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Charlie führte mich zu seiner Wohnung. Die Sporthalle stand im neueren Teil der Stadt: viel wuchtige Sechzigerjahre-Architektur, Gebäude also, wie sie ein Kind entwerfen würde, nachdem es sein erstes Lineal geschenkt bekommen hat. Rechteckig und quietschbunt. Die neuen Straßen mit Kopfsteinpflaster gingen in alte Straßen mit Kopfsteinpflaster über, je näher wir dem Fluss kamen. Das Gericht und das Theater, direkt am Wasser, waren vom Stil her auch eher einfach gehalten, aber bei Weitem eleganter; hier kam der deutsche Sinn für Ordnung voll zur Geltung.

Landshut erlebte seine Blüte im sechzehnten Jahrhundert, als irgendein bayrischer Prinz die Stadt zu seiner Residenz machte. Es wurde zur Marktgemeinde, in die alle umliegenden Hügel ihre Erträge schütteten. Durch die Isar war die Stadt mit München und dem restlichen Deutschland verbunden, und auch jetzt noch war sie von kaufmännischem Stolz und Wohlstand geprägt, der nur zum Teil vom Tourismus abhing. Stündlich kamen Züge aus München an, und Oktoberfestbesucher überschwemmten die Stadt. Aber auch abseits der Wiesn-Zeit war sie für Amerikaner und Briten so attraktiv, dass entlang der Hauptstraße ein paar kitschige Biergärten betrieben wurden. Neben einem davon wohnte Charlie, im obersten Stockwerk eines zusammengesackten, mittelalterlichen Bürgerhauses, dessen Treppen so schmal waren, dass ich sie nur gebückt und mit den Händen auf den Stufen vor mir erklimmen konnte.

«Seit wann wohnst du hier?», fragte ich, als wir oben ankamen. Die Wohnung war schöner und größer als von mir vermutet, aber praktisch unmöbliert. In einer Ecke des Wohnzimmers stand ein Sessel, direkt gegenüber eines dieser billigen Rollteile aus Holz, auf die man einen Fernseher und einen Videorekorder stellen kann. Ansonsten gab es keine Sitzgelegenheit, nur die zwei Barhocker bei der Anrichte, die Küche und Wohnzimmer voneinander trennte. Dort an der Wand lehnten ein paar Kochbücher aus der Learn to cook-Reihe (italienisch, thailändisch, französisch etc.). Am anderen Ende des Wohnzimmers zeigten französische Fenster auf einen langen, schmalen Balkon voller Blumentöpfe.

«Ich wohne hier nicht, ich arbeite hier», sagte er. Sein Ton war der gleiche, den er auch auf dem Basketballfeld verwendete, wo sein Motto lautete: immer korrekt. Dann fügte er leicht verlegen hinzu: «Seit vier Jahren oder so.»

Wir aßen auf dem Balkon. Charlie hatte das Gericht bereits vor dem Training zubereitet: Nudelsalat mit Chili, Soja und Fisch. Er bot mir ein Bier an, ein einheimisches Pils, das ich annahm, aber kaum zum Mund führte; er nuckelte den ganzen Nachmittag über an seinem. Beim Essen zeigte er mir Fotos von dem Haus, das er außerhalb von Chicago baute. Dort «wohne» er, sagte Charlie, und immer zwischen den Spielzeiten würde er mit ein paar Kumpels daran weiterbauen. Er sei quasi auf Baustellen groß geworden, denn sein Vater habe in der Baubranche gearbeitet. Jetzt gerade würde sein Dad im hinteren Teil des Gartens das Fundament für einen Tennisplatz ausheben.

«Dort kannst du dich zur Ruhe setzen», sagte ich, «wenn du fünfunddreißig bist.»

Er meinte, da werde er wohl länger warten müssen. Sein wahres Gesicht war unter den rauen Aknenarben kaum zu erkennen, dahinter lag so einiges im Verborgenen, wie mir schien. Er sagte: «Ich schätze, du bist nicht länger dabei als ein, zwei Jahre. Du hast andere Pläne.»

«Und die wären?», fragte ich lächelnd.

Aber ich hatte mich wohl im Ton vergriffen, denn er antwortete nicht. Also sagte ich ihm, dass ich Schriftsteller werden wollte und dachte, Basketball sei eine interessante Möglichkeit, ein paar Rechnungen zu bezahlen. Außerdem würde ich über diese Erfahrung vielleicht auch schreiben können.

Charlie nickte. «Ich dachte mir schon, dass dir was anderes vorschwebt.»

«Was meinst du mit ‹was anderes›?»

«Etwas anderes als Basketball.»

