Читать книгу Der zweite Blick - Bernadette Németh - Страница 6
Macarenas Lied
ОглавлениеSie brachten ihm Macarena an Händen und Füßen gefesselt und über den Rücken eines Maultieres geworfen wie ein Mehlsack, da sie sich so sehr wehrte, dass man sie nicht anders transportieren konnte. Die Leute, die an der Straße wohnten, zogen sich in ihre Häuser zurück und die Vorhänge zu um nicht von den Augen und Flüchen des Mädchens getroffen zu werden.
Die meisten hatten sich schon neugierig beim Hinrichtungsplatz versammelt, in sicherer Entfernung zum Galgen, der in der Mitte stand und auf den die Sonne unbarmherzig niederbrannte.
Paco sah die kleine Karawane in der Ferne auftauchen und erkannte sofort Macarenas widerspenstige Gestalt, die ihm wie eine Fata Morgana erschien. Er versuchte ihren Blick aufzufangen als sie vorbeizogen, doch ihr Körper war so verdreht, dass es nicht möglich war. Im Gegensatz zu ihr folgten ihr Bruder und ihre Tante gehorsam den Knechten des Königs. Sie zerrten das erschöpfte Maultier bis zum Königsthron, der auf der Alameda aufgebaut war, dort wuchteten sie das Mädchen hinunter, das mit Tränen der Wut in den Augen dem König vor die Füße fiel.
Voller Verachtung betrachtete er ihren schmalen Körper von oben bis unten.
„Du bist also des Gauners letzter Wunsch“, sagte er dann gedehnt.
Macarena hielt die Augen gesenkt und erwiderte nichts, wie Paco ihr eingeschärft hatte.
„Warum wohl?“, sagte der König und lächelte verächtlich. „Hast wohl seinen Strohsack geteilt, was?“
Macarena antwortete immer noch nicht.
„Wenn du nicht reden willst“, sagte der König, „haben wir genügend Mittel, um deiner Redseligkeit auf die Sprünge zu helfen“.
Macarenas Augen weiteten sich vor Entsetzen, doch ein Henker trat aus der Reihe und raunte dem König zu: „Lasst sie. Wir brauchen sie noch. Das können wir später immer noch tun.“
Paco hatte den dritten Tag ohne Wasser an den Pfahl der Alameda gekettet verbracht und nachdem er Macarenas Ankunft gesehen hatte, klammerte sich sein Blick an den fernen roten Punkt ihres Rockes, um nicht wieder in der Salzwüste zu versinken.
Er wusste nicht mehr, wie er hierhergekommen war, jegliche Erinnerung war im quälenden Durst verloren gegangen.
Er erinnerte sich nicht an die maskierten Reiter mit dem Wappen des Königs, die wie aus dem Nichts erschienen waren und den friedlichen Lagerplatz seiner Sippe in ein Meer von Blut getaucht hatten. Ihr Anführer hatte Pacos kleine Schwester mit einer einzigen schnellen Bewegung vor sich aufs Pferd gehoben und war mit ihr zwischen den Bäumen verschwunden, die ihre Schreie in ihr Blätterrauschen aufnehmen und endlos wiedergeben sollten. Zwei andere hatten sich mit aufgepflanzten Bajonetten auf Pacos Eltern, zwei friedliche Alte, gestürzt, die soeben noch in die Glut des Feuers geblickt hatten, bevor eine andere, furchtbare Glut ihre Augen blendete.
Angstvoll hatten die Pferde an ihren Stricken gezerrt, und ihr Wiehern hatte das Klirren der Waffen und die Entsetzensschreie von Pacos Familie übertönt.
Die Boten des Königs schienen in einem wahren Blutrausch zu wüten, schließlich hatten sie die Fahrenden oft genug gewarnt, eine anständige Arbeit anzunehmen oder aus der Stadt zu verschwinden.
„Wo“, richtete einer der Reiter sein blutbeflecktes Messer auf Pacos Brust, „hast du Lump jetzt das ergaunerte Gold versteckt?“
Blitzschnell hatte sich Paco unter dem Messer hindurch geduckt und die Sekunde der Verwirrung ausgenutzt, um zu seiner Fuchsstute zu rennen. Mit einem Griff hatte er den Knoten ihres Halfters geöffnet, war in den Sattel gesprungen und in gestrecktem Galopp davongejagt. Doch die Reiter des Königs hatten damit gerechnet. Im Nu hatten sie ihre Pferde gewendet und sprengten Paco hinterher.
