Читать книгу Spieltage - Benjamin Markovits - Страница 12
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ОглавлениеEine Woche vor Saisonbeginn gab Henkel uns den Freitagabend frei. Manchmal entließ er uns früher ins Wochenende, wenn wir (wie er sagte) «brav» gewesen waren. In Wahrheit, erzählte mir Olaf einmal, wohnte seine Familie in Regensburg, zwei Autostunden entfernt, und er konnte es selbst kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Er hatte erst vor Kurzem mit dem Spielen aufgehört. Regensburg war in der dritten Liga, deren Vereine sich meist nur ein bis zwei Vollzeitprofis leisten können. In seiner Glanzzeit hatte Henkel in der Bundesliga gespielt; aber mit vierzig merkte er, dass er noch andere Ambitionen hatte, und nahm dort einen Job als Spielertrainer an, um auch im Management-Bereich tätig werden zu können. Landshut war dann der nächste Schritt auf der Leiter – und dazu das erste Jahr, in dem er nicht mehr selbst spielte. Seine Frau und die beiden jungen Töchter blieben zurück, für den Fall, dass die Dinge nicht so klappten wie geplant. Der Verein besorgte ihm eine Wohnung unweit der Halle, in der Neustadt, wie dieses Viertel hieß, und fünf Nächte pro Woche wohnte er dort. Was auch sein Beharren auf dem Abendtraining erklärte: Er hatte sonst nichts zu tun.
Ich nutzte die freien Nachmittage manchmal, um nach München zu fahren. Mit dem Fahrrad brauchte man zehn Minuten bis zum Bahnhof, über den Fluss und durch das Flachland am Stadtrand, wo der Kampf zwischen Bauernhöfen, Vorstadtsiedlungen und Industrieanlagen noch nicht entschieden war. Irgendwann entdeckte ich eine Route, die mich durch Felder mit hochstehendem Getreide führte; mit das Schönste an meinen Ausflügen in die Großstadt war diese kurze Fahrt auf zwei Rädern. Die Straße führte weitgehend bergab, und ich konnte ganz nach Belieben das Zusammenspiel neuer Muskeln in meinen Beinen trainieren oder sie einfach baumeln lassen. Für dieses Jahr meines Lebens besitze ich wenig Nostalgie, aber was davon vorhanden ist, wird meist durch Züge geweckt. Nicht durch ihren Geruch oder ihren Anblick – eher beim dazugehörigen Warten. Ich erinnere mich ganz genau an mein Gefühl, wenn ich damals die Fahrkarte kaufte und am Bahnsteig wartete: einsam, erwartungslos, fröhlich.
Nichts, so dachte ich, könnte mir in München widerfahren, das den stetigen, langsamen Rhythmus meiner Tage verändern würde, wenngleich ich meine Fahrten in die Stadt natürlich in der Hoffnung machte, dem wäre vielleicht doch so.
An diesem Freitag hatte Olaf mich zum Abendessen bei seinen Eltern eingeladen. Er war schon nach dem Morgentraining hingefahren, und ich folgte ein paar Stunden später, nachdem ich etwas zu Mittag gegessen und mich kurz hingelegt hatte. Es hatte die ganze Woche geregnet, warmer Sommerregen, der alles klamm und klebrig werden ließ, aber der Nachmittag war schon trockener und auch ein wenig kühler. Weiße Schwaden hingen über den Bäumen und sahen mehr nach Himmel als nach Wolken aus. Im Fahrradraum stand das Wasser und spiegelte den grauen Tag; ich schloss mein Rad inmitten einer bunten Vielzahl von Speichen ab. Ein Mann mit Schnurrbart und Krawatte stand am gepflasterten Eingang zum Bahnhof und bediente einen langen Schlauch, der das Wasser aus dem Fahrradraum heraus auf die Straße pumpte. Er unterbrach die Tätigkeit kurz, um mich vorbeizulassen.