Über den ganzen Nachmittag hinweg hatte er sich immer wieder mit seinen Blumentöpfen beschäftigt, also verblühte Rosen abgezwickt, nach Schnecken gesucht etc. Jetzt stand er auf, um an einem Wasserhahn in der Außenwand die Gießkanne zu füllen. «Ich habe schon mit Typen wie dir gespielt», sagte er, «Typen, die in sich gekehrt sind. Du lässt dich von diesen ganzen Rowdys herumschubsen. Ich weiß, ich bin auch einer von ihnen. Aber du musst dich wehren.» Er senkte die Stimme ein wenig und setzte sein wütendes Gesicht auf, seine «schwarze» Sprechweise. «Ich rede von Milo», sagte er. «Lass dir von dem nichts erzählen. Du bist nicht sein Musterschüler. Er ist nicht dein Lehrer. Wenn er dir das nächste Mal sagt, was du tun sollst – egal, was es ist! –, dann machst du ihn kalt.»

Er schlug seine Faust in die andere Hand. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: «Du siehst mich schon wieder so komisch an. Wie wenn du alles nur beobachtest.»

Die Gießkanne war leer, deshalb füllte er sie erneut. Und er fing an, von sich zu erzählen, während er zwischen den Blumen herumging. Er sei jetzt seit zehn Jahren in diesem Land. Sein erster Job sei in Gelsenkirchen gewesen, das ihn an bestimmte Gegenden von Ohio erinnerte, wohlhabend, von Industrie geprägt. Damals spielte der Club dort in der vierten Liga. Sie hatten nicht das Geld, um ihm das volle Gehalt zu bezahlen. Teil dieses Jobs war, behinderte Kinder zu betreuen. Er war zweiundzwanzig Jahre alt und hatte den Mittleren Westen bis dahin kaum verlassen. Das Heimweh war so schlimm wie eine Lungenentzündung; fast wäre er ein Fall fürs Bett geworden. Davor hatte er noch nie mit behinderten Menschen zu tun gehabt, und diese Erfahrung kam zu einem ungünstigen Zeitpunkt: Er war jung, kerngesund und von sich überzeugt. Und begann, an sich selbst zu zweifeln – eine schlechte Kombination.

«Ich habe diese Kinder gehasst», sagte er. «Wollte sie gar nicht ansehen. Aber ich bin mit ihnen zum Schwimmen, hab ihnen beim Umziehen geholfen. Hab ihnen die Windeln gewechselt. Manche so vier, fünf Jahre alt. Und die meisten waren glücklicher als ich.»

Er war davon ausgegangen, dass zumindest der Basketball okay sein würde – er würde viel ertragen können, wenn es beim Basketball gut lief. Er hatte gedacht, er könnte den Deutschen beibringen, wie man richtig spielt. Stattdessen musste er feststellen, dass es eine Menge Jungs gab, die besser werfen konnten als er, höher springen konnten als er, schneller rennen konnten als er. Wenn ihn damals jemand gefragt hätte, ob er bis Weihnachten durchhalten würde, hätte er gesagt: Auf keinen Fall.

«Ich habe vor, bis Chanukka durchzuhalten», sagte ich.

Er sah mich an. «Ach was, so schlecht bist du gar nicht», sagte er. «Das beweist nur, dass du Vieles weißt.»

Zu der Einrichtung in Gelsenkirchen gehörte ein Garten, und er half der Betreuerin, die ihn in Schuss halten sollte. Gärtnern wurde als gute Therapie angesehen. Das war eine ihrer Theorien, und es stimmte tatsächlich, die Kinder fanden es fantastisch. Er war in Chicago in einer Wohnung im zehnten Stock aufgewachsen, deren Balkon gerade mal so groß war, dass seine Mutter die Wäsche aufhängen konnte. Er hing immer voller Wäsche; für etwas anderes war kein Platz. Damit wollte er sagen, dass er vor Gelsenkirchen keine Ahnung von Gartenarbeit gehabt hatte; aber das Jahr lief nicht besonders gut für ihn, eines der wenigen Geschenke, die es ihm bescherte, waren ein paar Erdbeeren, die er selbst gepflanzt hatte und die er mitnehmen und essen durfte. Am Ende der Saison stieg Gelsenkirchen in die dritte Liga auf – auch dazu hatte er seinen Anteil beigetragen. Später bekam er dann einen Job in Hamburg bei einem Zweitligaclub; dann in Freiburg, Nürnberg, schließlich Landshut. Und überall, wo er hinging, nahm er seine Blumentöpfe und seinen großen Fernseher mit.

«Du fragst dich wahrscheinlich, worauf ich eigentlich hinauswill», sagte er.

«Du denkst, wenn ich nicht aufpasse, bin ich in zehn Jahren immer noch hier?»

Aber er schüttelte den Kopf. Worauf er eigentlich hinauswollte, war, dass er in seinem ersten Jahr den Meistertitel der Liga geholt hatte. «Basketball ist genau wie alles andere auch. Du kannst aus dir machen, was du aus dir machen willst.»

Es gab einen peinlichen Moment, als ich ging. «Was hast du vor?», fragte er. «Wir haben den ganzen Nachmittag Zeit.» Er wollte ein Video ansehen und sich dann vielleicht ein bisschen hinlegen, aber ich sei herzlich eingeladen, für den Film zu bleiben.

«Du hast doch nur einen Sessel», meinte ich, während ich schon zur Tür ging, und dann stand er im Eingang und sah zu, wie ich mich die schmale Treppe hinuntertastete.

Spieltage

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