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ORACLE’S DESTINY
Оглавлениеdie gabe der wiege
Michel Petrucciani wird als einer der großen Künstler des ausgehenden 20. Jahrhunderts in Erinnerung bleiben. Warum? Mit seiner komplexen Persönlichkeit, die Bewunderung hervorruft und inspiriert, macht er die Welt staunen. Seine erfinderische Kunst feiert den Moment des Augenblicks, in den wir uns versenken. Er ist ein Drittel italienisch, ein Drittel französisch und ein Drittel amerikanisch – das steigert seinen Willen, im Einzigartigen vielseitig zu sein, seinen Durst nach Reisen und dem Anderswo. Time Is Jazz. Wolfgang Amadeus Mozart, Charlie Parker, Michel Petrucciani haben zusammengerechnet 105 Jahre gelebt. Ein Jahrhundert für drei Leben. Schmetterlinge, die nur einen Tag leben, Nachtgeschöpfe, schlaflos außer im Puppenzustand, dem sie entschlüpfen werden. Für Paris ist 1962 ein sehr gutes Jazzjahr. Besser als 1959, als im Laufe von vier Monaten nacheinander Lester Young, Sidney Bechet, Boris Vian und Billie Holiday starben! 1962 gibt es Jazzkonzerte in den großen Sälen von Paris, das Olympia empfängt am 24. April Louis Armstrong, am 5. Mai Count Basie, vom 17. bis 25. Mai Ray Charles, am 17. November John Coltrane sowie am 22. und 23. Dezember Cannonball Adderley.
Er heißt Michel. Schon mit diesem Vornamen schwebt er über den anderen, zwischen Gott und der Welt. Er ist Anführer und zugleich Beschützer, wie der Engel gleichen Namens. In seinen verborgenen Bedeutungen schwingen große Versprechen mit: Hyperaktivität, Schaffenskraft, Eroberungsund Verführungslust, Flinkheit, lebhafte Intelligenz und Freiheitsliebe. Der Schriftsteller Christian Bobin sagte einmal: »Was eine Mutter mit einem Vornamen anstrebt, lässt sie zwischen Körper und Seele ihres Kindes gleiten, gut verborgen, wie man ein Säckchen Lavendel zwischen zwei Laken steckt.«
Im Zeichen des Steinbocks mit Aszendent Zwillinge kommt Michel Yves Petrucciani am 28. Dezember 1962 um 15 Uhr zur Welt, in Orange, das die Stadt der Prinzen des Vaucluse genannt wird. Sein Körper ist eine nicht zu behebende Pfuscharbeit, ausgeführt wie an jährlich rund fünfzig Kindern in Frankreich, doch das ahnen seine Eltern noch nicht. Erst sein ständiges Weinen alarmiert die Mutter, die mit ihm zum Arzt geht. Diagnose: Osteogenesis imperfecta, bekannt unter dem Namen Lobstein-Krankheit oder Glasknochenkrankheit2. Und dann hatte sich auch noch eben dieser schreckliche und erschütternde Vorfall ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben: Das belgische Ehepaar Jean und Suzanne Vandeputte wird gemeinsam mit ihrem Arzt Dr. Casters von der Anklage freigesprochen, ihre derart missgebildete Tochter nach der Geburt vergiftet zu haben (siehe Jacques Paulus und Jean Rozet: Der Thalidomid-Prozess, Gallimard 1963). Der Prozess vom November 1962 vor dem Schwurgericht in Lüttich wird von einem großen Medieninteresse begleitet. Er löst ein beängstigendes Echo in den französischen Zeitungen aus. Der France-Observateur titelt mit »Mörder aus Barmherzigkeit, die tragischen Angeklagten«, L’Express wetterte bereits im Juni: »Muss man die Monstren töten?« Verursacher dieser schweren Missbildung war ein Beruhigungsmittel für Schwangere: Thalidomid. Es stößt heute, fünfzig Jahre später, trotz 10 000 missgebildeter Kinder erneut auf zunehmendes Interesse in der Forschung, wie Paul Benkimoun in seinem Artikel »Die ewige Wiederkehr des Thalidomid« (Le Monde vom 10. April 2010) nachwies.
