Читать книгу Der zweite Blick - Bernadette Németh - Страница 5

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An einem Dienstag im Mai verlor Perdita ihr Gedächtnis.

Sie tauchte im Krankenhaus auf wie ein Gespenst aus einer anderen Welt, hohläugig und rastlos.

Ihr Begleiter, ein altersloser Mann mit sonnengegerbtem Gesicht, schob sie zur Tür hinein. In der einen Hand trug er Perditas bunte Leinentasche, in der anderen einen Stock, auf dem wie eine riesige Weintraube lauter Plastikbeutel hingen, die mit einer trüben Flüssigkeit gefüllt waren.

Perdita schämte sich, weil ihre Bluse nass am Körper klebte, und versuchte die Arme zu verschränken, um ihre Brüste zu bedecken. Sie hatte das Gefühl, als wandle sie auf dem Meeresgrund, in einem Traum, doch ohne den Schutz des Schlafes. Wie ein Fisch im Aquarium berührte sie mit den Fingern die Glaswand der Aufnahmestation. Die Krankenschwester dahinter bewegte die Lippen.

„Ihr Name?“, dröhnte die Stimme in einer fremden Sprache aus ihrem Mund.

Der Mann zuckte mit den Schultern, stellvertretend für Perdita.

„Sie weiß ihn nicht mehr“, sagte er. „Sie weiß nicht, wer sie ist.“

„Was soll das heißen?“, fragte die Schwester und runzelte die Stirn. „Wer sind Sie überhaupt?“

„Ich habe sie aus dem Bach gefischt“, murmelte der Alte. „Der Bus, in dem sie saß, ist verunglückt.“

Die Schwester zückte einen Kugelschreiber.

„Spricht sie Spanisch?“

„Offenbar nicht“, sagte er. „Ich habe keinerlei Papiere in ihrer Tasche gefunden.“

Die Schwester sah Perdita an. Hinter dem Glas des Aquariums flossen ihre Züge auseinander bis sie aussah wie ein erstaunter Kugelfisch.

„Was ist das Letzte, woran Sie sich erinnern können?“, fragte sie langsam auf Englisch und betonte die Silben wie eine Lehrerin beim Sprachkurs mit aufmunternden Bewegungen ihrer Hand.

Perdita stöhnte wie unter einer Last, die sie kaum tragen konnte. Sie versuchte, nach einem Gedanken zu greifen, doch sie entglitten ihr wie Schneeflocken und schmolzen auf ihrer Hand. Sie schüttelte den Kopf.

„Ich habe alles ruiniert“, sagte sie.

Der Arzt, der zu ihr kam, erkannte sofort, dass er den einsamsten Menschen der Welt vor sich hatte. Für Perdita roch er nach irgendetwas Vertrautem. „Haben Sie Zeit zum Übersetzen, Don Pedro?“, fragte er Perditas Begleiter, als wäre er ein Großvater, der regelmäßig seine Enkel mit einer Blinddarmentzündung ins Krankenhaus bringt.

Dieser wehrte mit einer barschen Handbewegung ab, machte aber keine Anstalten zu gehen.

„Wo haben Sie sie gefunden?“, fragte der Arzt.

Don Pedro schüttelte den Kopf. „Ich habe auf den nächsten Bus gewartet“, sagte er. „An der Biegung der Straße, die nach San Carlos führt – wo ich immer mein Kokoswasser verkaufe.“ Er deutete auf die Plastikbeutel auf seiner Schulter.

„Auf einmal sah ich eine Staubwolke, die vom Hügel herunterraste, und darin einen Jeep – er hatte ein unmögliches Tempo drauf, war wohl ein Tourist, der ein bisschen in den heißen Quellen baden will und die Straßen hier nicht kennt.“ Er schnalzte bedauernd mit der Zunge. „Direkt vor meinen Augen sackte er mit einem Reifen in ein Schlagloch. Mir blieb fast das Herz stehen. Der Bus, der aus der Gegenrichtung kam, hatte keine Chance auszuweichen – trotz des Jesusbildes auf seinem Heck.“

Dr. Zuñigas Mundwinkel hoben sich leicht.

