Читать книгу Der zweite Blick - Bernadette Németh - Страница 8
Der Sprung
ОглавлениеDas Sprungbrett zitterte kaum merklich, als Axel sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte. Seine Zehen ragten ein wenig über die Vorderkante des Brettes hinaus.
Das Wasser des Schwimmbeckens glänzte wie ein silberner Spiegel zehn Meter unter ihm. Langsam ging er zwei Schritte zurück, stand einen Moment lang still und schloss die Augen. Dann holte er mit zwei Sprüngen Schwung und kugelte sich in der Luft zusammen, bevor er sich mit ausgebreiteten Armen ins Nichts fallen ließ.
Sein Trainer klopfte ihm anerkennend auf die Schulter, als Axel aus dem Wasser stieg. Er sah zu Boden, wo die Wassertropfen einen dunklen Ring auf dem erhitzten Asphalt bildeten. „Gut gemacht“, sagte der Trainer. „Du bist fit für den Wettkampf am Sonntag. Du kannst locker gewinnen. Enttäusch mich nicht.“
Axel blickte ihm lange nach. Als seine Schultern zu schmerzen begannen, merkte er, dass er sie vor Kälte hochgezogen hatte und noch immer am selben Fleck stand. Bibbernd schaute er zum Sprungturm hinüber. Er war sehr hoch. Von hier unten machte er ihm immer noch Angst. Es hatte Jahre gedauert, bis er die Sprungkombination mit dreifachem Salto und Schraube aus dieser Höhe zeigen konnte.
Er konnte sich noch an seinen ersten Bauchfleck erinnern. Damals hatte er geglaubt, es habe ihm sämtliche Organe zerrissen. Sein Trainer hatte getobt. Danach hatte Axel lange Zeit in der Halle geübt, auf einem Trampolin, an einem Seil um die Mitte, das ihn festhielt. Doch er war wieder von oben gesprungen, noch bevor er sich getraut hatte. Vor jedem Sprung nahm er seine Angst, zerknüllte sie wie ein Blatt Zeitungspapier und steckte sie in seine Badehose.
In der Zeit, in der er trainiert hatte, waren seine Freunde abends ausgegangen, hatten sich ihr Bier und die hübschesten Mädchen geteilt und ihre ersten Mopeds frisiert.
Axel war jeden Morgen um fünf Uhr aufgestanden, um schon vor der Schule eine Stunde zu springen. An den Abenden fiel er halbtot ins Bett. Er kannte keine einzige Fernsehserie und hatte keine Zeit für eine Freundin. Er wollte nur springen.
Axel wusste, dass er springen musste – seit dem Tag, an dem sein Bruder durch seine Schuld in den Tod gesprungen war. Immer, wenn er nicht trainierte, musste er an das graue Hochhaus in Ostdeutschland denken, dessen Fenster seinen Bruder ausgespuckt hatte wie einen unliebsamen Bissen Brot; seinen Bruder Christian, von dem er sich gewünscht hatte, er wäre niemals auf die Welt gekommen und der ihm den Platz weggenommen hatte, den er so oft heimlich beneidet hatte und auf den er immer aufpassen musste, anstatt zu spielen, wenn seine Mutter in der Fabrik war. Dann wurde dieser Wunsch plötzlich wahr. Er wusste, dass er nicht schuld gewesen war an jenem Nachmittag, er war in ein Spiel versunken und hatte nicht bemerkt, dass Christian aufs offene Fenster geklettert war, es war sein Recht gewesen zu spielen, aber die Schuld ließ ihn nie wieder los, wie ein Raubvogel, der ein Kaninchen am Nackenfell gepackt hat und nicht mehr loslässt. Er erinnerte sich an die schreiende Mutter, jahrelang konnte er nicht an der Stelle des Gehsteigs vorbeigehen wo sein Bruder den dunklen Fleck hinterlassen hatte, der sich monatelang nicht entfernen ließ.
Seit damals sprang Axel, um seine Schuld wieder gutzumachen, als würde jede Sekunde Todesangst die seines Bruders aufwiegen, aber nur zu einem kleinen Teil, niemals vollständig, schließlich hatte er das rettende Wasserbecken unter sich, während Christian ohne Chance dem tödlichen Beton entgegengesprungen war.
Seiner ersten Freundin konnte er nie verzeihen, dass ihr der tote Bruder, über den er niemals sprach, auf dem Foto nicht aufgefallen war. Axel stand dort mit seinen Eltern, zwischen ihnen Christian, ungeschickt auf der Außenkante seiner Füße balancierend, weil er zu seinem großen Bruder aufsah, den er bewunderte, und Kati sagte, was für ein schönes Foto, und stellte es ins Regal zurück, um Axel zu küssen. Damals markierte er in Gedanken den ersten Minuspunkt ihrer Beziehung.