Die Eltern Petrucciani jedoch lieben das Leben mehr als alles auf der Welt und heißen ihr drittes Kind Michel von ganzem Herzen willkommen. Es gilt, den Schwierigkeiten ins Auge zu sehen, denn Michel wird nicht zur Schule gehen und nicht mit seinen Kameraden herumtollen können. Den Unterricht erhält er zu Hause von Privatlehrern. Die Osteogenesis imperfecta ist damals eine seltene und noch kaum erforschte Krankheit, »extrem variabel in ihrer Ausprägung von einer Familie zur anderen; die Krankheit überträgt sich von Generation zu Generation nach einem Modus dominanter Autosomen: Die Person, die von der Glasknochenkrankheit betroffen ist, trägt ein Risiko von eins zu zwei, dass sie bei einer Schwangerschaft auf ihr Kind übertragen wird. In zahlreichen Fällen jedoch handelt es sich um einen genetischen Unfall, Mutation genannt, der urplötzlich in einer Familie auftauchen kann, in der das Leiden bis dahin unbekannt war.«3 Lange Knochen verformen sich, kleinere Glieder werden eingebogen, die Wirbel können platt werden, eine Reduktion der Körpergröße ist die Folge. Ganz unterschiedliche Brüche ergeben sich während der Kindheit. Gegen Ende des 9. Jahrhunderts konnte der dänische Wikingerführer Ivar Ragnarsson, genannt Ivar der Knochenlose, wegen seiner zerbrechlichen Gliedmaßen nicht gehen und musste von seinen Leuten auf einem Schild getragen werden. In seiner Abhandlung Von der Erforschung der Wahrheit kommt der Philosoph Nicolas Malebranche auf die Geschichte eines Menschen zu sprechen, der »so viele Brüche hatte wie ein Delinquent, der vom Rad genommen wird«. Das Schicksal der Familie Petrucciani ist für immer eingemeißelt in den Marmor des Leids. Fleisch von ihrem Fleische ist befallen, doch stolz richten sich die Eltern wieder auf, um ihren jüngsten Sohn wie die beiden ersten großzuziehen. Es gibt keine Sonderbehandlung, sondern Strenge und Forderung.
Wurzeln. Die Familie Petrucciani vereinigt vielfarbige Herkünfte in sich. Die Zusammensetzung: Antoine, genannt Tony, der Vater; Anne, genannt Anna, die Mutter; Philippe, der älteste Sohn; Louis, der mittlere, und Michel, der jüngste. Der Großvater väterlicherseits war Schneider in Toulon, er sang volkstümliche Melodien und begleitete sich dazu auf der Gitarre. Philippe Petrucciani, der älteste Bruder, erinnert sich an die Kleiderpuppe ohne Kopf und die Kostüme im Atelier seines Großvaters. Antoine Alexandre Joseph wurde am 4. November 1936 in Toulon geboren und war durch seine Eltern neapolitanischer Herkunft. Das Familienoberhaupt agiert wie ein Kommandeur, er steht im Ruf eines jähzornigen Miesepeters. Als Gitarrist begeistert sich Tony für den Jazz, aber auch für traditionelle Musik und die italienische Kanzone. Vielleicht von Haus aus ist er etwas machohaft, auch erregbar bis zur Überempfindlichkeit. Wer ihn nicht kennt, mag von seiner Strenge zunächst abgestoßen sein, doch er wird den Geist der Petrucciani-Kinder prägen. Er verlangt viel, ist ein Perfektionist, der nicht den kleinsten Chorus à la Wes Montgomery dem Zufall überlässt. Hinter seiner Strenge aber steht eine Leidenschaft, die er allen seinen drei Söhnen mitzugeben versteht: etwas zu geben, um glücklich zu sein. Um es in den Worten von Jules Renard zu sagen: Tony hat zwei Leben, seines und das seiner Söhne. Die Mama, Anne Viviane Chamaillard, deren Vater bei der Marine ist, kommt am 9. September 1930 in Brest in der Bretagne zur Welt. Sanft und fürsorglich wacht sie über ihren Kleinsten und hütet ihn wie ihren Augapfel, manche sprechen dabei von ihr wie von einer Heiligen. Vielleicht ahnt sie, dass ihr dieser Sohn allzu früh wieder genommen werden wird, während sie sich hingebungsvoll um ihn kümmert. Michel besitzt Charakterzüge beider Elternteile. Wenn Häfen, wie der Sänger Bernard Lavilliers behauptet, weiblich oder männlich sind, dann ist Brest die Mutter und Neapel der Vater. Michel navigiert zwischen Anna und Tony, so wie er viel später zwischen den Vereinigten Staaten und Frankreich pendeln wird. Michel Petrucciani hat etwas von der denkenden Erde und etwas vom tanzenden Meer. 1989 wird er das Album Music seiner Mutter widmen: »Ich widme diese Musik meiner Mutter Anne.