Dieser hatte instinktiv den Weg zum Waldrand eingeschlagen.
Die Stute war gestrauchelt, als sie bis zu den Fesseln im weichen Ackerboden versank, doch er hatte sie entschlossen vorwärts getrieben, den Blick auf den dunklen Wald gerichtet, der ihn retten würde, denn dort kannte er sich aus wie kein Zweiter.
Die Reiter des Königs jubelten im Stillen. Sie hatten dem Gauner absichtlich etwas Vorsprung gegeben, damit er in die Falle tappte, die sie für ihn gebaut hatten. Sie hielten so viel Abstand, dass sie gerade noch das davonstiebende Pferd sahen, zwischen dessen Hinterbacken weißer Schaum hervortrat. Paco hatte nicht gewusst, dass an mehreren Stellen dicke Äste quer über den Weg lagen, die einen Ahnungslosen in Sekunden aus dem Sattel werfen würden. Doch er hatte die Gefahr gespürt und sich tief über den schweißnassen Pferdehals gebeugt, als ihm siedendheiß einfiel, dass er diesen Weg kannte. Er endete mit einem riesigen Holzhaufen, den die Bauern aufgehäuft hatten um ihr Holz zu lagern.
Blitzschnell hatte Paco im Kopf die Möglichkeiten überschlagen, die ihm blieben, während die Hufe seines Pferdes einen bedrohlichen Dreitakt auf den Waldboden trommelten. Um abzuspringen war er viel zu schnell unterwegs. Die Bäume standen so dichtgedrängt am Wegesrand, dass es unmöglich sein würde, ihnen auszuweichen. Bei einem hastigen Blick über die Schulter hatte er die blitzenden Helme seiner Verfolger gesehen. Vielleicht würden sie ihn am Leben lassen.
Mit Entsetzen war vor seinem inneren Auge der Holzstoß aufgetaucht. Vergeblich hatte Paco versucht, sein Pferd zu stoppen, das sich jeglicher Kontrolle entzogen hatte und in gestrecktem Galopp dahinjagte.
„Halt!“, schrie er und zerrte verzweifelt an den Zügeln. „Ich ergebe mich!“
Doch es war bereits zu spät gewesen. In letzter Sekunde hatte die Stute gemerkt, dass ihr Fluchtweg nach vorne abgeschnitten war. In Bruchteilen von Sekunden hatte sie ihre vier Beine mit aller Kraft in den Boden gestemmt, war krachend in den Holzstoß hineingeschlittert und hatte sich mit einem schrillen Schrei aufgebäumt, als sich die Splitter in ihr Fleisch bohrten. Paco war in hohem Bogen aus dem Sattel katapultiert worden. In den Bruchteilsekunden des Fallens war es, als bliebe die Zeit stehen. Eine unheimliche Stille breitete sich in seinem Kopf aus, während die dunklen Baumstämme den schwarzen Nachthimmel über ihm freigaben und er sich langsam wie ein Herbstblatt fallen sah.
Ein bohrender Schmerz, der von seiner Schultergegend ausging, war langsam in sein Bewusstsein gedrungen. Er hatte ihn an der Hand heraus aus dem angenehm kühlen Sumpf in eine brennende Hitze gezogen, und das rhythmische Klappern von Pferdehufen auf den Pflastersteinen hatte sein Bewusstsein erreicht.
Paco blinzelte, doch das Licht war so hell, dass es ihn blendete und er fragte sich, ob dies schon der Tod war. Da hörte er Stimmen, wie von einem Markttag, und als er die Augen langsam öffnete, wurde ihm bewusst, wo er sich befand. Er kauerte angekettet auf dem Richtplatz der Alameda, ohne einen Tropfen Wasser, die schlimmste Strafe unter der Sonne Andalusiens.
Rechts und links von ihm waren zwei Wachen postiert, die aufpassten, dass niemand ihm frisches Wasser oder Essen brachte. Er versuchte, sich zu erinnern, was geschehen war, doch sein Gedächtnis war gnädig und im letzten Bild seiner Erinnerung sah er sich mit seiner Sippe am Lagerfeuer sitzen, während sie darauf warteten, dass Macarena kommen würde um zu singen.