„Grande dios, ich sah gerade noch, wie sich das Heck dreimal überschlug – und als ich hinlief, lag der Bus auf der Seite wie eine umgestülpte Einkaufstasche, und die meisten Leute waren herausgeklettert, manche lagen auf dem Boden herum, zwischen den Heiligenbildchen, die Doña Teresa immer im Bus verkauft und die niemandem etwas nützen.“ Er brummte etwas Unverständliches. „Die junge Dame hier …“ – er warf einen Seitenblick auf Perdita, die immer noch unbeweglich dastand, die Arme fest vor der Brust verschränkt. „Sie rannte im Bach herum, als suche sie etwas.“

„Was suchten Sie denn?“, fragte er streng.

Perdita zuckte die Schultern.

„Mein Leben“, sagte sie. Einige Brocken Englisch tauchten am Horizont ihrer Gedanken auf wie ein tröstliches Dorf nach einer langen Reise und sie hoffte, dass zumindest der Arzt sie verstehen würde.

Dr. Zuñiga schüttelte bedauernd den Kopf. „Es tut uns leid“, sagte er auf Spanisch zu Don Pedro. „Wir haben absolut keine Informationen über sie. Sie muss hierbleiben, bis wir ihre Identität geklärt haben. Ich werde die Polizei verständigen.“ Perdita verstand seine Worte nicht, aber die Entschlossenheit, mit der er nach seinem Diensttelefon griff.

„Nein! Nicht! Ich will nicht hierbleiben!“, rief sie und wandte Don Pedro erschrocken das Gesicht zu.

„So helfen Sie mir doch – draußen in Ihrem Laden – kann ich telefonieren …“ –

Doch dieser war schon aufgestanden, hatte sich mit einer leisen Geste verbeugt und ging rückwärts aus dem Zimmer.

Der Arzt rief Satzfetzen in den Hörer – von einer Touristin, die plötzlich hier mitten in Costa Rica aufgetaucht sei und ihr Gedächtnis verloren habe – während Perdita ihn am Ärmel zog und versuchte, ihm das Telefon aus der Hand zu reißen.

Das Gesicht eines Pflegers tauchte wachsam im Türrahmen auf. Der Arzt gestikulierte hilfesuchend in seine Richtung.

Miguel näherte sich mit leopardenhaften Schritten und drückte Perdita sanft auf ihren Stuhl zurück.

„Sie brauchen keine Angst zu haben“, sagte er auf Englisch und ging in die Hocke, um ihr ins Gesicht zu sehen. „Sie brauchen überhaupt nichts zu tun. Wir kümmern uns um Sie!“

Perdita wimmerte wie ein Tier, das in eine Falle geraten war. „Ich kann nicht hier bleiben“, jammerte sie.

„Gefällt es Ihnen hier nicht?“, fragte Miguel.

„Hier riecht es nach Angst“, sagte Perdita.

Dr. Zuñiga, der immer noch telefonierte, runzelte die Stirn und machte eine abwehrende Handbewegung.

Perdita versuchte, sich mit aller Kraft zu erinnern, weshalb sie hier war, wo sie vorher gewesen war und wer sie überhaupt war, doch ihre Gedanken stoben auseinander wie ein Taubenschwarm in Venedig.

„Hier“, sagte Miguel leise und reichte ihr einen Becher mit einer Tablette. „Damit Sie schlafen können. Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer. Die anderen schlafen schon …“

Er war das einzig Reale in der Leere, die Perdita umgab, daher folgte sie ihm wie ein Schaf seiner Herde, da es sonst nichts gab, was ihr hätte Halt geben können. Miguel öffnete die Tür eines Krankenzimmers, aus dem lautes Schnarchen drang, und reichte ihr ein Nachthemd, das sie über ihre Kleidung streifte.

Er beobachtete sie interessiert.

„Und Sie erinnern sich wirklich an – an gar nichts?“ Er zeichnete mit den Handflächen einen entschlossenen Strich in die Luft. „Nada?“

Perdita schüttelte schweigend den Kopf.

„Was machen Sie denn gerne? Malen Sie?“ Er lächelte verschwörerisch. „Ich weiß, es ist nicht meine Aufgabe, aber …“ – er drehte sich nach allen Seiten um, als würde er ihr ein Geheimnis verraten.