« Und 1991 das Album Playground seinem Vater: »Meinem Vater Tony Petrucciani gewidmet, der mir alles beibrachte, was ich weiß.«
Philippe kommt am 10. März 1957 zur Welt, in Toulon wie sein Bruder Louis, der am 9. April 1958 geboren wird. Philippe ist von ruhigem Temperament und auf Beständigkeit aus, obwohl er als Ältester genau weiß, was er will. Im Gegensatz zu Louis ist er einnehmend, manchmal labil, aber voller Humor, auf der Suche nach seiner eigenen Freiheit und stets beim Hinterfragen. Beide Brüder werden später mit Michel zusammenarbeiten, Philippe als Komponist und Arrangeur vor allem für das Album Marvellous und Louis als Kontrabassist, unter anderem auf einer Japantournee mit Lenny White im August 1994. Philippe lernt in jungen Jahren Gitarre, rechtsherum, obwohl er Linkshänder ist. Louis verliebt sich rasch in den Kontrabass, die Großmutter im Reich der Musik, so dargestellt in Piccolo, Saxo et Compagnie, einer musikalischen Fabel von Jean Brousolle und André Popp aus dem Jahr 1956. In den 1960er-Jahren ist der Alltag nicht leicht, die Familie zieht mehrfach um und vor Michels 18. Geburtstag haben sie sechsmal die Adresse gewechselt. 1962 arbeitet Tony als Lagerverwalter auf dem Luftstützpunkt Caritas in Orange, die Familie wohnt bis 1964 im Gebäude A der Siedlung Argensol, rue de l’Argensol, dann unter der neuen Adresse Villa La Ribambelle, rue du Languedoc in Orange von 1964 bis 1971.
In dieser Zeit beginnt Michel seine Familie immer mehr in Erstaunen zu versetzen. Mit vier Jahren sitzt er hinter der Tür zum Musikzimmer. Sein Vater will ihm mit Blick auf dessen Krankheit seine Passion nicht unbedingt übertragen. Freunde des Vaters kommen vorbei. Weil Tony der Anblick seines Sohnes etwas unangenehm ist, soll er sich nicht zeigen. Michel aber fühlt sich angezogen von der Musik und bittet seine Mutter, ihn ins Souterrain zu bringen und hinter der Tür zu verstecken. Tony kommt ihm auf die Schliche und ertappt Michel hinter der Tür dabei, wie er der Musik lauscht. Tony gefällt nicht, dass sein Sohn ungehorsam ist, doch da erwidert Michel, er könne alles nachsingen, was sein Vater eben geübt habe, und schlägt den Takt dazu. Er nimmt die Besen des Schlagzeugs und wiederholt die Chorusse der beiden Stücke, die sein Vater gespielt hat. Sein gutes Gehör und Gedächtnis irritieren den Vater, der sofort beschließt, seinem Jüngsten zu helfen. Er fragt ihn, welches Instrument er gern spielen würde. Michel schwelgt in Harmonien und liebt alle Musikinstrumente; er weiß nicht recht, was er sagen soll. Schlagzeug und Klavier ziehen ihn gleichermaßen an. Zu Weihnachten schenken ihm seine Eltern ein Spielzeugklavier. Er nimmt einen Hammer und schlägt das Ding kurz und klein – er wünscht sich ein anständiges Instrument und nicht solchen Kinderkram. Also schafft Tony, der noch auf der amerikanischen Airbase in Orange arbeitet, ein richtiges Standklavier herbei, »total verfault, ganz klebrig vor lauter Bier«. Und er erfindet eine Holzkonstruktion, damit sein kleiner Sohn mit den Füßen an die Pedale kommt. Ab diesem Moment muss Tony klar gewesen sein, wohin die Reise geht. Nicht zu vergessen das Schlagzeug, das Michel früh spielen lernt, und später sogar der Kontrabass, neben den er sich auf den Boden legt.
