Читать книгу Inseldämmerung - Bent Ohle - Страница 27
Hamburg-Wandsbek, Wandsbeker Chaussee, 12:57 Uhr
ОглавлениеBrockhaus starrte nachdenklich auf den schmutzigen Teppich. Es war vielleicht kein gutes Omen, dass der ursprüngliche Plan nun nicht mehr durchführbar war, aber davon durfte er sich nicht irritieren lassen. Er musste die Dinge in die Hand nehmen. Sich nehmen, was er wollte, was ihm zustand. Und das heute. Jetzt und hier.
Er stand auf, packte alles, was er brauchte, in den Rucksack und hielt für einen Moment inne.
Das Gesicht des Jungen von gestern Nachmittag geisterte in seinem Kopf herum. Er fühlte, dass es sein Sohn war. Was er aber nicht wusste, war, ob er seinetwegen etwas unternehmen sollte. Heute war der Tag, nach dem es kein Zurück mehr gab. Was sollte er also tun? Ihn ein letztes Mal heimlich beobachten, so wie er es früher schon einmal getan hatte? Ihn ansprechen? Was sollte er sagen? Oder sollte er diese sentimentale Scheiße einfach vergessen, so wie bisher? Es waren Jahre vergangen, in denen er nicht ein einziges Mal an ihn gedacht hatte, also warum jetzt damit anfangen? Genau, warum? Es gab keinen verdammten Grund.
Er wollte das ein für alle Mal klarmachen, ging ins Bad, schlug in den Spiegel, dass die Splitter ins Waschbecken regneten, nahm sich eine Scherbe und schnitt sich eine knapp zehn Zentimeter lange Wunde in den Unterarm. Er sah zu, wie das Blut herausquoll und durch seine Haare am Arm herabrann. Er legte seine Hand auf die Schnittwunde, spürte das warme Blut und schwor sich, dass die Narbe ihn immer daran erinnern sollte, niemals wieder an seinen Sohn zu denken, niemals wieder sentimental zu werden, niemals wieder weich und schwach zu sein. Niemals. Ab jetzt, ab heute, nie wieder.
Notdürftig band er sich ein zerrissenes T-Shirt darum, ließ alles so liegen, wie es war, und verließ die Wohnung.
Unten trat er aus der Haustür auf den Innenhof. Der Wind erfasste ihn in einem Wirbel. Er war sich nicht sicher, ob sein neues Aussehen ausreichte, um seine Aufpasser zu täuschen. Also setzte er noch eine Wollmütze auf. Sollten sie ihm noch folgen, würde er sie irgendwo in der City abhängen. Auf der gegenüberliegenden Seite ging die Tür auf, und eine Frau kam ihm entgegen. Sie hielt ihren Kopf gesenkt. Nicht wegen des Wetters, sondern weil sie verbergen wollte, was sich in ihrem Gesicht abzeichnete. Brockhaus wusste sofort, dass es die Frau aus der Wohnung unter ihm war, die gekommen war, um zu ihrem Mann oder Freund oder wer immer der Typ auch gewesen sein mochte zurückzukehren. In Bruchteilen von Sekunden wägte er ab, ob er sie auch töten sollte, ließ sie dann aber passieren und ging aus dem Gebäude hinaus auf die Straße. Scheinbar flüchtig ließ er seinen Blick über die hier parkenden Autos gleiten und entdeckte seine Bewacher sofort. Wenn diese Idioten nicht immer dieselben Wagentypen fahren würden, hätten sie mehr Erfolg, dachte er, schlug seinen Kragen hoch und lenkte seinen Schritt nach links.
Es dauerte sieben Sekunden, bis er hörte, wie der Motor ansprang.