Читать книгу Der zweite Blick - Bernadette Németh - Страница 10
Barbaren
ОглавлениеIm schwachen Licht der Taucherlampe erschienen die Umrisse der Knochen wie eine Höhlenmalerei. Javier glaubte zu träumen, als er nach der Vielfalt bunter Fische die Skelette sah, die sich unscharf gegen den hellen Kalkstein abhoben.
Ungläubig schwamm er näher und besah den Haufen an Knochen, der unter dem Steinvorsprung verborgen lag. Sie schienen ohne Zweifel von Menschen zu stammen.
Er tauchte so hastig auf, dass ihm schwindlig wurde, und rief nach seiner Verlobten. Die rauen Steinwände der Höhle verschluckten seine Stimme und er musste zweimal rufen, bis sie ihn hörte. Patricia löste sich langsam von dem riesigen Stalaktiten, der von der Decke hing und schwamm zu ihm herüber.
„Was ist los“, rief sie gelangweilt. „Hast du einen Hai entdeckt?“
Javier war nach Mexiko gereist, um seine Forschungsarbeit über unterirdische Höhlen fertig zu stellen. Hier in Yukatan hatte ein gewaltiger Kometeneinschlag die Erde vor fünfundsechzig Millionen Jahren zerrissen und ein unterirdisches System geschaffen, das die ganze Halbinsel untertunnelte. In diesen Cenotes war eine unterirdische Zauberwelt entstanden, in der sich Süß- und Salzwasser mischten, Fische lebten, Steine wuchsen und die Bäume tranken, deren Wurzeln bis zu den Seen tief unter die Erde reichten.
Patricia konnte Javiers Begeisterung für die Cenotes nicht teilen. Ihr war alles unheimlich, was älter als hundert Jahre war. Sie war mitgefahren, weil sie die weißen Sandstrände lockten, die aussahen wie die aus der Fernsehwerbung für Rum-Cola, und weil sie noch nie miteinander verreist waren. Manchmal hatte sie den Eindruck, als sei er eher mit seinen Büchern verlobt als mit ihr. Sie wollte einen Strandurlaub verbringen, ohne Bücher, die er trotz ihrer Warnung kofferweise mitgeschleppt hatte, höchstens mit einer Zeitschrift, und nun jagte er sie bei unmenschlicher Hitze von einer Ausgrabung zur nächsten, deren Geschichten sie zum Schaudern brachten.
„Sieh mal“, sagte er ehrfürchtig bei den Ausgrabungen von Chichen Itzá, und zeigte auf einen Ring in der Wand und ein dreitausend Jahre altes Relief. „Das war der Ballspielplatz der alten Maya. Sie haben das Ballspiel erfunden.“
„Und der Sieger wurde geköpft“, las Patricia laut aus dem Reiseführer vor. Sie zeigte auf den in Stein gehauenen Krieger, dem der Kopf fehlte und aus dessen Halsstumpf eine Fontäne entwich.
„Sie haben Menschenopfer dargebracht“, las sie weiter, „ Jungfrauen mit zusammengebundenen Füßen in Cenotes geworfen, um Regen zu erbitten. Warum müssen eigentlich immer die Jungfrauen für alles herhalten?“
Javier wusste keine Antwort darauf. Er dachte noch immer an die Ballspieler und überlegte, was ein vom Rumpf getrennter Kopf noch von der Welt wahrnimmt und wie lange.
„Sie waren Barbaren“, sagte Patricia. „Lass uns weitergehen.“
Sie hatte sich zunächst geweigert, zu den Cenotes mitzufahren, willigte nur ein, als Javier ihr in Aussicht stellte, nachher zwei volle Tage im pulsierenden Strandort Playa del Carmen zu verbringen. Sie befürchtete zwar, dass er auch am Strand seinen Laptop auspacken würde, doch das würde sie in Kauf nehmen, solange er es schaffte, ihr einen Liegestuhl zu reservieren.
Während der vollgestopfte Colectivo über die staubigen Straßen in Richtung Valledolid rumpelte, wuchs gleichzeitig mit der Hitze das Schweigen zwischen ihnen. Zu Mittag erreichten sie die kleine Stadt mit der hübschen Steinkirche aus dem siebzehnten Jahrhundert.