© Philippe Petrucciani
Philippe, Michel und Louis Petrucciani, 1965 (von links nach rechts)
© Philippe Petrucciani
Michel Petrucciani am Klavier, Montélimar 1968
Michel macht atemberaubende Fortschritte. Im Verlauf des Jahres 1970 wird er sich seines Talents wirklich bewusst. In einem Interview sagte der junge Petrucciani: »Ich weiß noch, dass ich im Alter von acht Jahren unter Tränen zu meinem Vater sagte: ›Ich höre endlos Musik in meinem Kopf. Er ist wie ein Radio, das immer eingeschaltet ist.‹ Für mich war das ein echter Albtraum. Doch mein Vater antwortete mir: ›Das ist gut. Mach was aus dieser Gabe.‹« Es erinnert an jene erstaunliche, aber wahre Anekdote von dem Patienten, dem sein Zahnarzt vor dem Wochenende eine Plombe einsetzt. Unerklärlicherweise verwandelt sich der Zahnersatz in einen Radioempfänger. Der Unglückliche hört mehrere Tage lang einen Sender in seinem Kopf und glaubt verrückt zu werden. Es ist nicht überliefert, ob er sich in der Nähe von Allouis befand, unter dem Langwellensender mit seinen zwei Millionen Watt!
Kurswechsel, die Wellen, die das Jahr 1971 schlägt, verdienen unsere Aufmerksamkeit. Wind bläht die Segel des Petrucciani-Schiffes mit Kommandant Tony auf der Brücke. Die ganze Besatzung zieht um in die rue Pierre Julien 124 in Montélimar etwa vierzig Kilometer nördlich von Orange. Tony eröffnet die Musikalienhandlung, von der er immer geträumt hat, in einer Straße, die nach einem der größten französischen Bildhauer des 18. Jahrhunderts benannt ist. Die Wohnung liegt oben, das Ladenlokal darunter. – Monsieur Petrucciani Special Music – Tel. (75) 01-38-79. Tony richtet das Haus ein: Er bricht einige Wände durch, um die Zimmer der Kinder miteinander zu verbinden, und richtet ein Musikzimmer ein, in dem Michel Klavier üben kann.
Philippe Petrucciani erinnert sich an das mit Musikinstrumenten dekorierte Schaufenster. Geige, Kontrabass, Cello und Schlagzeug begeistern die Kinder auf der Straße. Ihre geröteten Gesichter kleben am erleuchteten Kellerfenster wie die Bettelkinder vor der Backstube in Arthur Rimbauds »Effarés«. Tony und Anna bringen Schwung in ihren Laden. Sie tapezieren die Wände mit Plattenhüllen.
Im Katalog des Labels Vogue von 1973, der im Laden ausliegt, finden sich eine Liveaufnahme der Charlots aus dem Olympia in Paris von 1972, Jacques Dutroncs »1972«, die vierundzwanzig ersten Erfolge von Johnny Hallyday, Georgette Planas »La Femme aux bijoux«, Pierre Perrets »24 grands succès«, die Rockband Martin Circus, die Sankt-Hubertus-Messe gespielt von den Hornisten des Débuché de Paris, traditionelle deutsche Märsche auf Deutsch gesungen unter dem Titel »Ein Heller und ein Batzen«, Pierre Tchernia erzählt »Tom Pouce«, »Peter und der Wolf«, Bernard Blier spricht »Die Bremer Stadtmusikanten«, Jean-Pierre Cassel liest »Riquet à la Houppe«, Gilbert Sigrists »Organ Hit Parade«, Petula Clarks »Comme une prière«, Frédéric François’ »Je voudrais dormir près de toi« (Ich würde gerne bei dir schlafen), Marc Ogerets »Chansons salées de la marine à voiles« (Gesalzene Lieder der Segelschifffahrt), eine Aufnahme von »Barong, ein balinesisches Musikdrama« mit Louis Berthe, Jack Lantier singt Weihnachtslieder … Drei der vierundzwanzig Seiten dieses Katalogs sind dem Jazz gewidmet, darunter Mahalia Jackson – »Memorial«, Don Byas – »Memorial«, Count Basie plus Voices, Armstrong/Ellington – »The Great Reunion«, La Grande Parade de Django Reinhardt, das Gesamtwerk Sidney Bechets auf Vogue, drei Giganten des Jazz: Charlie Parker, Miles Davis und Dizzy Gillespie, Claude Luter und sein Orchester, »Jazz Summit« mit Stan Getz und Dave Brubeck. Louis Armstrong, Don Byas und Mahalia Jackson sind gerade gestorben. Dieser Vogue-Katalog verdeutlicht sehr gut den Stellenwert des Jazz in den 1970er-Jahren. Man ehrt das Andenken verstorbener Legenden und stellt keine neuen Künstler vor. Und das trotz der Beharrlichkeit und Leidenschaft eines Mannes wie Charles Delaunay, der 1947 gemeinsam mit Léon Cabat die Plattenfirma Vogue gegründet hatte. Vogue war das erste hundertprozentig französische Plattenlabel mit eigenen Studios, Presswerk, Musikvertrieb und so weiter.
