man seinen Weg findet, das menschliche Wesen hat keine Grenzen. Ob er groß, klein, schön oder hässlich geboren wurde, ist dabei nicht so wichtig. Alles, was sich einer ersehnt, kann er durch Willen und Arbeit erlangen. Michel ist dafür ein perfektes Beispiel. Das wäre diese Lektion, von der ich mir wünschte, das Publikum nähme sie von ihm an, mehr noch als die Schönheit und die Intensität seiner Musik.

Für jede andere Person aber, außer mir: Wer war Michel Petrucciani?

Ich lade Sie ein, ihn mit diesem Buch zu entdecken, das sein Leben nachzeichnet und seine Musik durch den Blick von Benjamin Halay erklärt, einem Musikkenner und Freund.

~ alexandre petrucciani

vorwort


© Jérôme Macé

Das Dasein besteht aus Begegnungen, aus sich kreuzenden Wegen. Einige von ihnen erhellen unseren Horizont, sie regen unser Denken an, bringen uns einer Wahrheit näher, die uns dahin führt, das Leben mehr zu lieben und sich das Beste von ihm zu erhoffen. Michel Petrucciani war ein solcher Botschafter, ein Kämpfer um sein Leben, der ungeachtet allen Unglücks seiner Behinderung eine vitale Energie und eine außergewöhnliche Schöpferkraft entwickelte.

Ich begegnete ihm zum ersten Mal in Toulon, als ich dort mit meiner Gruppe ein Konzert gab. Er war gekommen, um gegen Ende des Abends bei uns mitzuspielen, ein kleiner Mann von dreizehn Jahren mit jenem damals schon berühmten Lächeln und einem unglaublich tiefen Blick; sein Vater trug ihn wie ein kleines Kind an den riesigen Konzertflügel.

Dieses Klavier schien das kleine Wesen aus Glas mit seinen Zähnen (Zähnen aus Elfenbein) zu verschlingen. Als dieser ungleiche Kampf begann, schien in den ersten Takten von »All the Things You Are« dieser zarte David für Goliath nur ein kleiner Bissen zu sein. Selten zuvor jedoch war das majestätische Instrument auf einen solchen Meister getroffen. Ab dem Ende des Intros wichen Zweifel und Besorgnis dem Gefühl einer Offenbarung. Keine Worte können stark genug sein, um diesen Eindruck einer titanischen Kraft, gepaart mit der Anmut eines Engels, eines himmlischen Wesens wiederzugeben, einer höheren Intelligenz in musikalischer Gestik. Schon kneteten seine langen Finger die Klangmasse, um ihr improvisierte Melodien zu entlocken, die er auf geniale Weise miteinander verwob. Michel Petrucciani spielte nicht Klavier, er spielte sich. Er machte keine Musik, er sprach durch sie.

Die ersten Noten, die wir bei dieser Gelegenheit miteinander wechselten, waren für mich nicht nur das Versprechen einer neuen und starken musikalischen Freundschaft, sondern vor allem der Beginn eines großen und schönen menschlichen Einverständnisses. Seine größte Qualität als Jazzmusiker war sein perfektes rhythmisches Platzieren, sein intensiver und lebendiger Swing, verbunden mit einer außergewöhnlichen Anschlagskultur. Michel Petruccianis und mein Leben kreuzten sich mehrere Male, vor allem in New York, als ich einige Monate lang in der Stadt lebte. Er wohnte schon dort und spielte mit dem Saxofonisten Charles Lloyd.

Wir waren uns bei einer Jubiläumsparty des Plattenlabels Blue Note wiederbegegnet. Bei diesem Ereignis kamen alle großen Namen und Legenden des Jazz zusammen. Michel und ich waren die einzigen Franzosen unter den Gästen. Wir waren wie zwei Kinder, die mit der Nase am Schaufenster einer Konditorei kleben. Michel war bereits mit der New Yorker Jazzszene vertraut und stellte mir seine neuen Musikerfreunde vor. Ich begegnete meinen wieder, Tony Williams, Billy Hart, Art Blakey … Dann bot sich uns eine Gelegenheit, miteinander aufzutreten, diesmal in Gesellschaft sehr illustrer Gäste. Michel war die Attraktion des Abends. Kaum hatte er zu spielen begonnen, versammelten sich alle ums Klavier, um das Phänomen zu bewundern oder zu entdecken. Er schien so glücklich. Mit einem großen Lächeln schaute er mich an, als wolle er sagen: »Nicht schlecht, wir kleinen Frenchys!«

Während des Jazzfestivals im korsischen Calvi wurde unsere Freundschaft Jahr für Jahr am Strand neu besiegelt. Es war fast zehn Jahre hindurch unser Treffpunkt. Sein Sohn Alexandre, meine Zwillingstöchter Sarah und Natacha, meine Stiefsöhne David und Thomas bauten Sandburgen, während wir unseren musikalischen Träumen nachjagten. Auf dem kleinen Instrument von Thomas begann auch Alexandre Geige zu spielen. Das Geschrei der Möwen wollte er nachahmen, »wie der Freund von Papa mit der Geige«.