In der Nacht vor dem Wettkampf wachte Axel schweißgebadet auf. Er hatte geträumt, er sei in ein Becken gesprungen, das voller Blut war. Es war bis auf die Straße gespritzt, und als er unter der Dusche gestanden hatte, hatte er es nicht abwaschen können, es hatte an ihm geklebt wie ein unübersehbarer Makel.
Mit klopfendem Herzen lag er unter der Decke, bis die vertraute Umgebung nach und nach den Schrecken des Traumbildes verdrängte, und wünschte sich, Kati wäre noch hier. Oft war es ihm auf die Nerven gegangen, wenn sie sich nach dem Aufwachen an ihn schmiegte wie an einen haltgebenden Gegenstand, denn er konnte den Halt nicht geben, den er selber brauchte, es hatte ihm die Luft zum Atmen genommen, er wusste nie, wohin mit seinen Händen, und wenn sie zu lange so lag, erregte ihn ihr schlafwarmer Körper, obwohl er keine Zeit hatte für Zärtlichkeiten.
Langsam setzte er sich auf, sein Rücken schmerzte. Es war ihm egal, er hatte sich geschworen, er würde springen, und sei es mit einem gebrochenen Fuß, er durfte seinen Trainer nicht enttäuschen, nicht auch noch ihn, nachdem er schon alle wichtigen Menschen in seinem Leben enttäuscht hatte.
Axel erschien zu spät in der Schwimmhalle. Er war in den falschen Bus eingestiegen. Jahrelang war er hierher zum Training gefahren, und ausgerechnet heute hatte er es geschafft in den falschen Bus zu steigen. Er fühlte sich wie in der Schule, auch dort war er immer zu spät gekommen, obwohl er nichts dafür konnte, und niemand hatte ihm geglaubt und er wurde immer bestraft. Wenn er morgens aus dem Wasser gestiegen war, hatte er zugesehen, wie die Zeiger der Uhr vorrückten, er hatte immer ganz genau gewusst, wenn er jetzt noch zehn Minuten sitzen blieb, würden ihm genau diese zehn Minuten auf seinem Schulweg fehlen, und trotzdem blieb er zehn Minuten zu lange sitzen, als wollte er sich mit der Strafe des Lehrers selbst bestrafen, jeden Tag aufs Neue.
„Wir machen manchmal Dinge, die wir uns selbst nicht erklären können“, hatte der Trainer zu ihm gesagt. „Es ist, als würde unser Ich auf einer Bühne stehen – und wir schauen einfach nur zu. Wir sind wie ein Marionettenspieler, der vor dem Spiegel steht, die Puppen tanzen sieht – und wollen nicht sehen, dass es unsere eigenen Hände sind, die sie bewegen.“
Axel hatte ihm nicht ganz geglaubt. „Es ist doch immer meine Entscheidung, was ich mache“, hatte er gesagt.
„Das wäre schön“, hatte der Trainer gesagt und wieder hatte Axel Angst gehabt, ihn zu enttäuschen; das Gefühl, eine Last zu tragen, die er nicht verdient hatte, aber vielleicht war das der Preis dafür, dass er leben durfte, während sein Bruder tot war – für immer.
Er ging auf die Galerie hinauf, wo er die Zuschauer nicht sah, machte seine Kniebeugen, um sich aufzuwärmen, im Augenwinkel die anderen Kandidaten, die alle schwächer waren als er. Er wusste, dass er locker gewinnen konnte, trotzdem war er nicht ganz bei der Sache. Er musste immer an den Marionettenspieler denken, während der Zeiger der großen Uhr bedrohlich weiterrückte.
Als er auf der Startbank saß, brach ihm der kalte Schweiß aus. Der Trainer klopfte ihm auf die Schulter. „Enttäusch mich nicht“, sagte er drohend.
Durch den knirschenden Lautsprecher hörte Axel seinen Namen.
Er ging zu den Stufen, wie durch zähen Brei, der ihn vom Beifall und den Rufen des Publikums abschirmte. Als er oben angekommen war, blickte er zu den erwartungsvollen Gesichtern hinunter. Seine Eingeweide flatterten vor Angst.
Dann drehte er sich um und stieg die Stufen, eine nach der anderen, wieder hinunter.
Er hatte nur noch Angst vor seinem Mut.