Der Zug war voller als sonst, aber ich fand einen freien Platz an einem Tisch, entgegen der Fahrtrichtung. Ich wollte nicht über Nacht bleiben und hatte nichts dabei außer mein Buch, ein von Klebeband zusammengehaltenes Exemplar von Three Men on the Bummel aus der Stadtbücherei. Außerdem, zusammengelegt in der Tasche meiner Jeans, eine lederne Kippa.
Bei meinem ersten Ausflug nach München hatte ich mir das Viertel angesehen, aus dem der jüdische Teil meiner Familie stammte: Schwabing, eine Gegend, die mittlerweile sehr angesagt war. Vielleicht war sie das schon immer, wenngleich ich stark bezweifle, dass meine Urgroßeltern zu den progressiven Juden gehörten, deren spirituelle und intellektuelle Experimente dem kulturellen Leben im Deutschland der Jahrhundertwende seine radikale und moderne Note verlieh. Nein, nach dem, was ich von diesem Teil meiner Familie weiß, vermute ich eher, dass sie zwar kritisch, neugierig und unternehmungslustig waren, im Grunde aber stockkonservativ. Die Straßen mit den hohen, stuckverzierten Häusern vermittelten eine entspannte, kosmopolitische Gemütlichkeit: gusseiserne Balkone, auf denen Blumen und Fahrräder standen; dahinter hohe französische Fenster, bei denen ich immer an Frühstück, Zeitunglesen im Morgenrock und vertrödelte Regentage denken muss. Im Erdgeschoss gab es Bäckereien, Schreibwarenhandlungen, Tabakläden und von Topfpflanzen verdunkelte Restaurants.
Mein Vater hatte mir die Adresse genannt, wo seine Großeltern gewohnt haben, und ich verbrachte einen äußerst glücklichen Freitagnachmittag damit, sie zu suchen. Sie lag in einer langen, belaubten, Pflasterstraße. Aber die Hausnummern mussten sich geändert haben; zumindest konnte ich ihre nicht finden.
Was ich aber fand, oder besser: entdeckte, war ein dicker junger Mann mit umgehängter Maschinenpistole, der in einer ruhigen Seitenstraße vor einem ansonsten unscheinbaren Eingang Wache stand. Ich hatte zwei Jahre meiner Kindheit in Berlin verbracht und wusste daher, was das zu bedeuten hatte: es war eine Synagoge.
Meine eigene Verbindung zum Judentum war nie ganz unmittelbar. Meine Mutter ist nicht nur Deutsche, sondern auch Christin. Okay, ich wurde im jüdischen Glauben erzogen und habe auch die Bar-Mizwa mitgemacht (bei einem Rabbi, der sich bei der anschließenden Feier in sein Auto verdrückt hat, um im Radio den Stand des Footballspiels zwischen Texas und Oklahoma zu erfahren), aber meine Kenntnisse des Deutschen und der Kriegsgeschichten, die ich mir zur Schlafenszeit über schlimme Verluste und knappes Entkommen anhören musste, stammten aus der christlichen Hälfte meiner Familie. Als ich aufs College ging, hielt mich meine irgendwie zwiespältige Position gegenüber dem Judentum davon ab, am Freitagabend bei Hillel-Treffen vorbeizuschauen oder an den Feiertagen den Gottesdienst zu besuchen. Viele College-Studenten driften von ihrer Religion weg, genauso viele steuern erst da so richtig auf sie zu. Vermutlich trug ich schon immer die Veranlagung zum Wegdriften in mir, war viel zu sehr Mischling, um aus einem Gemeinschaftsgefühl Trost zu schöpfen. Aber ich erinnere mich an eine Zeit, um meinen fünfzehnten Geburtstag herum, in der ich mir einen solchen Trost gewünscht habe – und meinen Vater am Freitagabend bat, eine Kerze anzuzünden und ein paar Worte in der Sprache zu sagen, die für mich bis heute unverständlich ist.
