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Martha und Claire

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Martha und Claire wohnten in derselben Straße, einander gegenüber. Martha beneidete Claire und Claire beneidete Martha.

Wenn Marthas Mann auf Reisen war, saß Martha abends vor dem Küchenfenster. Gebannt blickte sie zum Haus gegenüber, dessen hell erleuchtetes Fenster ihr wie ein Tor zu einer anderen Welt erschien. Die Wohnung der Schönen hatte keine Vorhänge. Martha schätzte, dass sie sie nicht brauchte. Sie seufzte wehmütig.

In Wirklichkeit hatte die schöne Claire keinen Mann, der Vorhänge montieren konnte. Sie hatte auch keinen Vater mehr, der das getan hätte. Und um selbst mit ihren alabasterfarbenen Händen zu Bohrer und Schraubenzieher zu greifen, fühlte sie sich zu schwach. Also hatte sie keine Vorhänge. Claire war es egal, ob jemand in ihre Wohnung hineinsehen konnte oder nicht. Sie sehnte sich danach, dass jemand in ihre Seele hineinsehen würde.

Im Gegensatz zu ihr wollte Martha ihr Seelenleben lieber verbergen. Sie wusste nicht, was geschehen würde, wenn sie es offenlegte.

Es war wieder einmal Abend und die schöne Claire tauchte am Fenster auf. Martha, im gegenüberliegenden Haus, hielt den Atem an. Sprachlos ließ sie ihr Pillendöschen sinken, das sie gerade in der Hand hielt. Sie starrte auf den weißen Rücken, der sich schamlos im hellerleuchteten Fenster präsentierte und auf die runden Gesäßbacken, die sich an die Scheibe pressten, nur von einem Hauch schwarzer Spitze verziert. Auf der weißen Haut hoben sich dunkel zwei fremde Hände ab, Hände eines Mannes, offensichtlich eines anderen als letzte Woche. Martha schnaubte verächtlich und bedachte ihr Telefon mit einem strafenden Blick, weil es nicht läutete.

Marthas Mann war wieder einmal auf Reisen. Wenn er nicht auf Reisen war, war er meistens müde. Jedenfalls würde er nie auf die Idee kommen, sie aufs Fensterbrett zu setzen, aber er liebte sie innig, das wusste sie ganz genau. Doch für sie fühlte sich diese Liebe wie ein warmer, zu lange getragener Mantel an, dessen Ellbogen schon etwas abgewetzt waren und sie wollte sich nicht die Mühe machen, die Löcher zu flicken.

Stattdessen verfolgte sie das Leben anderer, in Zeitschriften, im Fernsehen oder im Fenster gegenüber. Im Stillen sehnte sie sich danach, mit jemandem zu tauschen, der ein aufregenderes Leben führte; zum Beispiel mit der Schönen gegenüber. Deren Leben schien ihr unerreichbar und umso begehrenswerter, je länger sie es betrachtete, wie ein Kleid in einer Auslage, das man immer wieder bewundert, obwohl man es sich nicht leisten kann.

Das Zwischenspiel am Fenster dauerte nicht lange. Martha trank ihr Glas Wasser zu den Tabletten und beobachtete, wie gegenüber die Lichter aus- und wieder angingen. Kurze Zeit später trat ein Mann aus der Haustür und ging eiligen Schrittes die Straße hinunter, ohne sich noch einmal umzudrehen. Die Schöne beugte sich halbnackt aus dem Fenster, als würde sie sehnlichst darauf warten, dass er doch noch einen Blick zurückwarf.

„Sie wird sich verkühlen“, dachte Martha zufrieden und warf Claire einen bösen Blick über die Straße hinweg zu, der sehr schnell flog, denn Neid fliegt schneller als das Licht.

Claire fröstelte im offenen Fenster. Sie fand sich damit ab, dass Bob sich nicht mehr umdrehen würde, und schloss die Fensterläden. Gegenüber war es dunkel geworden. Enttäuscht wankte sie in ihr Bett zurück.

Wenig später lag sie alleine zwischen den zerwühlten Laken, in denen sie noch eine Spur von seinem Geruch wahrzunehmen glaubte.