„Wie schön“, sagte Patricia zufrieden, als sie die Kirche im Schatten der großen Palmen sah. „Hier machen wir Mittagspause.“
Javier war einverstanden. Er war so beschäftigt, das Licht und die Farben wahrzunehmen, die umso intensiver wurden, je weiter sie ins Landesinnere fuhren, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie hungrig er war. Der Colectivo hielt im flüchtigen Schatten einer Palme und sie spazierten über den Hauptplatz. „Sieh nur, der hübsche Park!“, sagte Patricia, um das Schweigen zu überbrücken, das sich zwischen ihnen ausbreitete wie ein unaufhaltsames Geschwür. Sie deutete auf einen symmetrisch angelegten Park, der mit einem leuchtendweißen Zaun umrahmt war. Javier nickte zustimmend. Das Tor stand weit offen. Es war kunstvoll geschmiedet, feinziseliert wie ein Spitzentuch. Zwischen den Touristen spazierten einige Frauen in landestypisch bestickten Blusen umher und drehten sich blitzschnell um, wenn Patricia ihren Fotoapparat zückte. Sie war begeistert von den Doppelsesseln aus weißem Stein und stellte sich Verliebte im Schatten blühender Büsche vor, die sich hier zu einem Stelldichein trafen. Die Kieswege leuchteten in der Sonne, der Rasen war ordentlich geschoren, niemand traute sich hier während der Siesta seine Hängematte aufzuhängen oder die Picknickkörbe auszupacken wie am Strand.
Patricias Laune hob sich. Sie zog Javier am Arm zu einem kleinen Café.
Als sie zu den Cenotes weiterfuhren, schien die Luft zu flirren. Die Hitze raubte ihnen fast den Atem. Sogar die Zikaden waren verstummt. Javier sehnte sich danach, mit seinem ganzen Körper in kühles Wasser einzutauchen. Der Weg zum Cenote führte an ein paar Kiosken vorbei, in denen sich die Arbeiter im Schatten bei den Eistruhen verschanzten. Ein schweigsamer Guide führte sie zu einem laubbedeckten steinernen Eingang in eine Art Brunnen, in dem eine steile Wendeltreppe in die Tiefe führte. Die Stufen waren sehr steil und aus rutschigem Kalkstein, so dass sie nur langsam hinuntergehen konnten. Kaum waren sie bis zum Kopf im Gestein verschwunden, umfing sie eine angenehme Kühle. Es wurde immer dunkler, da nur noch wenig Licht durch die schmale Öffnung drang. Zweimal duckten sie sich im Gehen unter einen Felsvorsprung, und Patricia dachte, dass es hier genauso aussah wie in ihren Alpträumen. Sie hielt sich dicht an Javiers Rücken. Auf einmal blieb er stehen, und sie wäre fast in ihn hineingelaufen. „Was ist los?“, fragte sie beunruhigt. Javier stand einfach nur da. Der Anblick hatte ihm die Sprache verschlagen.
Vor ihnen öffnete sich eine riesige, steinerne Kuppel, die von einem Loch hoch oben im Felsen schwach beleuchtet wurde. Unter ihnen schimmerte türkisblau die glitzernde Oberfläche eines unterirdischen Sees. Bis auf ein leises, regelmäßiges Plätschern war es vollkommen still. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das Dämmerlicht, und er erkannte mächtige Stalaktiten, die rund fünfzehn Meter von oben herabhingen, und die armdicken Baumwurzeln, die sich an den Seiten der Höhle zum Wasser hin streckten.
Javier wagte nicht zu atmen. Er spürte eine Ehrfurcht, die er in den Kirchen immer vergeblich gesucht hatte, streckte die Hand aus und betastete den kühlen Stein, in dem Wissen, dass er etwas berührte, das vor fünfundsechzig Millionen Jahren entstanden war. Man konnte förmlich glauben, die Anwesenheit geheimnisvoller Götter zu spüren und er verstand, weshalb die alten Maya diese Orte als Tore der Unterwelt bezeichnet hatten, wohin die Seelen der Verstorbenen verschwanden. Er kletterte die letzten Stufen hinunter, hockte sich an den Rand des Sees und tauchte seine Hand in das dunkle Wasser, das süß und zähflüssig schien. Unter sich erkannte er Schwärme von bunten Fischen.