Später fanden unvergessliche Begegnungen mit Michel und Stéphane Grappelli statt; einmal standen wir alle drei gemeinsam auf der Bühne des Festivals in Nizza. Dann gab es diesen magischen Abend beim Festival von Vienne, als der eine im Garten, der andere im Hof musizierte und wir beide nicht wussten, dass wir etwas zusammen spielen würden. Wir winkten uns zu. Als wir das Podium betraten, sahen wir uns plötzlich mit neuntausend Zuschauern konfrontiert. Der Abend war ausverkauft. Michel schlug die ersten Akkorde von »Solar« an, dann spielten wir anderthalb Stunden lang über dieses Thema. Für mich war dies der bewegendste Moment unter meinen Begegnungen mit Michel. Wie auf dem Höhepunkt einer gemeinsamen sinnlichen Erfahrung schienen wir gemeinsam zu atmen, schauten in dieselbe Richtung, ein Moment geteilter Gnade. Michel hatte seinen »Hofstaat« und manchmal konnte dieser auf seine Laune schlagen, aber er wusste das immer in den Griff zu kriegen dank seines Herumgewitzels, wie ein kleiner Pariser Straßenbengel, voll mit Jazzer-Anekdoten aus verräucherten Clubs. Er besaß diesen verzweifelten Humor, mit dessen Hilfe man auch über ein noch so zerbrechliches Leben die Oberhand bewahrt.

Wie oft habe ich erlebt, dass er sich einen Finger brach oder das Steißbein, mitten im Chorus, und dann spielte er weiter, als sei nichts gewesen, nur mit verzerrtem Gesicht im Moment des Bruchs.

Ein paar Monate lang erzählte Michel mir von dieser Schule, die er im Departement Loir-et-Cher gründen wollte. Ich war seinerzeit schon weit mit meinem eigenen Projekt eines Zentrums für improvisierte Musik in Dammarie-les-Lys. Michel war zwar ein außergewöhnlicher Künstler, besaß jedoch keinen großen Sinn für Organisation und Administration. Den Bau seiner zukünftigen Schule hatte er einem Team von Leuten übertragen, die mir mehr das gute Geschäft zu wittern schienen als wirklich engagiert für seine pädagogischen Ziele waren. Das ganze Projekt wog immer schwerer und wurde immer unrealistischer. Eine Woche vor Neujahr kam Michel mit Francis Dreyfus, um mich im Petit Journal Montparnasse zu erleben. Nachdem er gehört hatte, dass mein Projekt einer Jazzschule tatsächlich Formen annahm, und weil er sich der Schwierigkeiten mit seinen eigenen Plänen bewusst war, schlug mir Michel vor, wir sollten uns zusammentun und eine einzige große Jazzschule gründen. Er kam mir sehr müde vor, er arbeitete und reiste viel, schonungslos. Seine Asthmaanfälle wurden immer häufiger und heftiger. Trotzdem machte er unerschütterlich weiter mit dem Feiern. Übrigens wollte er am nächsten Tag nach New York und dort Silvester feiern.

Einige Tage später rief mich Michel aus den USA an. Er war wegen seines Asthmas in ein Krankenhaus eingeliefert worden. In der Woche darauf stand ein Konzert im Théâtre des Champs-Élysées auf dem Programm, aber er fühlte sich dazu nicht in der Lage. Er bat mich, ihn zu vertreten. Eine Woche später, als ich zurück in mein Haus nach Barbizon fuhr, hörte ich im Radio, dass er gestorben war. Das Telefon klingelte, die Journalisten bestürmten mich wie seine Familie mit Fragen nach unseren Erinnerungen. Ich befand mich in einem Schockzustand, war wie betäubt …

Wenn ich heute nach Hause heimkehre, begrüßt mich die kleine Wohnzimmerlampe, die mir Michel einmal zum Geburtstag geschenkt hat. Wie er ist sie aus Glas und schon oft zerbrochen, aber noch immer erhellt sie mein Nachsinnen über einen außergewöhnlichen Menschen, der uns eine große Lektion der Freundschaft, der Musik und des Lebensmutes gab.

Diese Biografie ist eine wunderbare Hommage und zeichnet den unglaublichen Lebensweg dieses großen, außergewöhnlichen kleinen Mannes nach, der für immer in unseren Herzen bleiben wird.

~ didier lockwood

Michel Petrucciani

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