© Benjamin Halay
Philippe Petrucciani vor der früheren Musikalienhandlung in Montélimar, 124 rue Pierre-Julien
Im hinteren Teil der Musikalienhandlung stimmt der junge Michel Petrucciani die Gitarren und führt elektronische Orgeln vor. Eines Tages will Anna eine Orgel verkaufen und ruft ihren Sohn Michel herbei, damit er darauf vorspielt. Das kleine Wunderkind drückt auf drei Knöpfe und spielt einen Blues mit walking bass in der linken Hand, lässt sich treiben und erfindet erweiterte Akkorde in höllischem Tempo. Die Eltern, die ihrem Sohn das Instrument kaufen wollen, sind fasziniert: »Ah, das ist ja toll, unser Sohn wird sich riesig freuen!« Glücklich ziehen sie mit dem Instrument von dannen. Einige Tage später passiert das Unvermeidliche. Die Eltern kommen zurück in den Laden und erklären: »Wir verstehen das nicht, wenn unser Kind spielt, klingt es überhaupt nicht so wie bei Ihrem Sohn.«
In den kommenden Jahren sitzt Michel entweder am Klavier und erhält klassischen Unterricht von Madame Raymonde Jacquemart oder er liegt wegen seiner häufigen Knochenbrüche mit Gipsverband im Krankenhaus. »Sonntagabends, eine falsche Bewegung und zack, jeder wusste Bescheid, es geht wieder ins Krankenhaus. Die Wochenenden klangen aus in der Notaufnahme«, erzählt Michel. Wenn er sich zu kratzen beginnt, schneidet Tony den Gips auf. Der Vater erzählt: »Er lag da und ich legte ihm ein kleines Klavier aufs Bett und dann übten wir zehn oder fünfzehn Stunden pro Tag. Er hatte eine Lehrerin für die Spieltechnik und ich brachte ihm die Akkorde bei, den Jazz.« Tony Petrucciani ist Michel gegenüber genauso streng und fordernd wie gegenüber seinen beiden anderen Söhnen. Er zeigt Charakter, indem er es dem Sohn angesichts seines herausragenden Talents ermöglicht, das schulische Lernen für seine Musikleidenschaft zurückzustellen. (Michel mag die Privatlehrer nicht, die ihn zu Hause unterrichten. Besonders erinnerte er sich an einen Mathematiklehrer, der nicht aufhörte »in der Nase zu bohren und kleine Popel zu drehen«.) Tonys Einfluss auf Michel ist groß. Bei ihm holt sich Michel Rat, auch in Fragen bestimmter musikalischer Herangehensweisen. Wenn Michel mit ihm musiziert, verspürt er eine nur in dieser Konstellation mögliche Komplizenschaft, weil Tony sein Vater ist, sein Musiklehrer und sein Freund. Tony sagte 1992 in einem Interview: »Die Leute fragen manchmal, wie es kommt, dass wir uns auf der Bühne so gut verstehen. Weil ich alles über seine Musik weiß und er alles über meine.«
© Philippe Petrucciani
Michel Petrucciani an der Orgel, 1974
Michel nimmt an Wettbewerben am Konservatorium teil, sein Vater will Ergebnisse sehen und droht ihm mit Konsequenzen im Falle seines Scheiterns. »Als kleiner Junge saß ich um neun Uhr morgens am Klavier. Mittags zog mich meine Mutter an den Haaren von ihm weg, und kaum hatte ich den Nachtisch aufgegessen, spielte ich weiter. Um 19 Uhr die gleiche Prozedur. Fünfzehn Jahre lang habe ich auf diese Weise meine Zeit verbracht, zum Schaden meiner Schulbildung und vieler persönlicher Dinge. Ich bin nicht besonders begabt, ich habe meinem Instrument nur unheimlich viel Zeit gewidmet.« Ihn verfolgt die Angstvorstellung, die Tasten des Klaviers seien Zähne und der Deckel ein Kiefer, der jeden Moment zuschnappt, wenn er nicht gut spielt. Sehr früh schon ahmt er seine Idole nach: Art Tatum, Oscar Peterson, Herbie Hancock, Erroll Garner, Bill Evans, Thelonious Monk … doch vor allem Wes Montgomery, er ermittelt seine Chorusse nach Gehör und ergründet jede musikalische Phrase, indem er sie transponiert. Bis hierhin ist dies nichts Besonderes, alle Jazzmusiker müssen durch diese Schule. Der Unterschied ist, dass Michel Petrucciani für sein Alter bereits über eine das normale Niveau weit überragende musikalische Sprache und Spieltechnik verfügt. In der Tribune vom 10. Juli 1997 schrieb Pierre-Henri Ardonceau: »Die erste Erinnerung an Michel Petrucciani ist verschwommen und präzis zugleich! Im Verlauf einer Feier in Montélimar zu Beginn der 1970er-Jahre (war es ein Ball? Ein Auftritt bei einer Ausstellung?) wurde ein Wunderkind angekündigt (Michel muss zehn, zwölf Jahre alt gewesen sein). Er spielte ultraschnellen Boogie-Woogie.« Ardonceau erwähnt, dass damals in einer lokalen Debatte Jazzpessimisten das bloße Zurschaustellen eines technisch Hochbegabten beklagen, während andere die Anzeichen von Genie erahnen.