Er streifte seine Kleidung bis auf die Badehose ab und glitt in einem Zug ins kühle Wasser, das die Hitze der Haut angenehm löschte. Patricia war ihm zögernd gefolgt, und hielt sich an einem Seil fest, das quer über den See gespannt war. Ihr war die Tiefe des Wassers unheimlich. Javier drehte sich auf den Rücken und betrachtete den Lichtkegel, der von oben hereinfiel. Die steinerne Öffnung schien sehr weit weg zu sein. Direkt daneben hing ein riesiger Stalaktit bis knapp über die Wasseroberfläche herunter.
Er fragte sich, wie viele tausend Jahre er gebraucht hatte, um bis hierher zu wachsen.
Patricia schwamm von der anderen Seite heran und umfasste den Stalaktiten mit beiden Armen.
„Nicht zu fest ziehen!“, rief Javier und sie lachte. „Geh du nur tauchen“, rief sie zurück. „Vielleicht entdeckst du ja einen Hai!“
Sie sah ihm zu, wie er aus dem Wasser kletterte, um seine Taucherausrüstung anzulegen. Schon der bloße Gedanke an die Tiefe des Cenote machte ihr Angst. Sie blickte zur kreisrunden Öffnung der steinernen Decke hoch und versuchte sich vorzustellen, wie es sich anfühlte, hier hineinzufallen und mit Steinen an den Füßen zu ertrinken.
Das gleichmäßige Plätschern des Wassers und die unwirkliche Atmosphäre versetzten sie in ein Gefühl der Schwerelosigkeit. Sie sah Javier zu, wie er ihr zuwinkte und in den Tiefen des Wassers verschwand. Sie wusste nicht, wie viele Minuten vergangen waren, als sie seine Stimme wie aus weiter Ferne ihren Namen rufen hörte.
„Was ist los?“, rief sie zurück. „Hast du einen Hai entdeckt?“
Javier riss an seinem Mundstück und schnappte nach Luft. „Nein!“, rief er. „Keinen Hai! Skelette! Komm schnell! Da unten liegt ein Haufen Skelette!“
„Wo?“, schrie Patricia und ihre Stimme überschlug sich fast. Sie wich entsetzt zurück.
„Habe ich es dir nicht gesagt? Das sind Überbleibsel irgendwelcher Menschenopfer! Ich habe dir doch gesagt, dass wir hier nicht schwimmen sollten!“
„Sie sind ganz tief unten“, sagte Javier, noch immer atemlos. „In der Salzwasserschicht, wo das Wasser trüb ist, hinter einem Felsvorsprung. Sie sind kaum zu erkennen, man sieht sie nur, wenn man wirklich tief taucht.“
Patricia drehte sich um und schwamm entschlossen ans Ufer. „Mir reicht es. Ich gehe jetzt“, sagte sie. „Das war das letzte Mal, dass ich dich begleitet habe. Ich werde mich bei den Behörden beschweren. Das ist ein öffentlicher Ort zum Schwimmen, das kann nicht …“
„Warte!“ Javier setzte seine Ausrüstung wieder auf. „Lass mich das noch einmal ansehen. Du kannst ja vorgehen.“
„Das werde ich!“ Angewidert stieg sie aus dem Wasser, wickelte sich in ihr Handtuch, setzte sich auf einen Stein und wartete auf Javier. Ihr ekelte vor dem Wasser, der Höhle, dem unheimlichen Tropfen, das die Stille durchbrach und auch vor ihm. Sie konnte nicht verstehen, was er an diesen alten barbarischen Kulturen fand, man musste froh sein, in einer zivilisierten Welt zu leben, in der es keine Menschenopfer gab und keine bösen Götter.
Sie verließen die Höhle schweigend.
Am nächsten Morgen war Javier einer der ersten an der Universität und erzählte mit glühenden Augen dem Leiter des Forschungsprojekts von seiner Entdeckung.
Professor Rios’ Gesicht blieb unbewegt.