Es war vermutlich der Sabbat, den sie hier drinnen gerade begingen. An der Tür zur Synagoge fragte mich ein Mann in schwarzem Anzug und Krawatte nach einem Ausweis. Ich holte meinen Führerschein heraus. Ironi-scherweise wird zwar der Name eines Juden, aber nicht unbedingt das Jüdischsein als solches vom Vater an den Sohn weitergegeben. Von meinem hatte ich sowohl den Namen als auch das Gesicht geerbt: schmal, kantig, ein bisschen verhungert aussehend. «Markovits» und eine prägnante Nase reichten aus, um Zugang zu bekommen. Ein anderer junger Mann, diesmal im Tallit- Überwurf, den er auf zärtliche, fast schon feminine Art zusammenhielt, bot mir in einem Weidenkorb einige Kippas zur Auswahl an. Ich nahm eine aus Leder, wegen des Gewichts und weil ich keine Haarklammer hatte, und ging geduckt durch eine niedrige Tür in das rötliche Dämmerlicht der Synagoge.
Alles, was ich im Licht des Buntglasfensters an der Decke sehen konnte, waren alte Männer, und auch davon nicht viele. Links und rechts von einem Mittelgang, der auf den schmucklosen, geöffneten Toraschrein zuführte, standen Holzbänke. Die Männer «schokelten» unermüdlich im Gebet, und die leichte, wiederholte Bewegung ihrer Rücken und Köpfe erinnerte mich irgendwie an eine Aufwärmübung, die Charlie uns immer vor dem Training machen ließ: von den Zehen bis zu den Fersen abrollen, um die Achillessehne zu dehnen und die Waden zu kräftigen. Ich spürte ein Pochen in den Knien und den Knöcheln, als ich mich ihnen anschloss, den Kopf gesenkt und die Hände mit einiger Verlegenheit auf den Bauch gelegt. Ich hatte gehofft, mich einfach hinsetzen zu können.
Es waren ihre Stimmen, die mich bei der Stange hielten, ihr leiser, mehrstimmiger Singsang, der meine eigene Kehle mit schmerzhaftem Mitgefühl belegte. Ihre Gebete waren anders als die, mit denen ich aufgewachsen war, weicher und mit mehr Zischlauten, und die Akzentuierung ihrer Gesänge wirkte älter und weniger musikalisch. Dennoch kam mir die blinde Dringlichkeit ihres Gesangs, der nicht einmal richtiger Gesang war, ziemlich vertraut vor. Die Sonntagsschule, in die ich gegangen bin, bis der Unterricht mit der Footballsaison kollidierte, behandelte das Hebräische wie eine Sprache, die man nachspricht, aber nicht wirklich verstehen muss. Ich hatte keinerlei Zweifel daran, dass die Männer, die da vor und zurück ruckelten, Hebräisch sprechen konnten, nur waren die Wörter, die sie sangen, zu etwas zerfallen, das grundlegender war als die Bedeutung: zu Tönen und Rhythmen.
Damals, am Ende der Pre-Season, tat mir alles weh, auch mein Herz – ich hatte Heimweh und das Gefühl zu versagen. Die Erschöpfung machte mich sentimental, und ich fing an zu weinen.
Niemand bemerkte es. Eine Gemeinde wie diese hatte sicher ausreichend Gründe zu trauern; Tränen waren hier nichts, über das man sich wunderte. Der Holocaust war mir in meiner amerikanischen Kindheit immer wie ein Symbol für etwas Entsetzliches vorgekommen: sowohl für das Böse, zu dem Menschen fähig waren, als auch für das Leid, das andere ertragen konnten. Als Symbol war er schon immer machtvoll gewesen. Doch jetzt nahm ich ihn zum ersten Mal als Tatsache wahr, was ihn noch viel schlimmer werden ließ.