Macarena hatte das Singen nie gelernt, sie hatte es mit der Muttermilch eingesogen wie das Tanzen, das Reiten und das Heilen von Krankheiten mit einem Blick in die Handflächen und in die Seele.
Seitdem sie denken konnte, hatte ihre Familie musiziert und dazu getanzt, manchmal auf Festen, doch öfter in der Verschwiegenheit einer kleinen Kammer, um den misstrauischen Blicken der Sesshaften zu entgehen. Sie legten all ihre Gefühle in die Musik, überschäumende Lebensfreude bei Hochzeiten und die abgrundtiefe Verzweiflung des Todes.
Pacos und ihre Sippe waren seit jeher gut befreundet, sie trafen einander immer wieder auf Kreuzungspunkten ihres Lebens, auch wenn das nicht geplant war, ließen ihre Pferde zusammen weiden und tauschten Hühner aus. An dem Tag, an dem die Soldaten des Königs Pacos Familie niedergemetzelt hatten, war Macarenas Mutter, vier Hügel entfernt, zur selben Zeit ruckartig stehengeblieben, hatte das Geschirr fallen gelassen, das sie gerade trug und gesagt, sie fühle ein Messer in ihrer Brust. Sofort kamen Macarenas Brüder herbeigelaufen, packten sie unter den Armen und betteten sie auf ein Strohlager. Sie beschwor ihre Söhne, noch heute die Pferde zu satteln und so schnell wie möglich von hier fortzugehen. Dann hauchte sie ihr Leben aus, mit offenen Augen, die sie sich weigerte zu schließen, da sie wusste, dass ihre Freunde geblendet worden waren. Und als irgendwann der Geist aus ihrem erschöpften Körper wich, hatten ihre Augen vor Anstrengung die Farbe verloren und glichen dem blassen Orange ihrer Korallenohrgehänge.
Obwohl Pacos Bewusstsein ihn von der Wirklichkeit fernhielt, war der Durst schlimmer als die Schmerzen. Die andalusische Sonne brannte unbarmherzig auf die Alameda herab und verwandelte seine Zunge in einen pelzigen Knebel.
„Willst du uns nun sagen, wo ihr das Gold versteckt habt“, sagte der Wächter, der neben ihm stand, hochmütig. Paco wiederholte schwach, dass er keines habe.
„Das glauben wir dir nicht“, sagte der Wächter und trank das lauwarme Wasser aus seinem Krug, der sich in der Sonne erhitzt hatte wie ein Kochtopf.
„Wir wissen doch alle, dass ihr Zigeuner stehlt, wo ihr nur könnt. Selbst fremde Kinder sind vor euch nicht sicher.“
Paco dachte an seine Schwester, und wie der Reiter des Königs mit ihr zwischen den Baumstämmen verschwunden war, und die Schreie der Geschändeten hallten in seinem Kopf wider wie in einem steinernen Tempel.
„Wasser“, bat er.
Der Wächter wischte sich den Mund ab.
„Das bekommst du, wenn du uns sagst, wo ihr das Gold versteckt habt.“
Paco sank zurück in die Wüste seines Durstes. Durch die Menge ging ein enttäuschtes Raunen. Bald träumte er die Pflastersteine des Bodens als kühlen Meeresgrund, am nächsten Tag saßen seine Gedanken in der Erde fest und waren nicht mehr zu bewegen.
„Auf diese Weise kommen wir nicht weiter“, sagte der Wächter zum König.
„Noch ein paar Stunden, und er stirbt uns und mit ihm das verlorene Gold.“
Der König zuckte die Schultern. „Nun denn - dann hängt ihn eben. Aber wir müssen ihm einen letzten Wunsch erfüllen, sonst wird das Volk aufbegehren. Sag ihm das – er wird sowieso nichts wollen als Wasser.“
Der Wächter trat zu Paco, die Karaffe hinter seinem Rücken versteckt. „Du hast einen letzten Wunsch frei“, sagte er. „Das ist der Befehl des Königs, des großen und mächtigen.“
Doch Paco verlangte nicht nach Wasser. Sein Körper war bereits in Sphären, in denen er derlei nicht mehr brauchte.
