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Mein Vater behauptet gern, es sei sein Onkel Joe gewesen – und nicht etwa Kenny Sailors, Bud Palmer oder Belus van Smawley –, der im Jahr 1931 den Jumpshot erfunden hat. Mein Urgroßvater, Ari Markovits, maß zwei Meter acht und wog über hundertzwanzig Kilo, als er mit neunundneunzig Jahren starb, zwei Wochen vor der Bar-Mizwa meines Vaters. «Früher war ich mal groß», war einer der Witze, die er im Alter gern machte. In jungen Jahren muss er also ein Riese gewesen sein, und Onkel Joe verbrachte seine Kindheit damit, über ihn drüber werfen zu wollen.

Meine Familie kam kurz vor dem Ersten Weltkrieg aus Bayern in die Staaten. Basketball ist von jeher ein Ghetto-Spiel, aber in den Anfangstagen waren die Ghettos jüdisch und die Stars eben weitgehend Juden.

Die Markovitse haben sich in der üblichen Manier hochgearbeitet. Mein Großvater wurde in München gezeugt und in der Lower East Side New Yorks geboren. Als junger Mann stieg er in den Lebensmittelhandel seiner Cousins ein und half, ihn zu einem Franchise- Unternehmen auszuweiten. Er zog mit seiner Familie nach Middletown, um dort die neue Zentrale auszubauen, und fuhr drei Abende die Woche ins zwei Stunden entfernte Manhattan, um an der Columbia University Jura zu studieren. Das Haus, in dem mein Vater aufwuchs, war wohlhabend, gehobene Mittelschicht, dennoch brüstete er sich damit, bis zum College außerhalb des Unterrichts nie ein Buch gelesen zu haben: Seine Nachmittage verbrachte er lieber auf dem Sportplatz.

«Markovits», sagte sein Highschool-Trainer einmal zu ihm. «Du bist vielleicht langsam, auf jeden Fall aber schwach.»

Allerdings hatte er ein scharfes Auge und flinke Hände. Dies waren für mich als Kind nur zwei Werkzeuge seiner allumfassenden Autorität. Ich war der Sohn, der seine Leidenschaft für den Sport geerbt hatte, dazu noch etwas von der Größe meines Urgroßvaters und Onkel Joes Körperlichkeit. Wir spielten alles Mögliche zusammen, Basketball, Tennis, Billard – und verbrachten den Großteil meines eher freundelosen ersten Highschool-Jahrs über einen Miniatur-Tischtennistisch gebeugt, der nicht größer als dreißig auf sechzig Zentimeter war. Mein Vater besitzt unendlich viel Geduld, aber er spielt keineswegs, um sich zu entspannen. Als ich zwölf oder dreizehn war, konnten wir uns ohne jede Rücksicht miteinander messen.

Die Familiengeschicke folgten der üblichen Flugbahn. Als Enkel eines Einwanderers und Sohn eines praktizierenden Anwalts war mein Vater Juraprofessor geworden. Sein eigener Sohn wollte Schriftsteller werden. Das Haus, in dem ich aufwuchs, war voller Bücher. Die Sommer verbrachten wir in Deutschland, wo meine Mutter geboren und aufgewachsen war, und jedes Mal schleppte mein Vater Antiquitäten und Teppiche mit zurück, die nach und nach unser sonniges Haus in Texas füllten. Es hatte einen großen Garten, und im hinteren Teil richtete er einen Basketballcourt ein, damit seine Kinder dort spielen konnten.

Vermutlich war ich nirgendwo glücklicher als auf diesem Spielfeld. Aber zwischen meiner und seiner Kindheit war irgendetwas geschehen, und der Unterschied lag nicht nur in dem Geld, mit dem wir jeweils aufwuchsen. Für ihn war Basketball die Entschuldigung gewesen, von zu Hause weg zu können; für mich war es der Grund, daheimzubleiben. Auch das Spiel selbst hatte sich verändert. Es gab keine jüdischen Stars mehr, Schwarze waren auf sie gefolgt, und auch in den Vierteln und auf den Sportplätzen sah man sie. Die Hälfte der Kinder, mit denen ich zur Schule ging, war schwarz, eher weniger in den Vertiefungskursen, deutlich mehr im Basketballteam. Der Sportplatz war einer der wenigen Orte, an denen wir gemeinsam abhingen, doch selbst dort machte sich die vornehme Zurückhaltung meines, nennen wir es: Klassenbewusstseins bemerkbar. Zum Beispiel wäre mir nie in den Sinn gekommen, einen Ball zu dunken.

Basketball tut weh, das ist das Erste, was man lernt, bis die Finger von einer Hornhaut überzogen sind, die in sich nur den ein oder anderen Tropfen Blut trägt. Meine Mutter, eine Sozialistin alter Schule, meinte bei ihrem Anblick: «Mit solchen Händen wirst du die Revolution überleben.»

