Читать книгу Der zweite Blick - Bernadette Németh - Страница 9
Nur ein Bild
ОглавлениеDer Maler saß im Lichtkegel der Straßenlaterne und war so vertieft in seine Arbeit, dass er nichts um sich herum wahrzunehmen schien.
Mit weit ausholenden Handbewegungen pinselte er ein leuchtendrotes Feuerwerk auf die Leinwand, das aussah wie ein Funkenregen, und ab und zu strich er prüfend, fast zärtlich, über sein Bild, als wolle er testen, ob er die Farben auch dick genug aufgetragen hatte. Dabei blickte er kein einziges Mal auf.
Er bemerkte weder die vielen Leute, die einen andächtigen Halbkreis um ihn herum gebildet hatten, noch den kühlen Wind, der vom Hafen her wehte und immer wieder seine Plastikbecher umwarf, in denen er Pinsel, Farbtuben und allen möglichen Krimskrams aufbewahrte.
Immer wieder fand sich jemand, der ihn aufhob und ehrfürchtig wieder an seinen Platz zurückstellte, wenn der Becher zu weit weg gerollt war, und dann bedankte sich der Maler mit einem flüchtigen Kopfnicken.
Grace konnte sich noch genau an den Moment erinnern, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte.
Atemlos war sie an der Uferpromenade angekommen, die sie entlanggelaufen war, bis zu der kleinen Menschentraube, die sich um die dritte Straßenlaterne bildete. Sie konnte den Maler zuerst nicht sehen, schnappte nur ein paar Wortfetzen aus der Menschenmenge auf.
„Brillant“, raunte jemand. „Ungeheuerlich … Ein großer Künstler. Er hat oft Ausstellungen mit anderen zusammen, aber es gibt nur sehr wenige seinesgleichen …“
Energisch drängte sich Grace in die erste Reihe vor. Sie sah nicht besonders viel von ihm, denn er schien hinter seiner Leinwand zu verschwinden. Das fahle Licht der Straßenlaterne ließ seine kantigen Züge noch deutlicher hervortreten. Er war sehr schlank und hatte schulterlange, dunkle Locken, die ihm ständig ins Gesicht fielen.
Verstohlen sah sie sich um und suchte die Frauenporträts, von denen der Rezeptionist gesprochen hatte. Sie waren nirgends zu sehen. Einige Landschaftsbilder lehnten an der Laterne, ein Meer aus wilden Klecksen, aber keine Frauen. Grace vermutete, dass er später dazu übergehen würde. Vielleicht hatte er im Moment seinen Stil gewechselt, weil ihm keine Frau schön genug war. Das musste es sein.
Sie blickte an sich hinunter, betrachtete sich kritisch und fand, dass sie etwas zerzaust aussah. Um ihre Chance nicht zu riskieren, beschloss Grace, am nächsten Abend wiederzukommen, und stahl sich durch die Menschenmenge davon.
Grace war zum ersten Mal alleine in ein fremdes Land gereist.
Nur langsam verlor sie das Bedürfnis, sich immer wieder umzudrehen und wenn sie Paare sah, die Hand in Hand durch die engen Gassen schlenderten, fühlte sie sich beklemmend fehl am Platz. Doch ihre Unruhe wich, als sie merkte, dass sie unter den vielen Menschen gar nicht sonderlich auffiel. Dieses Gefühl war ihr vertraut und sie begann sich wohler zu fühlen.
Gleich am Tag ihrer Ankunft hatte sie sich mit dem Rezeptionisten des Hotels angefreundet. Er war ein junger Engländer mit feuerrotem Haar, der genau die Schüchternheit besaß, die sie in diesem Urlaub ablegen wollte. Er hatte ihr von dem berühmten Maler erzählt.