„Ich möchte Macarena singen hören“, flüsterte er.
Noch nie war es vorgekommen, dass der König einem Gefangenen seinen letzten Wunsch verweigert hatte. Dessen Erfüllung war so notwendig wie der sonntägliche Stierkampf, auf den das Volk beharrte, und der König gewährte es gerne, solange er einen Landstreicher mehr hängen sah.
„Nun denn, so schafft die Sippe herbei“, sagte er. „Nur hängt euch die Henkersmützen um, damit euch der Blick dieser Teufelsweiber nicht trifft; er könnte euch für immer verhexen.“
Es war nicht schwierig, Macarenas Familie zu finden. Sie war um das Totenbett ihrer Mutter versammelt, und die Klagelieder hallten durch die Wälder, ließen die Pferde in langsamen Schritt verfallen und hielten die Schwerter in der Scheide fest.
Mit tränenleeren Augen drehten sie sich um und sahen die dunklen Reiter, die darauf warteten, sie abzuholen. Ohne ein Wort des Widerstandes ging Macarenas Bruder langsam auf sie zu, seine Gitarre unter dem Arm als wäre sie sein Kind. Nur Macarena wehrte sich wie ein wildes Tier, die Totenwache aufzugeben und ihre Mutter den Geistern freizugeben.
Sie kamen im Morgengrauen an der Alameda an, wo sich eine neugierige Menschenmenge versammelt hatte wie beim Fischmarkt. Macarena hatte das Gefühl, als seien ihre Knochen nach dem wilden Ritt einzeln wie in einem Sack durcheinander geschüttelt worden, doch kaum hörte sie das Rufen der Leute, versuchte sie, ihren Freund ausfindig zu machen. Zu ihrem Entsetzen sah sie nur ein graues Bündel, das bei den beiden Säulen in der Mitte des Platzes auf dem Boden lag. Mit all ihrer Kraft versuchte sie, ihm trotz der Entfernung Energie zu schicken und spürte, dass nur ein Teil davon ankam, und seine Schmerzen zu verstärken schien.
Ohne ein Wort der Gegenwehr stieg sie auf das Podest, das ein paar Helfer eilig vor dem Königsthron aufgebaut hatten und wo ihre Tante und ihr Bruder mit der Gitarre bereits warteten. Macarena wusste, dass sie nicht mehr viel Zeit hatten. Auf einen Blick von ihr fing ihre Tante an zu klatschen, senkte den Kopf und klatschte mit ihren Händen eine Melodie, die das Lachen und Reden der Leute übertönte und langsam verstummen ließ. Ihr Bruder zupfte ein paar Saiten seiner Gitarre, schüchtern und vorsichtig, er wusste nicht, was er spielen sollte, jetzt, wo der aufmunternde Geist seiner Mutter fehlte. Er dachte an sie und das Denken wurde zu Musik und wurde zu ihren Tränen und den orangefarbenen Korallenohrgehängen.
Der erste Akkord traf die Menschen an einer unerwarteten Stelle.
Paco, der gedacht hatte, die Schwelle des Todes bereits überschritten zu haben, freute sich an dem hellen Licht, das ihn umgab, und dem Frieden. Zu diesem Frieden passte kein Laut; die Musik schien ihn am Kragen zu packen und von dem Weg, den einzuschlagen er im Begriff war, zurückzuhalten. Die Zuhörer waren verstummt und warteten auf das Einsetzen von Macarenas Stimme.
Sie begann zu singen, dunkel und klar, sie wollte eine Bulería singen um ihren Freund aufzumuntern. Doch gleich bei der ersten Strophe, in der ein Mann die Korallenohrringe seiner Liebsten besingt, musste sie an ihre Mutter denken, wie sie tot in ihrem Sarg gelegen hatte. Unwillkürlich drangen die Gedanken an die tote Mutter aus ihrem Mund und die Lieder änderten sich auf eine traurige Weise.
Die Wachen nahmen die Musik schmerzhaft wahr. Sie passte nicht zum heutigen Anlass, und berührte sie in einer Weise, die sie nicht kannten.