Ihre Zähne klapperten, obwohl die Heizung lief. Sie wusste, warum ihr so kalt war, sie sehnte sich nach der Wärme seiner Umarmung oder zumindest danach, selbst jemanden umarmen zu können und sich einzubilden, dass er es sich wünschte. Doch sie musste sich eingestehen, dass er geflüchtet war, dass wieder jemand vor ihrer Sehnsucht geflüchtet war. Zitternd setzte sie sich auf und griff nach den zwei Gläsern Rotwein, die noch auf dem Fußboden standen. Sie wollte jemanden anrufen, wusste aber nicht, wen. Die meisten ihrer Freundinnen waren verheiratet und mussten jetzt in trauter Zweisamkeit mit einem warmen Körper im Bett liegen. So wie die Frau gegenüber. Claire wusste, dass sie sie heimlich beobachtete. Als sie sich aus dem Fenster gebeugt hatte, war drüben schnell das Licht ausgegangen. Warum machte sie das? Sie hatte doch einen Mann, Claire hatte die beiden oft genug morgens aus dem Haus gehen sehen. Warum lagen sie dann nicht abends miteinander im Bett und wärmten sich gegenseitig? Ob sie überhaupt wusste, wie gut sie es hatte?

Wenn sie nur selbst einen hätte, dachte sie bitter. Sie würde nichts anderes mehr tun als jede Nacht mit ihm im Bett zu liegen, sie würde nicht mehr arbeiten, denn sie bräuchte kein Geld, würde nicht mehr essen, denn sie bräuchte keine Nahrung, sie würde gar nicht mehr denken müssen, wie unnötig wäre jede Bemühung, irgendeine Lebensfunktion aufrechtzuerhalten, wenn sie doch von selbst aufrechterhalten werden würde, einzig und allein von Liebe wie ein Säugling im Mutterleib.

Im Haus gegenüber lag Martha ebenfalls wach. Ihr Mann war irgendwann nach Hause gekommen, hatte einen kurzen Gruß gemurmelt und war angezogen wie er war neben ihr ins Bett gefallen. Er hatte die Gabe, in jeder Situation sofort einschlafen zu können, während seiner Dienste als Notarzt bis zur Perfektion trainieren können; war imstande, aus dem Tiefschlaf geweckt, einen Halbtoten mit einem geübten Schnitt in die Kehle ins Leben zurückzurufen und eine Minute später wieder in sein Dienstbett zu sinken, die paar Minuten, die ihm zur Verfügung standen, nützend, während die Schwestern das Blut wegwischten und der Nächste an die Reihe kam. Es machte Martha aggressiv, dass sein Körper einfacher zu funktionieren schien als ihrer, über dem unausgesprochene Worte oder unerfüllte Lust wie eine Schar aufgeschreckter Krähen flatterten und ihr mit spitzen Schnäbeln die Decke des Schlafes wegzogen. Sie drehte den Kopf und betrachtete den schlafenden Körper neben sich. Das dichte Haar, in dem sich die ersten weißen Strähnen zeigten, gelockt wie bei einem Knaben, die weichen Lippen, der Brustkorb, der sich in unerschütterlichem Vertrauen hob und senkte.

Ob er wohl wusste, wie oft sie nicht glücklich war? Vielleicht sollte sie es ihm sagen, sollte ihm kein Glück vorspielen, wo sie keines empfand. Das Problem war nur, dass sie selbst nicht wusste, was sie empfinden wollte. Am Tag ihrer Hochzeit hatte sie die Verantwortung für ihr Glück in seine Hände gelegt wie einen schweren Stein, erleichtert, dass sie ihn nun nicht mehr tragen musste und auch nicht ihre Eltern, und ihr Mann schien mit den Jahren immer gebeugter zu gehen durch die Last, die sie beide nicht aussprechen konnten. Martha wusste nur, dass alle anderen viel glücklicher waren. Zum Beispiel die Schöne von gegenüber. Die war schlank, jung und hatte jede Woche einen neuen Liebhaber. Die musste sicher glücklich sein.

Claire starrte mit Tränen in den Augen zur Decke. Obwohl gerade erst gesättigt, war sie schon wieder hungrig, so wie früher nach Schokolade, wenn sie sich die Stücke gierig in den Mund schob und sich gleich danach den Finger in den Mund steckte, um zu erbrechen und immerzu hungrig blieb.