Die Männer vor mir waren zum Großteil Überlebende; am Ende des Zweiten Weltkriegs waren sie ungefähr so alt wie ich jetzt. Ihre Eltern hatten vielleicht meine Urgroßeltern gekannt – hatten ihnen vielleicht abgeraten, nach New York auszuwandern. München hatte früher eine große und sehr aktive jüdische Gemeinde, aber die meisten Synagogen wurden gemeinsam mit den Juden, die darin gebetet hatten, während des Krieges eliminiert. Dieser provisorische Tempel war in der Nachkriegszeit aus einem Wohnblock herausgehauen worden, schnell errichtet in der Lücke, die eine Bombe gerissen hatte, zwischen den höheren, älteren und ansehnlicheren Häusern ringsum. Die erste und zweite Etage waren entfernt worden. Übrig war davon nur eine schmale Galerie, die über drei Wände verlief. Dort beteten die Frauen. Erst als ich mich endlich hinsetzen konnte, bemerkte ich, wie sie sich vorbeugten und hinuntersahen.
Vermutlich waren die Männer genauso unterschiedlich wie in jeder anderen Gruppe alter Männer, aber auf mich wirkten sie fast durchgehend klein und eher dicklich. Es war irgendwie erholsam, nach einer Woche der körperlichen Vervollkommnung ein oder zwei Stunden unter Leuten zu sein, die ihre eigenen Sonderlichkeiten akzeptiert hatten. Davon abgesehen wollte ich die Gebete gar nicht verstehen; die Unverständlichkeit war Teil ihres Charmes. Wir beugten und bückten uns, riefen laut und murmelten vor uns hin. Sport ist die Kunst, im Grunde bedeutungslose, kleine Handlungen durchzuführen: Mir gefiel die Vorstellung von einem Gott, der von seinem Volk etwas Ähnliches forderte.
Es war genau diese Vorstellung eines göttlichen Herrschers über eine aussterbende Gemeinde, die sich bei mir in jedem Gottesdienst herausbildete und mich immer wiederkehren ließ. Er war nicht an Erfolg interessiert. (Es war schwer, ihn sich angesichts der nach oben verbannten Frauen nicht als einen «er» vorzustellen.) Unglück und Verlieren gehörten genauso zu seinen Schöpfungen. Er mischte sich nicht ein. Die Branche, in der ich mich bewegte, basierte auf Prozenten und Wahrscheinlichkeiten, aber noch nie wurde mir wie hier – durch die Männer, die überlebt hatten, um irgendwann diesen Sabbat zu begehen – so lebhaft vor Augen geführt, welch furchtbare Macht der Faktor Zufall ausübt.
Natürlich ist es nur die Einsamkeit, die hier spricht. Einsamkeit neigt zur Theorienbildung. In Wahrheit war dies ein Ort, an den ich gehen konnte, um mich in einer fremden Stadt am Freitagabend zu Menschen zu setzen, die mir vertraut vorkamen und die mich akzeptierten. Ich behielt (oder stahl) die Kippa, die ich bekommen hatte, und nahm mir vor, sie bei der nächsten Zugfahrt nach München einzustecken, für alle Fälle.
Olafs Eltern lebten auch in Schwabing, und jetzt überlegte ich, ob vor dem Abendessen noch Zeit war, den Gottesdienst zu besuchen. Was mich überraschte, war die leichte Enttäuschung, die der Gedanke, ihn auslassen zu müssen, bei mir auslöste. Ich hatte das weiche Lederkäppchen aus der Tasche gezogen und fing an, es in der Hand zu kneten.
Auf der Strecke hielt der Zug an diversen Bahnhöfen: Junge Bauern aus Bruckberg oder Langenbach stiegen ein. Eine Freitagabendmeute war unterwegs in die Stadt, mit sauberen Jeans und zugeknöpften Hemden; ein paar hatten bereits große Bierdosen geöffnet. Ich fühlte mich zunehmend unsicher, unterdrückte aber hartnäckig den Impuls, die Kippa wieder in die Tasche zu stecken. Gut möglich, dass sie den falschen Eindruck erweckte, nämlich den eines Juden, der normalerweise eine aufhatte, nur war nicht das der Gedanke, der mir leichtes Unbehagen bereitete.