„Er ist ein ganz besonderer Maler. Weltberühmt.“ Er bedauerte, dass ihm der Name des Künstlers nicht einfiel. „Er verbringt jeden Sommer hier und malt an der Uferpromenade unter der dritten Laterne. Er ist berühmt für seine Frauenbilder. Wenn er eine besonders schöne Frau sieht, engagiert er sie vom Fleck weg und malt sie. Er malt aber nie, wenn man ihn danach fragt, sondern sucht sich seine Modelle immer selbst aus.“
Vorsichtig streiften seine Augen Graces Körper und sie merkte, dass er ihr gute Chancen anrechnete, solch ein Modell zu werden. Obwohl sie solche Blicke inzwischen gewohnt war, spürte sie einen geheimen Triumph, denn es war noch gar nicht so lange her, da war sie unauffällig gewesen, eine Blume, die im Verborgenen blühte, und sich nicht vorstellen konnte, dass sich jemals ein Mann in sie verlieben könnte. Doch vom ersten Tag an, den Grace auf der Insel verbrachte, war sie überzeugt, dass der Maler anders war als alle Männer, die sie bis jetzt kennengelernt hatte. Sie wusste, dass sie füreinander bestimmt waren und dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er aus seiner Zerstreutheit erwachen und sie erkennen würde.
Grace machte sich jeden Abend besonders hübsch. Zu den knirschenden Klängen aus ihrem altersschwachen Radio versenkte sie das Bad in einer dampfenden Sturzflut, bis die Zimmernachbarn wütend an ihre Tür hämmerten und schrien, sie würden sie wegen Ruhestörung anzeigen, dies sei ein gesittetes Haus. Nach dem Baden verbrachte sie eine weitere Stunde damit, sich zu überlegen, was sie anziehen solle, cremte sorgfältig ihre Problemzonen ein und legte ihre langweilig glatten Haare in aufwändige Locken, die der Meereswind in Minuten zunichtemachte.
In Gedanken malte sie sich aus, wie der Maler im richtigen Moment zu ihr aufblicken würde, überrascht, als hätte er sie zum ersten Mal gesehen, und dann würde er sie anlächeln und zum Abendessen einladen.
Nach einem romantischen Dinner bei Kerzenlicht würden sie Hand in Hand über den Hafen spazieren, wo die Yachten der Reichen und Schönen ankerten, die sie nicht brauchten, denn schön waren sie selbst und reich würden sie noch werden.
Vielleicht würde er direkt an der Uferpromenade ein Bild von ihr malen, wo der Wind über die Yachten rollte, sich am Bordstein brach, an die alten Hausfassaden schmiegte und kühl durch die Fasern ihres Sommerkleides strich. Vielleicht hätte er aber auch einen Akt im Sinn, dies stellte sich Grace als Krönung vor.
Dann würde er sie in sein Atelier einladen, in einem sonnendurchfluteten Dachgeschoß wie in den alten Filmen, und sie würde die schmale Treppe vor ihm hinauf schreiten wie eine Himmelsleiter, und im Atelier würde er sie bitten, sich aufs Sofa zu drapieren, damit er die Beleuchtung und das ganze Drum und Dran einstellen konnte, und Grace würde vor ihm stehen bleiben, ihm in die Augen sehen und ihr Kleid von den Schultern gleiten lassen.
Als der Maler nach einer Woche noch immer nicht zurücklächelte, wurde Grace nervös.
Sie schlug sämtliche Verabredungen aus, die ihr angeboten wurden, denn sie wollte auf keinen Fall die Gelegenheit verpassen und zusehen müssen, wie der Maler eine andere wählte.
Sie passte ihre Aktivitäten der Färbung des Abendlichtes an, dem Windgang, und konnte in der Nacht nicht mehr schlafen, da die flüssige Schokolade seiner Augen eine unaufhaltsame Schneise in ihre Gedanken bohrte, obwohl sie zugeben musste, dass sie sie noch nie gesehen hatte, weil ihm immer wieder die Haare ins Gesicht fielen.
Sie hatte jetzt nicht mehr viel Zeit, um seine Aufmerksamkeit zu erringen. Mit aller Kraft verdrängte sie den Gedanken, der wie ein Damoklesschwert bedrohlich über ihrem Kopf hing, dass sie möglicherweise schlicht und einfach nicht schön genug für ihn war.
Bei einem ihrer einsamen Abendessen winkte sie mit einem flüchtigen Lächeln den Kellner herbei, der sofort zur Stelle war, um der attraktiven Señorita, die immer alleine war, die gewünschten Sätze auf eine Serviette zu kritzeln.