Ihre Ballettlehrerin hatte gesagt, sie sei zu dick: „Wie soll das Mädchen Ballett tanzen“, hatte sie gesagt, „die wird einmal eine richtige Frau mit runden Hüften“, und sie sah sie noch vor sich, groß und biegsam, mit einem bitteren Zug um den Mund und ihrem strengen Haarknoten. Mit jeder Faser ihres Körpers hatte sie eine Disziplin ausgestrahlt, die Claire niemals besitzen würde. Doch die Wärme fehlte, und Claire zog zwei Strumpfhosen übereinander an, um nicht zu frieren. Seit Jahren schwelte diese Wunde in ihr, sollte sie nun eine Frau sein oder nicht; wenn Bob bei ihr war wollte sie das, ansonsten lieber nicht.

Sie erinnerte sich an den bitteren Zug um den Mund ihrer Mutter, als ihr Vater sie verlassen hatte. So seien die Männer eben, hatte sie gesagt, es war wichtig, die Tochter möglichst früh auf ihr Schicksal vorzubereiten. Dazu brauchte sie keine Worte, mit denen wollte sie immer nur ihr Glück. Doch kaum war Claire mit einem Mann zusammen und dachte an ihre einsame Mutter, meldete sich ihr Gewissen wie ein drohendes Menetekel zu Wort.

Nur Bob wusste ohne Worte, was ihr Körper brauchte. Er fuhr mit dem Finger die Naht ihrer Strümpfe entlang wie jemand, der geheime Landkarten lesen kann und keine Angst hat, am Ende der Welt über die Klippen zu stürzen, und wenn sie beisammen waren, verwandelten sich ihre Körper in zwei riesige Münder, bis nicht mehr klar war, wo der Mund aufhörte und andere Körperteile begannen, und in seiner Umarmung fror Claire endlich nicht mehr und hatte das Gefühl sich auszudehnen, bis ihr neue Arme und neue Beine wuchsen, die sie wie Tentakel um seine Hüften schlang, um ihn festzuhalten, und wenn sich dann ihre Gefühlswelt verengte, blieb endlich auch die Angst draußen und die Zweifel, und sie spürte nur noch einen einzigen Punkt, von dem aus ein süßer Schmerz ihre Wirbelsäule hinauf kroch, um dort in tausend Stücke zersplittern und bis in ihre Fingerspitzen zu rieseln. Nachher hatte sie das Gefühl, aus einer Ohnmacht zu erwachen, fühlte sich dankbar, dass sie lebte und einen Körper hatte, mit dem sie empfinden konnte.

Doch dann kam wieder die Kälte. Sobald Bob weg war, brach sie erneut über sie herein, unaufhaltsam, als würde man sie nackt in den Schnee werfen. Glück ist zerbrechlich, bei der ersten Liebe glaubt man noch, man könne es ewig im Körper speichern, doch jede Enttäuschung zerstört ein paar Speicherzellen. Claire wusste nicht, ob sie wieder nachwachsen würden. Glück ist schwer verdaulich, wenn man lange gehungert hat, muss man sich erst langsam wieder daran gewöhnen. Claire hingegen stopfte sich voll, aus Angst und Ungewissheit, wann die nächste Gelegenheit sein würde, ob überhaupt eine kommen würde, und wenn nicht, würde sie verhungern, und dann würde auf ihrem Grabstein stehen, verhungert aus Sehnsucht, und die Raben würden ihr Grab umkreisen, neben dem Grab ihrer Mutter. Sie spürte Bobs Verlust so sehr, als wäre ihr ein Körperteil amputiert worden, vom Glücksgefühl war nichts mehr übrig und sie rollte sich zusammen und weinte.

Dann griff sie nach ihrer Rotweinflasche und wünschte sich, sie könne mit irgendeiner anderen Frau tauschen. Zum Beispiel mit der Frau gegenüber, die verheiratet war. Wie glücklich die sein musste und wie geborgen.

Martha beneidete Claire und Claire beneidete Martha.

Der zweite Blick

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