Perdita schüttelte stumm den Kopf. „Malen …“ wiederholte sie flüsternd.

„Dibujar, paint …“ – er zeichnete mit den Händen große Kreise in die Luft. Sie saß zusammengesunken auf ihrem Bettrand. Die Medikamente schienen zu wirken.

„Oh. Anscheinend nicht“, murmelte er.

„Musica?“ fragte er daraufhin verschmitzt und begann, auf einer imaginären Flöte zu spielen. Mit seinen geschmeidigen Bewegungen sah er aus wie ein Schlangenbeschwörer. Perditas Bettnachbarin, die mit großen Augen unter ihrer Decke hervorgelugt hatte, heulte auf und verkroch sich unter der Decke.

„Vibora …!“, rief sie mit zitternder Stimme.

„Nein, nein“, beschwichtigte Miguel, „hier sind keine Schlangen“ – und fügte mit einem Blick auf Perdita hinzu: „Pobrecita, sie hat vor allem Angst, sogar vor Schlangen.“ Perdita lächelte.

„Dann vielleicht – tanzen?“ Er hüpfte auf und ab wie ein Hampelmann. Aus einer Ecke des Zimmers kamen missbilligende Rufe. Eine Frau mit aufgetürmten Haaren richtete sich drohend auf und schwang eine imaginäre Machete.

„Schon gut, schon gut.“ Er warf einen letzten Blick auf seine neue Patientin, die die Arme um die Knie geschlungen hatte und sich mit stumpfem Blick auf dem Bett hin und her wiegte. „Vielleicht fällt Ihnen bis morgen etwas ein“, flüsterte er zögernd. „Warte mal, eines versuchen wir noch. Vielleicht – schreiben?“

Er legte Daumen und Zeigefinger aneinander und zeichnete kleine Kringel in die Luft.

Perditas Augen leuchteten auf, als habe er ein Licht angezündet.

„Oh, ja, bitte – Papier!“, flüsterte sie.

Die schnarchende Frau warf sich auf die andere Seite, so dass die Bettfedern quietschten.

„Du Arme, du könntest hier sowieso nicht schlafen.“ Miguel seufzte und sah sich verlegen nach allen Seiten um. „Ich darf das eigentlich nicht …“, murmelte er. „Aber – hier.“ Er schob ihr einen dicken Schreibblock zu, den er in die Tasche seines Kittels gestopft hatte, und einen Kugelschreiber. Perdita riss ihn ihm aus der Hand, als handle es sich um etwas Essbares.

Ihre Bettnachbarin rief wütend unter ihrer Bettdecke hervor, dass sie schlafen wolle.

Miguel warf Perdita einen verschwörerischen Blick zu und legte den Finger auf die Lippen. Sie lächelte zurück. Dann stand sie leise auf und setzte sich auf den Fußboden, dorthin, wo das Licht vom Flur hereinfiel und ein schmales Dreieck auf den Boden zeichnete.

„Ist alles in Ordnung?“, rief Dr. Zuñiga von Ferne.

„Ja, ja, alles bestens“, sagte Miguel und eilte diensteifrig aus dem Zimmer.

„Sehr gut“, seufzte Dr. Zuñiga und rieb sich die Augen. „Dann lege ich mich jetzt etwas hin. Wie geht es der neuen Patientin?“

Miguel machte eine beschwichtigende Handbewegung. „Lassen wir sie schlafen. Vielleicht kommen die Gedanken morgen von alleine zurück“.

Dr. Zuñiga seufzte erleichtert. „Ich bin froh, mit Ihnen Dienst zu haben, Miguel“, sagte er und klopfte dem Pfleger zufrieden auf die Schulter. „Sie Sind wirklich ein Segen für die ganze Station. Mit Ihnen ist es immer ruhig.“ Er gähnte, winkte noch einmal erleichtert und verschwand in Richtung Stiege.

Miguel lächelte. Er warf einen Blick über den grell beleuchteten Flur zu Perditas Zimmer. Die Tür war angelehnt.

Hinter der angelehnten Tür kauerte Perdita, den Block auf den Knien, und schrieb.

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Der zweite Blick

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