Nicht dass einem das auf dem Platz viel half. Während meiner Highschool-Jahre folgte mein Vater freitagabends dem Teambus durch ganz Texas, um mich spielen zu sehen. An Orte, die Del Valle oder Copperas Cove hießen und vor deren Sporthallen die Konföderiertenflagge wehte. Er war bei den anderen Vätern auf der Tribüne, während ich auf der Bank auf meinen Händen saß (um sie aufzuwärmen). Ich hatte Angst davor, dass der Trainer mich aufs Feld schickt. Vermutlich haben viele Eltern ein Gespür dafür, wozu ihre Kinder fähig sind, wenn sie sich unbeobachtet fühlen. In der Welt und in ihrer Liebe müssen wir ganz unterschiedlichen Ansprüchen genügen, und diese Differenz zu beobachten, muss schmerzhaft für sie sein.

«Soll ich mal mit dem Coach reden?», fragte er mich einmal auf dem Heimweg. Manchmal fuhr ich lieber mit ihm als im Mannschaftsbus.

«Bitte nicht», sagte ich.

Aber er ließ nicht locker. «Die hätten dich da draußen gebrauchen können. Ich weiß doch, was du draufhast.»

«Bitte nicht.»

Meine Scheu war Beleg dafür, wie selbstsicher er seit seiner Kindheit in den Straßen von Middletown geworden war.

Aber kurz vor dem College-Abschluss hatte auch ich so meine Erfahrungen gemacht. Und irgendwann in den vier Wanderjahren des Studiums kam ich auf die Idee, professionell Basketball zu spielen – niemand in meinem Bekanntenkreis hatte je vom Schreiben leben können.

Ein Freund filmte mich in der Uni-Sporthalle, wie ich ganz für mich allein Bälle warf und dunkte. Das war die Bewerbung, die ich verschickte, begleitet von der kleinen, aber entscheidenden Information, dass meine Mutter Deutsche war, was mir erlaubte, die europäische Quote für ausländische Spieler zu umgehen. Während meine Kommilitonen sich eifrig für Aufbaustudiengänge bewarben, Jura oder Medizin, und auf ihre Zulassungsbescheide warteten, verließ ich an einem windigen Märztag das Büro des Dekans und hatte die vier dünnen Seiten eines Vertrags in der Hand, den ein Agent gerade durchgefaxt hatte. Und ich zeigte ihn jedem, der in meine Nähe kam. Das hatte so etwas wunderbar Unplausibles. Ich hatte mit siebzehn das letzte Mal ein Trikot getragen, aber trotzdem gab es da jemanden in Ober-Ramstadt, der sich entschieden hatte, mich zu vertreten.

Ich wollte zu irgendetwas zurückkehren, zur Kindheit meines Vaters ebenso sehr wie zu meiner eigenen. Ein zielsicherer Jumpshot und eine gute linke Hand waren ihm viel wichtiger gewesen als Berufsausbildung, Gehalt, Festanstellung oder Hypothek. Ein normales Leben als Erwachsener kam mir vor wie einer dieser gesellschaftlichen Anlässe, zu denen man als Kind mitgeschleppt wird – wo man Anzug und Krawatte trägt, die einem nicht passen, und Sachen sagt, von denen man nicht überzeugt ist. Basketball war meine Entschuldigung, nicht hinzugehen. Außerdem wollte ich endlich die Dinge tun, die ich in der Highschool versäumt hatte.

Zwei Tage nach dem Studienabschluss flog ich nach Hamburg und verbrachte den Sommer damit, von einem Zug zum nächsten und vom Hotel in die Sporthalle zu gehen. Damals hatte ich nicht viel Gepäck, nur meine Sporttasche mit einer Ersatzgarnitur für alles, inklusive Sneakers, sowie dem dicken Ball in der Mitte. Die Klamotten wusch ich in dem Waschbecken, das gerade zur Verfügung stand. Die meisten der großen Städte waren vom Fußball dominiert, nur auf dem Land, in den Dörfern und Marktgemeinden, hatte der Basketball Luft zum Atmen. Ab Ende Juli war ich dann in Landshut, nordöstlich von München, bei einer Zweitligamannschaft unter Vertrag, die in der Gegend als «Yoghurts» bekannt war. Ich hatte einen Monat Zeit und flog nach Hause, um den Sommer wie üblich damit zuzubringen, zwischen der Kälte der Klimaanlage und der grellen, reflektierenden Hitze des väterlichen Basketballcourts zu pendeln. Ende August stieg ich dann in den Flieger nach München, um mein neues Leben zu beginnen.

Mein Vater brachte mich zum Flughafen und blieb bei laufendem Motor eine Minute lang im Auto sitzen. Er legte mir die Hand auf die Schulter; ich wusste, dass er einen Ratschlag vorbereitet hatte. «Tu mir einen Gefallen, ja?», sagte er schließlich. «Mach keinen Quatsch mit diesen Jungs, diesen Spielern.»

«Was meinst du mit Quatsch machen?»

«Du weißt, was ich meine», sagte er. «Zocken oder so. Das sind nicht die Kids, mit denen du aufgewachsen bist. Und wo wir gerade dabei sind: Hüte dich auch vor den Frauen, die um sie herumschwirren.»

Als ich dann die Sicherheitskontrolle, das Einchecken und den langen, fensterlosen Korridor zum Gate hinter mich brachte, spürte ich etwas Seltsames. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Angst vorm Fliegen.

Spieltage

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