Читать книгу Von Menschen und der Liebe - Berenice Boxler - Страница 9
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ОглавлениеHabe ich schon von Maria erzählt? Eines Tages griff eine junge Frau zu und behielt mich in der Hand, während sie noch im Laden stöberte, von hier nach dort ging und weitere meiner Art nahm und umdrehte, las, was dort stand, sich Gedanken machte und schließlich doch nur mit mir zur Kasse ging. Dabei wurde mir zum ersten Mal wirklich bewusst, wie viele es von uns gibt! Unendlich schienen mir die Regale, die Formen und Farben. Hintereinander, aufeinander, gelegt, gestapelt, frei, in Plastik verpackt – ich konnte nur kurze Eindrücke sammeln, aber die waren gewaltig. Hatte ich mich so getäuscht? Meine Welt bisher, mein zugegebenermaßen beschränktes Blickfeld, war mir schon groß erschienen, ich hatte so viele Stimmen vernommen, doch offensichtlich war das nur ein Bruchteil dessen gewesen, was es gibt. Was habe ich einmal gehört? „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“ Ob das so stimmt, weiß ich nicht, aber eines ist gewiss: Das, was man sehen kann, ist doch nur ein winziger Teil dessen, was existiert! Man sollte sich wohl nicht zu sehr auf das konzentrieren, was für die Augen sichtbar ist, sondern auch auf die anderen Sinne achten. Aber beinahe war ich dankbar für meine eingeschränkte Anfangszeit, denn sonst wäre meine Sehnsucht wohl noch viel größer und unerträglicher geworden! Wenn ich damals schon geahnt hätte, was es alles gibt …
Woher ich weiß, dass sie Maria hieß? Das stand auf ihrer Karte, mit der sie bezahlte. Was sie bezahlte, will ich nicht sagen. Überhaupt, wer bestimmt, wie viel ich wert bin? Dass ich weniger koste als mein Nachbar? Dass ich etwas teurer bin als die kleineren im Raum? Ich jedenfalls wurde nicht gefragt, doch steht es wie ein Brandmal unauslöschlich auf meiner Außenhülle. Maria aber hat das mit einem schwarzen Stift übermalt. Sie hat mich einfach beschmutzt! Anfangs war ich verletzt, beleidigt, empört, doch dann akzeptierte ich es. Nein, ich muss ehrlich sein, ich resignierte. Was konnte ich schon machen? Aber in diesem Fall ist es wohl gut so, nicht jeder muss direkt sehen, was da steht.
Ich blieb nicht lange bei Maria, allerdings blieb ich lange in ihrer Familie, im Zimmer ihrer Schwester Katharina. „Alles Gute zum Geburtstag, kleine Schwester! Ich hoffe, du findest ab und zu etwas Zeit für dich. Dafür ist das Geschenk gedacht, um in ruhigen Momenten etwas Schönes zu haben, nur für dich.“ „Danke, Maria. Und danke vor allem für die CD! Die ist toll, hab’ schon ganz viel von der Gruppe gehört!“ Welche CD? Hallo, Katharina, hier bin ich, eine liebevolle Geste von deiner großen Schwester! Behandle mich gut, ich bin „etwas Schönes“, was immer das heißen mag.
Soll ich berichten von den langen Tagen und einsamen Nächten, die nun folgten? Soll ich erzählen, wie ich vergessen und missachtet auf dem Regal lag? Wie die Staubkörner zunächst in einem gemächlichen Tanz durch die Luft schwangen und sich dann irgendwann ermüdet auf mich legten? Immer mehr gesellten sich hinzu, bedeckten meinen Bauch, mein Gesicht, meinen ganzen Körper. Das klingt seltsam, mein „Bauch“, doch bediene ich mich der Sprache der Menschen, der Vorstellung der Menschen. Sollte ich sagen, meine Hülle? Das klingt billig und wertlos. Der Deckel? Deckel wovon? Die Menschen haben diese Bezeichnungen erfunden, gefunden, dann kann ich mich auch dazu entscheiden, sie nicht zu verwenden und andere zu benutzen. Ja, ich habe kein Gesicht, nein, ich kann nicht sagen, wo mein Bauch aufhört und meine Beine beginnen, und nochmals nein, ich weiß auch nicht, wo genau sich meine Seele befindet. Wissen die Menschen das? Ich habe nicht viele davon reden hören. Ich glaube, sie machen sich selten Gedanken darüber. Wo ist die Seele, das Gewissen, das Herz? Nein, nicht das Organ, das weiß sogar ich – schließlich befinden sich auch Sachbücher in meinem Bekanntenkreis – nein, ich meine das emotionale Herz. Oder ist das die Seele? Sollen sich doch die Philosophen darüber den Kopf zerbrechen, das haben sie ja auch schon getan. Ob ich weiß, weshalb ich so viel nachdenke über das Hier und Jetzt, das Warum und Wohin? Nein. Vielleicht ist es so wie bei den Menschen: Keiner ist wie der andere, weder äußerlich noch innerlich. Warum sollte das bei meinesgleichen anders sein? Nur weil wir gleich aussehen auf den ersten Blick? Das bedeutet nichts!
Jedenfalls: Katharina kümmerte sich nicht um mich. Sie war nicht oft zu Hause, telefonierte unentwegt und kommunizierte viel mit ihrem Computer auf dem chaotischen Schreibtisch. Sie war 16, ein Teenager, und von dieser Art hatte ich schon einiges gehört und auch gesehen im Buchladen – das waren die, die meist mit mürrischem Gesicht die kleinen gelben Heftchen heraussuchten oder in der Fantasy-Abteilung zu finden waren. Katharinas Leben, so wie ich es wahrnahm, erschien mir hektisch, ungestüm, wild, ohne Ziel, aber eigentlich nicht unglücklich. Im Gegenteil, sie lachte viel, war ungezwungen und fröhlich. Meistens jedenfalls, das war sehr abhängig von den anderen Personen um sie herum, so schien es mir. Ihre Schwester war da ganz anders, ja, Maria war die Ältere, die Erwachsene, die Nachdenkliche. Ich war nicht lange bei ihr gewesen, doch in den wenigen Tagen nach meinem Eintreffen in ihrem Zimmer bis zur Weitergabe an Katharina hatte ich Gelegenheit, sie zu beobachten – und mit ihren Schätzen zu reden.