Nicht dass ich in Deutschland je Antisemitismus erlebt hätte. Die Deutschen, die ich kannte, waren von der Vergangenheit ihrer Eltern viel zu betroffen, als dass sie Juden auch nur für existent gehalten hätten – ich meine als Gruppe mit besonderen Merkmalen. «Wir sind alle gleich» war die Lektion, die sie pflichtschuldig verinnerlicht hatten. Aber die Deutschen, die ich kannte, stammten alle aus dem Norden und aus der Mittelschicht. Ich war mir also nicht sicher, ob bayrische Bauern da eine größere Neugier an den Tag legen würden. Gleichzeitig kam es mir wie der Maßstab meiner Einsamkeit vor, dass ich auf Fantasien wie diese so viele Gedanken verschwenden konnte. Und nicht einmal nur Gedanken: Ich prüfte mit Blicken, ob vielleicht jemand zu mir hersah.
Natürlich tat das niemand; doch dann schenkte mir eine junge Frau, die in Fahrtrichtung auf der anderen Seite des Gangs saß, ein freundliches Lächeln. Erneut war mein erster Impuls, die Kippa wegzupacken. Nur kam sie mir irgendwie bekannt vor. Sie trug ihren kleinen Kopf sehr selbstbewusst auf einem langen Hals, hatte Sommersprossen, strohblondes Haar und blaue, unerschrockene Augen.
In dem Moment, als ich sie erkannte und vor Verlegenheit rot anlief, beugte sie sich zu mir und fragte: «Kennen wir uns vielleicht? Ich versuche schon seit Gündlkofen, deinen Blick zu ergattern.»
Sie war die Frau im Fenster, und mir wurde ganz heiß bei dem Gedanken, dass sie mein Spionieren womöglich mitbekommen hatte. «Ich glaube nicht, dass wir uns kennen», sagte ich. «Zumindest nicht persönlich.»
Diese Unsicherheit begleitete mich das ganze Gespräch hindurch: ob sie vielleicht wusste, dass ich ihr manchmal beim Zubettgehen zusah. Es gibt Mädchen, die sich durch eine solche Aufmerksamkeit geschmeichelt fühlen, die finden, sie hätten sie verdient. Es lag nicht unbedingt an ihr, dass ich sie für genau so ein Mädchen hielt. Sie wirkte sehr selbstbewusst, auch bezüglich ihres Aussehens, und behandelte mich mit einer ironischen Herablassung, die vermuten ließ, dass sie mein Geheimnis kannte. Aber diesen Eindruck vermitteln schöne Mädchen oft. Es gibt ein Geheimnis, das sie nicht erst groß erraten müssen, dass nämlich junge Männer, wie heimlich auch immer, sie attraktiv finden.
«Heißt das, du bist berühmt?», fragte sie mit einem Lächeln. Neben ihr war ein Platz frei, und auf den klopfte sie jetzt, leicht ungeduldig, wie mir schien. «Willst du mir das sagen? Habe ich dich vielleicht schon mal im Fernsehen gesehen?»
Sie will mich aufziehen, dachte ich, deshalb sagte ich: «Das noch nicht, aber vielleicht in der Zeitung.»
Sie schlug die Hände zusammen. «Meinst du vielleicht das Bauernblatt? Bei denen im Haus arbeite ich.»
«Ja, vermutlich meine ich das.»
«Aber mir scheint, ich kenne dich doch etwas … persönlicher.» Und nach einer kurzen Pause: «Wohnst du im Kardinger Weg, in einem dieser Blocks?» Es war grausam von ihr, mich so zu necken, wenn sie es wusste, aber sie machte weiter. «Das ist es wahrscheinlich. Ich wohne nämlich auch dort. Wir sind Nachbarn.» Etwas linkisch streckte sie mir quer über den Gang die Hand entgegen. «Ich heiße Anke.»