Michel Petrucciani beginnt mit seinem Vater und seinen beiden Brüdern öffentlich aufzutreten, in Restaurants, auf Bällen und in den Jazzclubs Südfrankreichs. In der family band lernt er sehr früh, was es bedeutet, auf einer Bühne zu stehen und vor Publikum zu musizieren. Tony spielt oft samstagabends mit einem kleinen Orchester und organisiert die Konzerte mit seinen Sprösslingen selbst, mit Michel am Schlagzeug, Tony am Klavier, Louis am Kontrabass und Philippe an der Gitarre. Im Theater von Montélimar findet unter Tonys Leitung ein Abend mit jungen Talenten aus der Region statt, der allen Beteiligten noch lange in Erinnerung bleibt. Philippe zufolge hat sein Vater damit eine echte Jazzschule »von unten« begründet. Viele Musiker aus der Region, die bislang nur bei Tanzveranstaltungen auftraten, begannen sich nun ernsthaft mit dem Jazz zu befassen. Michel hätte Schlagzeuger werden können, aber er wollte unbedingt die Harmonien unter seinen Händen spüren und die Tasten des Klaviers so behandeln, wie ein Bäcker seinen Brotteig knetet. Während eines Solos im hohen Register fällt ihm plötzlich im wahrsten Sinn des Wortes sein Arm ab. Michel schreit: »Papa, ich kann nicht mehr spielen! Tut mir leid, das wars mit dem Konzert!« Vom Podium geht es auf einer Trage direkt ins Krankenhaus.
© Manhu Roche
Im Jazzclub von Saint-Remèze (Ardèche), 1977: Michel Petrucciani (Fender Rhodes); Olivier Rivaux (Bass), Philippe Petrucciani (Gitarre) und Manhu Roche (Drums)
Montélimar war und ist Durchgangsstation für Künstler, vor allem amerikanische, auf dem Weg zu den Festivals in Antibes, Nizza und Crest. So trifft eines Tages der berühmte kanadische Trompeter Maynard Ferguson ein. Einige Musiker vor Ort setzen sich engagiert dafür ein, dass der Jazz dort am Leben erhalten wird, wie etwa der Gitarrist Michel Perez und der Trompeter Alain Brunet. Über die Familie Petrucciani spricht man derweil immer häufiger. Ihr musikalisches Potenzial steht außer Zweifel, es schäumt über in den Clubs der gesamten Region und lauert auf jeden durchreisenden Musiker. Akribisch wie jemand, der sich im Bahnhof über die Ankunftszeiten der Züge erkundigt, durchforstet Tony mit Blick auf neue Spielpartner die Reisepläne der Jazzmusiker, in Montélimar, Toulon, Marseille, Orange …
In dieser Zeit ist der Mediziner und Biologe Yves Clauzel mit eigenem Labor am Place du Chapeau Rouge in Montélimar eine regionale Berühmtheit. Er ist ein guter Trompeter, spielt auch Klavier und liebt den Jazz. Mit seinem Bruder Robert hat er schon als Student Jazzabende im Café Riche in Montpellier veranstaltet. 1971 tritt er beim ersten Jazzfestival in Crest auf und leitet das Kulturzentrum in Montélimar. Bis 1957 finden die »bœufs«, die Jamsessions, in einem Raum direkt über seinem Labor statt. Danach finden mehr als drei Jahrzehnte lang bis 1995 Hauskonzerte bei ihm in der impasse Xavier-Mallet statt.
