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Frühe Altersweisheit
ОглавлениеDa heißt es gleich am Anfang, unser Held habe von Kindheit an das Herz eines weisen Alten gehabt (ab ipso pueritiae suae tempore cor gerens senile). Gemeint ist mit dem „Herz eines weisen Alten“die frühe Weisheit dieses Kindes. Einer solchen kann man ja bei kleinen Kindern tatsächlich immer wieder verblüfft begegnen, jedenfalls in Form des kurzen Aufblitzens von Fragen oder Aussagen über Gott und die Welt, über die man sich nur wundern kann; zuweilen nennt man solche Kinder ja dann auch „altklug“.
Gregor war geprägt vom antiken Ideal des weisen alten Mannes, des „Greises“ (senex), und schrieb Benedikt die frühreife Weisheit einer solchen Persönlichkeit zu.
Mit diesem Paradox, in der Jugend bereits über Züge einer Altersweisheit zu verfügen oder fähig sein zu müssen, solche anzunehmen, bekommt jeder zu tun, der jung in den Mönchsstand eintritt. Denn die Wertvorstellungen und Lebensrhythmen im Kloster sind im Wesentlichen diejenigen älterer, abgeklärter Menschen; für junge Menschen sind sie nicht unbedingt sofort sinnvoll und fruchtbar. Eine heutige Psychologie der Lebensalter und deren stufenweise Entwicklung führt das deutlich vor Augen. Sie zeigt, wie sich im Lauf eines Menschenlebens die Sensibilitäten, Wertvorstellungen und Interessenschwerpunkte immer wieder deutlich verlagern.
In manchen spirituellen Traditionen wusste man schon lange ziemlich deutlich darum. So gibt es zum Beispiel im Hinduismus eine alte Lehre von vier Lebensphasen des Menschen: Er durchlaufe nacheinander die Stadien des Schülers, des Haushalters, des Waldeinsiedlers und des Bettelmönchs: Der Jugendliche ist zunächst ein Lernender und wird als junger Erwachsener immer mehr zum aktiven Gestalter seiner Welt; ab der Lebensmitte setzt ein besinnlicher, kontemplativer Zug ein, wofür der „Waldeinsiedler“ steht, und am Ende darf er sich als „Bettelmönch“ verstehen, der alles loslassen kann und mit Recht erwarten darf, von seinen Mitmenschen das Notwendige zu erhalten.
Wo eine Gesellschaft sich auf diese vier Rollen der einzelnen Lebensstadien einigen könnte, hätten die Menschen auf allen Altersstufen ihre anerkannte Identität. Sie müssten zum Beispiel nicht krampfhaft versuchen, möglichst lange „jung“ zu bleiben, also auf Lebenszeit autarke „Haushalter“ zu bleiben. In Indien gelang dies vielleicht irgendwann einmal ganz gut; die „Bettelmönche“ galten als anerkannter Stand; wenn man ihnen ein Almosen gab, so glaubte man, verbessere man sein eigenes Karma.
Für unseren Zusammenhang hier ist interessant, dass die Geschichte Benedikts genau in der Gegenrichtung dieses Lebensentwurfs verläuft. Wie wir sehen werden, fängt er als „Bettelmönch“ und „Waldeinsiedler“ an, wird schließlich „Haushalter“ einer großen Mönchsfamilie und stirbt am Ende aufrecht stehend.
Es ist hier nicht der Raum und auch nicht notwendig, weiter auszuführen, wie kontraproduktiv und gefährlich es sein kann, wenn junge Menschen, die in ihrem Leben noch gar nichts angepackt und aufgebaut haben, „alles verlassen“, um „Bettelmönch“ zu werden und eine Spiritualität des abgeklärten Alters zu pflegen. Oft holen sie die übersprungene Lebensphase später nach und geraten aus der Bahn eines kontinuierlichen Reiferwerdens.
Andererseits weist die Lebensweise und Spiritualität im Kloster schon früh im Leben in die Kunst ein, mit den Bedingungen fruchtbar umzugehen, in die man im Alter unvermeidlich gerät: dass man einsamer und es stiller um einen wird; dass das aktive Element zunehmend dem kontemplativen Platz machen sollte; dass die „Abgeschiedenheit von der Welt“ zunimmt. Glücklich, wer früh die Strategien und Künste gelernt hat, damit umzugehen.
Aber bei den folgenden Überlegungen und Anregungen geht es ja nicht um den Eintritt ins Kloster, sondern um jenen Abschnitt im Leben, an dem man anfängt, zum üblichen Treiben in der Welt auf einigen kritischen Abstand zu gehen und sich für einen einfacheren Lebensstil und eine tiefgründigere Orientierung zu interessieren. Normalerweise wird man dafür eine gewisse Reife, Erfahrung und Bewährung im praktischen Leben brauchen. Man wird auch nicht unbedingt eine jähe „Bekehrung“ erfahren, sondern die innere Distanz zu vielen, allgemein üblichen Wertvorstellungen wird ganz allmählich größer werden.