Um sie zu schütteln, musste ich aufstehen, und im Anschluss schien es genauso einfach, mich neben sie zu setzen, wie zurück an meinen Platz zu gehen. Sie hatte die Kippa in meiner anderen Hand bemerkt und nahm sie mir weg, wobei mich diese Aktion erst ärgerte, als sie sie aufsetzte. Die Anmaßung schöner Mädchen kann ziemlich nervtötend sein.
«Auf dem Heimweg funktioniert das sicher besser», sagte sie. «Dann sind meine Haare kürzer. Ich fahre nach München, um zum Friseur zu gehen. In Landshut gibt es niemanden, der meine Haare versteht.»
Gerede wie dieses fiel ihr leicht, selbstironisch und gleichzeitig selbstverliebt. Nach einem Schweigen, das ich nicht brechen wollte, griff sie in ihre Haare und fragte: «Was denkst du – soll ich sie ganz abschneiden?»
«Warum willst du sie überhaupt schneiden lassen?»
«Bist du sehr jüdisch?» Die Beschäftigung mit sich selbst langweilte sie bereits.
«Ich weiß nicht, ob das etwas ist, das man mehr oder weniger sein kann … Nein, nicht sehr.»
«Weil du dieses Ding sonst immer tragen und nicht irgendwelchen Mädchen geben würdest?»
«Aber ich hab’s dir doch gar nicht …»
Der Satz ging weiter; er sieht auf dem Papier noch schlimmer aus, als er im richtigen Leben klang. Abgesehen von der Verlegenheit, die ich empfand – darüber, dass ich am helllichten Tag über ein peinliches Geheimnis gestrauchelt war – und die mich nicht mehr verließ, bis der Zug in München ankam und wir auseinandergingen, konnte ich bei mir eine leichte, wenngleich prickelnde Enttäuschung feststellen. Das ist sie also, dachte ich. Das ist das Leben, an dem ich gern teilhaben wollte.
Sie griff nach meinem Buch und tat eine Minute lang so, als würde sie darin lesen. «Bist du Engländer?», fragte sie. «Ich dachte, du seist vielleicht nur ein bisschen schwer von Begriff.»
Also demonstrierte ich großes Interesse an dem Buch, das aus ihrer knallroten Handtasche ragte: Sofies Welt. Es war der Sommer, in dem quasi jeder Sofies Welt las. Der Roman ging mir langsam auf die Nerven – als Vertreter einer Populärliteratur, die gezielt so gemacht ist, dass sie unserem vermeintlich gehobenen Geschmack genügt. Ich war aber schlau genug, den Mund zu halten. Denn tatsächlich fand ich sie attraktiv, trotz oder gerade wegen ihrer kleinen Anmaßungen. Ein Schweißtropfen lief mir an den Rippen hinunter. Mein Herz schlug schneller als sonst, als wäre ich zum Aufwärmen ein oder zwei Runden gelaufen. Sie war die erste Frau, mit der ich seit zwei Monaten redete.
Nach dem Friseur wollte sie mit einer Freundin etwas trinken gehen; sie nannte mir den Namen der Bar. Ich solle doch nachkommen: Ihre Freundin sei sehr nett, und außerdem hübsch. Und Basketballfan. Ich hatte ihr mittlerweile erzählt, warum ich in Landshut war. Anke hatte das Gesicht verzogen; die Bemerkung über ihre Freundin war eine Art Entschuldigung dafür.
München kam in Sichtweite, die flachen, weißen Gesichter der Vororte. Dahinter, in der Ferne, versprach das Durcheinander niedriger, roter Dächer eine ältere und deutlich schönere Stadt. Als wir die leichte Senkung hinunterfuhren, drehte sie sich mit der Hand auf meinem Ärmel zu mir und sagte hastig, sie würde sich die Haare abschneiden – sie habe eine zweijährige Tochter –, und sie würde ihre Haare abschneiden, weil es ihr auf die Nerven ging, dass sie immer daran zog. Sie dachte, ich würde das früher oder später sowieso herausfinden. «Ich hoffe, du schaffst es später noch», wiederholte sie. «Heute ist mein freier Abend.»