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Keine besondere Einstiegserfahrung
ОглавлениеIn der Gattung der Lebensbeschreibungen heiliger Mönche steht dagegen meistens am Anfang eine jähe, schlagartige Berufungserfahrung. So wurden die großen religiösen Berufungen, die in der Welt nachhaltige Bewegungen und Bewusstseinsverlagerungen auslösten, weithin in irgendeiner Form als eindrucksvolle „Gotteserfahrungen“ beschrieben. Antonius den Großen, den späteren Wüstenvater (251/252–356), und den Ordensgründer Franz von Assisi (1181/82–1226) zum Beispiel traf in der Kirche der Spruch Christi ins Herz: „Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben. Dann komm und folge mir nach!“ (Mt 19,21), und sie taten das buchstäblich.
Es ist bemerkenswert, dass von Benedikt keine derartige Erfahrung berichtet wird. Die Überlegungen, die den jungen, gut situierten Studenten dazu bringen, sein Studium abzubrechen und Rom zu verlassen, sind zunächst einmal eher „profaner“ Natur. Es heißt, er hätte in Rom – als Sohn wohlhabender Eltern – durchaus vorübergehend die sinnlichen Genüsse genießen können, doch habe er in seiner Studienzeit viele in die Abgründe von Lastern stürzen sehen und deshalb seinen Fuß, den er sozusagen gerade erst in die Welt gesetzt hatte, wieder zurückgezogen. Er wollte sich nämlich nicht von deren Kenntnis anstecken lassen und dann schließlich ebenfalls ganz in den bodenlosen Abgrund stürzen.
Die Welt kam ihm blutlos, also wie eine „verdorrte Blume“ vor, der Wissenschaftsbetrieb hohl und verhängnisvoll. Aus diesem Grund ging er auf radikalen Abstand dazu (wofür noch einmal der Begriff despicere verwendet wird): Das sind zunächst seine grundlegenden Motive – also derart allgemeine Beweggründe, wie sie auch ein nicht besonders religiös veranlagter Mensch nachvollziehen kann. Es ist die Sehnsucht nach etwas, „das mehr als das alles“ ist. Dieses „mehr als das alles“ benennt Gregor schließlich religiös: Benedikt habe „begehrt, einzig Gott zu gefallen“ (soli Deo placere desiderans).
Wenn diese Sehnsucht vehement im Menschen aufbricht, ist er imstande, vieles Bisherige aufzugeben und auf die Suche zu gehen. Das war bei Benedikt der Fall, und so zog sich der junge Student eines Tages wissend ins Nichtwissen und weise ins Ungelehrtsein zurück (recessit igitur scienter nescius et sapienter indoctus).