„Man müsste die Skelette bergen“, sagte Javier aufgeregt. „ Kohlenstofftests unterziehen, vielleicht können wir herausfinden, wann die Menschenopfer …“
„Das ist keine gute Idee“, unterbrach ihn der Professor. „Sie können sicher sein, dass hier schon genügend geforscht wurde. Die Einheimischen sind froh, dass Touristen in die Höhle kommen und leben von den Einnahmen. Das Letzte, was sie wollen, sind ein paar aufgeregte Studenten, die glauben, den großen wissenschaftlichen Wurf zu machen. Denken Sie nur, wie lange man die Höhle für solche Forschungen absperren müsste. Das Wasser wird alle paar Monate kontrolliert und ist einwandfrei. Tun Sie uns und Ihnen einen Gefallen, Javier, und vergessen Sie diese Idee.“
Javier ging nachdenklich nach Hause. Als er Patricia vorschlug, noch ein paar Tage länger in der Gegend zu bleiben, reagierte sie genau wie er es befürchtet hatte. Sie knallte ihr Glas auf den Tisch, rief, dass sie genug habe von seinem Faible für prähistorische Morde, dass sie alleine nach Playa del Carmen weiterfahren werde, und dort würde sie viel mehr Spaß haben als mit ihm, und wenn er wolle, könne er nachkommen, und wenn nicht, solle er in seinen verdammten Höhlen sitzen bleiben bis er schwarz werde. Sie knallte die Tür hinter sich zu, dass der Türrahmen erzitterte, und verschwand.
Javier atmete tief durch. Er konnte nicht sagen, dass er traurig war.
Am nächsten Tag fuhr er trotz Professor Rios’ Warnung wieder zum Cenote. Im Schatten des Einganges lag ein streunender Hund. Sein Kopf hatte dieselbe Form wie ein vertrocknetes Stück Holz daneben. Javier strich ihm versonnen über das Fell. Alles hier hatte seltsame Formen, sogar das Holz. Eine kugelrunde Frau mit dicken schwarzglänzenden Zöpfen wackelte mit dem typischen Gang einer Schwangeren herbei und klappte einen Bauchladen voller Postkarten und Souvenirs vor ihm auf.
„Entschuldigen Sie“, sagte Javier höflich. „Darf ich Sie etwas fragen?“
Ihre Augen blickten freundlich und sie bewegte sich nicht von der Stelle.
„Ich war gestern dort unten im Cenote … tauchen …“, sagte er. „Und da habe ich etwas entdeckt, das Sie wissen sollten. Ich meine, Sie leben von dieser Höhle und den Touristen …“
Die Frau hockte sich erstaunlich geschmeidig zu ihm auf den Boden ohne ihn aus den Augen zu lassen.
„Also dort hinten, ganz tief unten … wissen Sie, dass dort Skelette liegen?“
Sie schwieg und ihr Gesicht blieb regungslos.
„Ich arbeite gerade an einem Forschungsprojekt“, sagte Javier. „Und ich frage mich, ob das Überreste von Menschenopfern sind.“
Der Blick der Frau glitt einen Moment lang in die Ferne. „Sie sind der Erste, dem sie auffallen“, sagte sie dann leise. „Wenn Sie das bekannt machen, müssen wir den Cenote schließen. Wir leben von den Besuchern.“
„Natürlich“, sagte Javier schnell.
Die Augen der Frau verdunkelten sich. „Sie sind aus Europa, stimmt’s?“, sagte sie.
„Ja“, sagte Javier. „Ich arbeite für eine sehr renommierte Universität und ich kann Ihnen versichern, dass sie das Projekt fördern würde, wenn man den Cenote eine Weile schließen müsste … ich meine …“
Mit einem dumpfen Geräusch setzte sie ihren Bauchladen ab.
„Wir brauchen kein Geld von Ihnen“, sagte sie. „Wir bekommen auch von der Regierung kein Geld. Glauben Sie denn wirklich, dass niemand weiß, dass die Skelette dort liegen? Denken Sie nicht, wir hätten das längst veröffentlichen können, damit irgendein Gringo Geld dafür kassiert?“
Javier zuckte unsicher mit seinen Schultern.
„Sie sind noch ein sehr junger Forscher, nicht wahr?“, fragte sie.
Er nickte.
„Nun, das merkt man. Sonst hätten Sie gesehen, dass die Skelette nicht aus prähistorischen Zeiten stammen.“ Javier schluckte. Die Frau griff auf den Boden und ließ ein wenig Erde durch ihre Finger rieseln.