Der König rückte unbehaglich auf seinem Sitz hin und her. Er vermochte sein Schaudern nicht einzuordnen und fühlte sich hilflos, mit seinen Reitern und blitzenden Waffen, angesichts dieser drei jämmerlichen Gestalten. Das magere Mädchen, das vom satten Grün des Frühlings zu singen begonnen hatte, sang auf einmal von der Melancholie des Abschiednehmens, der Einsamkeit des Lebens als ewig Verfolgte und von ihrer toten Mutter im Sarg mit den Korallenohrringen.
Macarena hatte kaum zwei Strophen gesungen, als sie die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Sie brachten ihre Stimme zum Zittern. Doch sie sang unbeirrt weiter, während die Trauer in ihrer Stimme auf den ersten Wachtposten übergriff, der sich verstohlen über die Augen wischte. Er musste an seine eigene Mutter denken, die ebenfalls solche Ohrringe getragen hatte.
Vor dem inneren Auge des Königs tauchte das Bild seines toten Vaters auf, wie er ihm voller Vertrauen die Krone übergeben hatte, einen Tag, bevor er gestorben war. Macarenas Bruder griff in die Saiten, als gelte es, seine eigene Trauer zu verwandeln, in die Kraft, die die Gitarre hergab. Ihre Tante klatschte mit der jahrelangen Übung vieler Hochzeiten unbeirrt weiter, und schämte sich ihrer Tränen nicht.
Auch der Wächter musste an seine alten Eltern denken, die bei einer Feuersbrunst ums Leben gekommen waren, als die Sonne Sevillas die Strohdächer entzündet hatte. Er blickte zu Paco, der als Schutz vor der Sonne zusammengekrümmt unter dem Pfosten lag und spürte zum ersten Mal so etwas wie Mitleid mit dem Gefangenen.
Macarena sang um ihr Leben, obwohl ihr die Tränen wie Sturzbäche über die Wangen flossen. Die einfachen, aber klaren Worte bohrten eine unausweichliche Schneise in die Herzen der Zuhörer. Sie hatten nun alle Tränen in den Augen, da ihr Gesang jeden einzelnen an sein eigenes Leid und an das seiner Vorfahren erinnerte und alle Menschen in stummem Einverständnis verband. Wie das Echo von Macarenas Stimme spürte jeder die Einsamkeit, die Traurigkeit und die Furcht, von der sie sang, im eigenen Leib und in der Seele. Das Verstehen löste ein unendliches Mitgefühl aus, das um sich griff wie eine Epidemie.
Nachdem alle Tränen um die toten Eltern geweint waren, weinten die Hebammen um die toten Kinder, die Bauern um die toten Hühner, der Fleischer um die Tiere, denen er das Fell über die Ohren zog; die Marktfrau bedauerte die Vögel im Käfig, dem Schlachter taten die Kühe leid, und sogar der Torero wurde von unerklärlichem Mitleid ergriffen mit den Stieren, die er sonntäglich spießte.
Der König wollte aufspringen und diesen bedrohlichen Flamenco beenden, doch irgendetwas hielt ihn auf seinem Sitz zurück. Es war das Fühlen, das auf ihn selbst übergegriffen hatte, so überraschend, dass er dachte, er sei verrückt geworden.
Als Letztes ergriff es die Henker. Macarenas Gesang verlieh dem ganzen Heer an Toten, die ihr Beruf mit sich brachte, eine Stimme, und ein Henker nach dem anderen blickte mit tränennassen Augen auf den unglücklichen Paco.
Der Wunsch, ihm einen Wasserkrug zu reichen, wurde so stark, dass einige von ihnen zum Himmel blickten und beteten, er möge sich erbarmen und dem Unglücklichen eine Wasserflut schicken, die selbst der König nicht verhindern konnte.
Während sich der Gesang und das Klatschen verstärkte und zu einem bedrohlichen Crescendo anschwoll, begannen sich die Menschen rundherum weinend in die Arme zu fallen.
Einer nach dem anderen wischte sich die Tränen vom Gesicht, sie tropften auf den Boden, verdampften auf den heißen Steinen und der König blickte fassungslos auf sein weinendes Volk.
Mit Schaudern sah er, wie sich eine Wolke vor die Sonne schob, verdichtete und immer dunkler und dunkler wurde, bis sie sich mit einem gewaltigen Donnerschlag entleerte und auch der Himmel seine Schleusen öffnete und in einem gewaltigen Regenschauer weinte.
Da erhob sich der König, um Paco loszuketten.