„Sind Sie später noch an der Bar?“, fragte er hoffnungsvoll.
Sein bewundernder Blick prallte an ihr ab wie Geschosse an einer kugelsicheren Weste.
„Ich bin schon verabredet“, sagte sie mit eisigem Blick und verließ den Raum.
Der Kellner blickte ihr mit unverhohlener Bewunderung hinterher und dachte kopfschüttelnd, welche Pfundskerle diese Touristinnen heutzutage doch seien, die ganz alleine verreisten, um sich dann jeden Abend hemmungslos mit einem anderen Mann zu amüsieren.
Graces Herz klopfte bis zu den Schläfen, als sie zur dritten Straßenlaterne kam. Sie war fest entschlossen, heute Abend dem Spiel ein Ende zu bereiten. Immerhin gab es noch die Möglichkeit, dass es gar nicht stimmte, was man sich über den geheimnisvollen Maler erzählte; vielleicht suchte er sich seine Modelle gar nicht selbst aus, sondern war einfach nur schüchtern, und wartete nur auf eine Frau, die selbstbewusst genug war, ihn anzusprechen.
Mit zitterndem Herzen verfolgte sie seine Bewegungen, bis der letzte Schaulustige gegangen war und als er innehielt, um seine Pinsel auszuwaschen, packte sie den Stier bei den Hörnern.
Entschlossen ging sie zwei Schritte auf ihn zu und spürte, wie die Umgebung aus ihrem Bewusstsein versank.
Sie grüßte heiser, wunderte sich über den Klang ihrer Stimme, und fragte ihn, ob er sie malen wolle.
Der Maler zögerte sekundenlang. Dann blickte er langsam auf. Wie immer machte er sich nicht die Mühe, seine Haare aus dem Gesicht zu streichen.
Stattdessen wandte er sich schnell wieder ab und erwiderte einen knappen Gruß.
Graces Selbstbewusstsein zerbrach in tausend Scherben.
‚Er ist unhöflich‘, dachte sie. ‚Er mag mich nicht. Er wird mich nie mögen. Er sieht in mir nur das hässliche, dicke Mädchen mit dem nie jemand tanzen wollte.‘
Verzweiflung machte sich in ihr breit, stieg auf und verwandelte sich in blinde Wut. Sie spürte eine unbändige Lust, mit den Füßen auf sein Bild zu trampeln und die Farben bis zur Unkenntlichkeit zu verschmieren.
Da räusperte sich der Maler.
„Ich male keine Menschen“, sagte er und Grace vollendete den Satz in Gedanken‚ … die nicht schön genug sind‘, und fühlte sich wie damals in der Tanzschule, wo sie immer wieder vergeblich die Hand ausgestreckt hatte, wie Tantalos in der griechischen Mythologie, dem immer wieder das Wasser vor der Nase weggezogen wird, bis er qualvoll verdurstet.
„Ich bin ein spezieller Maler“, sagte er, noch immer ohne aufzublicken, und Grace schrie in Gedanken, er solle nicht so eingebildet sein, schließlich hätte sie seine Besonderheit zwei Wochen lang bewundert, und wofür, wenn er am Ende nicht einmal fähig war, sie anzusehen.
Langsam schüttelte er das Wasser aus seinem Pinsel und wandte Grace endlich das Gesicht zu.
Sie erschrak, weil in seinen Augen jeglicher Ausdruck fehlte.
„Ich male keine Menschen“, sagte der Maler bedächtig. „Ich kann nur Landschaften malen oder Gefühle, Bilder, die in meinem Gedächtnis gespeichert sind. Ich habe gelernt die Konsistenz von Farben zu ertasten, wie die Konsistenz der Gefühle. Rot fühlt sich anders an als blau. Ich male Stimmungen, Gedanken oder Dinge, an deren Aussehen ich mich erinnern kann. Wenn Sie den Frauenmaler suchen, sind Sie bei mir falsch. Der sitzt eine Laterne weiter drüben. Ich bin ein besonderer Maler. Ich bin blind.“