„Alle glauben immer, es seien Menschenopfer“, sagte sie. „Barbarische, grausame, alte Geschichten. Die Tolteken, die ihre Opfer in die Cenotes stießen. Wissen Sie eigentlich, wie viele Menschen auf demselben Boden von den katholischen Conquistadores massakriert wurden?“
Javier schüttelte stumm den Kopf. Er spürte nur wieder den Knoten in seiner Kehle, wie immer, wenn er von einem Unrecht hörte. Als Spanier wusste er, dass die Eroberung Südamerikas mit einem brutalen Gemetzel im Namen der katholischen Kirche vonstatten gegangen war.
„Es gibt die Legende, dass die Nachfahren der Maya auf den Felsen von Tulum, nicht weit von hier neben dem Tempel des Windes, die ersten Schiffe des Eroberers Hernan Cortés am Horizont auftauchen sahen. Mit seinen blonden Haaren schien er für sie der sehnsüchtig erwartete, hellhäutige Gott Quetzalcoatl zu sein, auf dessen Rückkehr sie gewartet hatten – bis seine Männer ihre Schwerter zogen“. Er kannte die Legende und sie jagte ihm jedes Mal einen Schauer über den Rücken.
„Die Anzahl der Menschen, die damals getötet wurden, war viel größer als die der Menschenopfer davor. Die Ureinwohner opferten für Regen, die Europäer für eine fremde Religion, die die Menschen hier weder wollten noch brauchten. Bevor sie auftauchten, lebten die Maya friedlich als Bauern, pflanzten Mais, erforschten die Sterne und entwickelten einen Kalender, der dreitausend Jahre lang galt. Dann wurden sie niedergemetzelt, ihre Bücher verbrannt und ihre Sprache verboten – für einen fremden Gott.“
Javier nickte. Vielleicht war das der Grund, weshalb es ihn immer wieder in die ehemaligen Kolonien zog, als müsse er das Unrecht seiner Vorfahren zumindest genau studieren, wenn er es schon nicht wiedergutmachen konnte.
„Und die Leichen sind von damals?“, fragte er.
„Nein.“ Die Frau schüttelte den Kopf. „Der Versuch, uns zu unterdrücken, geschah nicht nur damals, er dauert bis heute an. Haben Sie die Kirche der Heiligen Drei Könige in Valledolid gesehen?“ Javier nickte und erinnerte sich an das hübsche, von Palmen umsäumte Bauwerk, an dem sie vorbeispaziert waren.
„Sie wurde vor dreihundert Jahren aus Steinen zerstörter Maya-Tempel erbaut“, sagte die Frau. „Und sicher haben Sie auch den schönen Park bewundert?“
Javier erinnerte sich an den gepflegten Zaun, an die weißen Doppelsessel, die seiner Verlobten so gut gefallen hatten.
„Dieser Park war noch vor hundert Jahren nur den Nachkommen der Conquistadores zugänglich. Für uns Maya-Nachfahren war es bei Strafe verboten, ihn zu betreten.“
Sie hob den Kopf.
„Es ist nur ungefähr fünfzig Jahre her, da gab es hier einen Aufstand einer kleinen Gemeinde von Indigenos. Die Menschen protestierten gegen die Ausgrenzung, die bis heute stattfindet, weil sie für ihre Rechte einstehen wollten, das Recht auf Schulbildung, auf angemessenen Landbesitz. Die Aufständischen wurden niedergemetzelt. Seitdem liegen ihre Leichen hier unten im Cenote und niemand spricht darüber.“
Sie seufzte nachdenklich.
„Immer werden die alten Völker als Barbaren bezeichnet. Doch Barbaren wird es immer geben, solange es Menschen gibt, unabhängig vom Zivilisationsgrad einer Kultur. Die Menschen hatten tausende von Jahren Zeit, sie hätten lernen können, wie man Frieden macht, aber sie machen immer wieder Krieg.“
Sie schwieg kurz. „Aber ganz schaffen sie es doch nie.“
Sie verstummte und sah auf ihren Bauch hinunter. Javier hatte den Eindruck, als würden ihre Augen ein klein wenig lächeln.