© Dolorès Clauzel
Das Haus von Dr. Clauzelin Montélimar, Frühjahr 1980
Dr. Clauzel lädt auch die Petruccianis zum freitagabendlichen Jammen ein. Das weiträumige, loftartige Zimmer nennt er einfach »la Musique«; es bietet den ganzen Komfort eines privaten Jazzclubs. Ein Steinway-Flügel steht dort, außerdem ein Schlagzeug, ein Kontrabass sowie Equipment zur Verstärkung und zum Aufnehmen. Für das Publikum stehen Sofas bereit. Die musikalischen Darbietungen werden aufgezeichnet und man arbeitet beharrlicher an Standardthemen als in jeder Jazzschule. Zu Petrucciani-Zeiten ist oft Gilbert Salard am Klavier, Jean-Pierre Ayzac am Schlagzeug und Jacques Chabert am Bass. Zu ihnen stoßen Musiker wie der Trompeter Roger Guérin, der mit dem Chansonnier Claude Nougaro arbeitet, der Posaunist Benny Vasseur und der Trompeter Léon Merian; außerdem der Trompeter Ernie Royal, bekannt durch seine Zusammenarbeit mit Lionel Hampton, Count Basie und Miles Davis, der Bassist Didier Del-Aguila und der Trompeter Laurent Rieu. Tony baut zu jener Zeit ein kleines, auf Michel zugeschnittenes Schlagzeug »à la Chick Webb«.
Die Frau des Arztes, Dolorès Clauzel, die alle Lolita nennen, hatte große Bedeutung für Anna, Michel Petruccianis Mutter. »Für mich war sie wie Christus. Michel brauchte sehr viel Pflege. Andauernd brach er sich die Knochen. Einmal mit dem Auto scharf gebremst und schon konnte er sich wieder etwas gebrochen haben.« Michel hatte großen Erfolg bei den Mädels, Dolorès Clauzel kann das bestätigen. Eines Tages sagt er zu seinen Brüdern sowie zu seinem Freund Manhu Roche, er habe Konzerte in Paris, es gebe jedoch ein Problem: Wie solle er ohne Auto dorthin kommen? Alle brechen also gemeinsam nach Paris auf, kommen an und machen die Runde in den Clubs, in denen Michel auftreten soll. Philippe, Louis und Manhu wundern sich, dass sein Name nirgends in den Programmen steht. Michel tut erstaunt: »Ich verstehe das nicht, offenbar sind die Gigs annulliert worden! Seid ihr sicher? Schaut noch mal genau nach.« In der Tat war nirgendwo ein Konzert von Michel Petrucciani angekündigt! Doch Michel bleibt gelassen: »Kein Problem. Ich weiß, wo wir hingehen.« Und dann versammeln sich alle bei einer Freundin Michels. Philippe, Louis und Manhu pennen auf dem Boden und Michel schön warm gebettet neben seiner Geliebten! Er hatte das ganze Theater nur inszeniert, um diese Freundin besuchen zu können. Von Anfang an war es Michel um nichts anderes gegangen!
Das imposante Anwesen der Clauzels ist wie das Haus der Aristocats, wo aus allen Ritzen Musik dringt. Die Musiker kommen und gehen, wie es ihnen gefällt; manche übernachten dort und spielen ohne Pause, manchmal bis drei oder vier Uhr morgens. Dolorès kocht für alle, reicht Getränke und lauscht freudig den Klängen. Ihre Liebe zur Malerei und vor allem zu der von Michel Maly behält sie für sich. Noch heute sammelt sie Bilder für ihren Pavillon und findet auch in der Enge immer einen Platz für sie. Mit Zartgefühl widmet sie sich dem Andenken an ihren Mann, der jetzt in der Urne auf dem Esszimmerschrank ruht. Sie schildert mir die Atmosphäre, in der die Petruccianis und Yves Clauzel zusammen Musik machten. »Ich habe die Wochenenden jedes Mal voller Ungeduld erwartet.«
© Dolorès Clauzel
Die Petrucciani-Brüder Michel (Drums), Louis (Bass), Philippe (Gitarre) mit José Combaluzier (Trompete)
© Dolorès Clauzel
Im Wohnzimmer der Clauzels, Montélimar 1981
© Dolorès Clauzel
Michel Petrucciani (Klavier) und Dr. Yves Clauzel (Trompete), 11. Dezember 1981
Die Freitagabende bei Dr. Clauzel, sie haben etwas vom Geist des berühmten Gemäldes von Abraham Bosse, »L’Ouïe« (Das Gehör, um 1638). Es ist eine musikalische Versammlung in Montélimar, ohne Universität, Unterricht, Prüfung oder Akademie, wo das Urteilsvermögen lediglich die Frucht einer gemeinsam gelebten Erfahrung ist. Welcher Maler hätte die Szenerie in seinen Bildern festhalten können? Nicolas de Staël vielleicht, ein von Michel Petrucciani bewunderter Maler, in einer so flüchtigen und exaltierten Darstellung wie bei »Les Musiciens« (1952) oder »Les Grands Footballeurs« (1953). Theorie und Technik bilden gewiss einen wichtigen Teil seiner Beschäftigung, aber in Michel Petrucciani ruht eine außergewöhnliche Begabung, und der Drang nach technischer Beherrschung des musikalischen Wissens hat bei ihm nur ein einziges Ziel, nämlich den öffentlichen Auftritt und eine individuelle Harmonie. Diese Form des Lernens hat nichts Innovatives, aber eines ist gewiss: Der Jazz ist eine flüchtige Kunst und die Improvisation eine Schule des Moments. Schon 1477 schrieb der Komponist und Theoretiker Johannes Tinctoris in einer Abhandlung, dass die Musik keine Theorie für sich beanspruche, sondern »auditive Impressionen: anmutig (suavitas delectat) oder rau (asperitas offendit) – das Sanfte gefällt, das Raue missfällt.«
In der Montélimar-Ausgabe von La Tribune vom 10. Juli 1997 fragt sich Dolorès Clauzel mit Bezug auf Michel: »Alle seine Freunde sagten, als sie seine ersten Interviews lasen: ›Aber warum verliert er kein Wort über Montélimar? Was hat er bloß gegen diese Stadt?‹« Als einzige Antwort bietet sich zweifellos diese Schallplatte an, die es 1994 kostenlos bei Fnac gab und die völlig unbemerkt die Veröffentlichung des Albums Marvellous begleitete. Die Platte umfasst nur ein – allerdings symbolträchtiges – Stück mit dem Titel »Montélimar«. Michel Petrucciani spielt Klavier und Orgel, im Over-dubbingverfahren. Soll man darin eine versteckte Hommage an das berühmte, Anfang 1963 aufgenommene Conversations with Myself von Bill Evans sehen? Klavier und Orgel zusammen erinnern an seine Jugendjahre, denn er übte damals an beiden Instrumenten im Geschäft seiner Eltern. Diese Platte weist voraus auf sein späteres Duo mit dem Organisten Eddy Louiss und ihr Album Conférence de Presse, als er aus den USA zurückgekehrt war und seine erste Veröffentlichung beim Plattenlabel Dreyfus herausbrachte. »Montélimar« ist eine schnelle Samba und hat nichts Nostalgisches, das Thema erinnert in seinem Intro eher an jenen »English Blues« von seinem ersten Album, Flash.
1976 trennt sich die Familie Petrucciani von ihrer Musikalienhandlung und zieht aufs Land, nach Les Thermes – Route de Châteauneuf, und bleibt damit in der nahen Umgebung von Montélimar. Sie bewohnen einen mini-malistischen 50er-Jahre-Bau, modern, geometrisch kühl, der an das Haus der Familie Arpel in Jacques Tatis Film Mon Oncle erinnert. Das Haus hat als Besonderheit einen Knick im Dach und eine Regenrinne in der Mitte und liegt nur fünfzig Meter neben einer Eisenbahnlinie. In seinem Artikel »The Paris Metro« vom 27. September 1978 schrieb Mike Zwerin: »The house is really picturesque, provençal Mussolini-modern«, als sei es direkt einem Fellini-Film entsprungen. Übrigens vergleicht Zwerin in diesem Artikel Michel Petrucciani mit Fürst Myschkin aus Der Idiot von Fjodor Dostojewski (1821–1881). Myschkin ist eigentlich ein großmütiger und schöner Mann, wird jedoch in seinem Verhalten von der Mitwelt als »Idiot« empfunden, der eine ganz eigene Sicht auf die Dinge hat und sie in die Welt zu tragen beginnt. So gesehen kommt Michel Petrucciani eine vergleichbare »Art Erlöserrolle« zu. Aber, so Zwerin, »die eines neuen Menschentyps, der gibt, ohne zu berechnen.«
© Benjamin Halay
Das »moderne Haus« der Familie Petrucciani nahe der Zugstrecke nach Montélimar