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Verstand und Vernunft

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Zu den beiden Fähigkeiten – Verstand und Vernunft – führt uns ein einfaches Beispiel: Wenn eine Spitzmaus hungrig ist, irgendwo an einem Flussufer entlangläuft, am gegenüberliegenden Ufer einen Busch sieht und den Befehl „ihres“ Frosches zum Fressen bekommt, wird sie handeln. Sie wird riskieren und springen, außer sie war schon in dieser Situation oder konnte irgendwann einen Artgenossen dabei beobachten, dem dieses Verhalten nicht gut bekommen ist. Wenn sie noch keinen roten oder grünen Ordner hat, also keine positive oder negative Erinnerung, die genau zu dieser Situation passt, wird sie das Risiko wagen und anwesende Artgenossen werden zusehen und lernen. Sie wird die Folgen ihrer Handlungen nicht vorhersagen können. Die Spitzmauslogik des „Beobachtenmüssens“, haben wir bereits an anderer Stelle erläutert. Diese Strategie funktioniert allerdings nur bei einer ausreichenden Anzahl an Nachkommen. Bei maximal fünfzehn bis zwanzig möglichen Kindern im Leben einer Frau ist das Prinzip des „Ausprobierens und Beobachtens der Konsequenzen“ langfristig nicht erfolgreich. Bei einer so geringen Anzahl an Nachkommen gilt es, das Leben jedes Einzelnen zu schützen.

Die Fähigkeit, zuerst darüber nachzudenken, ob uns eine bestimmte Sache auf eine bestimmte Weise gelingen könnte, ist die Fähigkeit, eine Theorie bereits in der Theorie sterben lassen zu können, ohne die Verhaltensweise tatsächlich auszuprobieren. Zusätzlich können wir uns eine alternative Lösung überlegen und auf unsere Erfahrungen zurückgreifen: rationales Planen und Denken. Es ist unsere Fähigkeit zum logischen Denken, unser Verstand, mit dem wir einen abgelegten Ordner öffnen und uns etwas bewusst in Erinnerung rufen und nutzen können. Wir sind dadurch in der Lage, unser Wissen neu zu kombinieren, um damit neue Lösungen für bestehende Probleme zu finden. Fluide Intelligenz nennen wir daher den Verstand in den Neurowissenschaften. Wir sind kreativ und können, wann immer wir wollen, weitere Optionen erfinden und durchdenken. Die Spitzmausmutter, die das unangenehme Erlebnis an einer bestimmten Waldlichtung mit dem Luchs hatte – Sie erinnern sich –, wird sich an dieses Ereignis nur beim Anblick dieser oder sehr ähnlicher Situationen erinnern. Sie würde sofort Angst bekommen und flüchten. Die Nutzbarkeit des Spitzmaus-Gedächtnisses ist kontextabhängig.

Durch Vernunft können wir unsere Erfahrungen auf eine weitere Weise nutzen: Wir können die Konsequenzen der Verhaltensvorschläge von Frosch und Spitzmaus reflektieren und eventuell zum Schluss kommen, dass der Impuls des Frosches langfristig nachteilig für uns wäre. Das gelingt dem Controller durch Verzögerung oder Unterdrückung der bereits unterbewusst vorbereiteten Handlungen. Kognitive Kontrolle nennen es Psychologen. Sich sprichwörtlich „im Griff zu haben“, war offensichtlich schon bei unseren Vorfahren kein Nachteil. Durch unsere Vernunft sind wir auch in der Lage, wesentlich länger ein Ziel motiviert zu verfolgen. Die Aufrechterhaltung unserer Motivation ist durch die Logik unseres Spitzmausgehirns davon abhängig, eine direkte Rückmeldung zum Fortschritt unserer Anstrengungen zu erkennen. Nun ermöglicht uns das bewusste Aufschieben der unterbewussten Handlungsimpulse, dass wir wesentlich länger zu motivieren sind und auch langfristige Ziele anstreben und erreichen können. Wir werden aber sehen, dass genau darin der evolutive Rückschritt in der digitalisierten und fragmentierten Arbeitswelt zu finden ist: Unsere Vernunft ist durch Stress, chronisches Multitasking, ständige Unterbrechungen und Ablenkungen stark beeinträchtigt. Die vernünftige Reflexion eines Problems ist so nur mehr eingeschränkt möglich. Wir werden quasi in die Entwicklungsstufe, in der ausschließlich die direkte emotionale Reaktion auf ein Ereignis folgte, zurückgeworfen.

Dazu noch eine wichtige Betrachtung zum Zusammenhang von unterbewusster Emotion, bewusstem Gefühl und unseren körperlichen Reaktionen: Unsere Grundbedürfnisse haben wir als jahrmillionenalte Frosch- und Spitzmausprogramme kennengelernt: Nahrungs- und Sexualtrieb, Aggression, Bindungs-, Sicherheits- und Neugiertrieb. In der Kombination dieser grundlegenden Programme ergeben sich im Alltag zumindest sieben unterschiedliche Gefühlszustände oder Affekte, die unsere Entscheidungen leiten und die man uns sprichwörtlich ansehen kann: Fröhlichkeit, Wut, Ekel, Furcht, Verachtung, Traurigkeit und Überraschung. Es sind emotionale Ausdrucksformen, die übrigens kulturübergreifend bei allen Menschen auf gleiche Weise ausgedrückt und verstanden werden. Sie sind genetisch vererbt und nicht sozial oder kulturell erlernt und gehören damit zu unserer Grundausstattung. Unsere Gefühlszustände haben neben dem Gesichtsausdruck auch eine direkte körperliche Auswirkung: Das Herz rast, der Magen schmerzt, die Verdauung spielt verrückt, der Kopf wird rot und die Hände zittern. Es sind Vorbereitungsreaktionen auf Angriff oder Flucht. Unser Controller kann diese Reaktionen nur sehr schwer kontrollieren, auch wenn es vor einem möglichen Kampf Sinn machen würde, dem Gegner nicht gleich die eigene Angst zu zeigen. In so einer Situation mittels Selbstkontrolle so zu tun, als ob man cool und entspannt wäre, ist eine häufig zu beobachtende Verhaltensweise bei Rudelkämpfen oder schwierigen Verhandlungen. Oder beim Pokern.

Durch Angst und akuten Stress reduziert sich unser Speichelfluss, der Mund wird trocken. Einem Kontrahenten einfach vor die Füße zu spucken, könnte daher „beeindruckend“ wirken, auch wenn das Herz rast. Damit wird signalisiert, dass man noch genügend Speichel zur Verfügung hat und einen die Situation daher überhaupt nicht stresst. Es ist eines unserer uralten Verhaltensprogramme. Das gilt selbstverständlich nur für den archaischen Rivalenkampf in der Savanne und für Teenager. Bitte probieren Sie es nicht im nächsten Mitarbeitergespräch aus! Es könnte im Büro, bedingt durch unsere sozialen Normen und Ritualisierungen, leicht falsch verstanden werden. Je stärker der Affekt, desto stärker die körperliche Reaktion und die damit verbundene subjektive Stresswahrnehmung. Und auch umgekehrt: Je geringer die körperliche Reaktion, desto schwächer ist die subjektive Wahrnehmung! Jeder, der durch körperliche Aktivität die Nebenwirkungen seiner Wut erfolgreich bekämpft hat, kennt den Zusammenhang: Werden Stresshormone durch Bewegung abgebaut, beruhigen sich Körper und Geist. Froschgehirn, Spitzmausgehirn und Körper bilden eine Einheit und sind in ihrer Funktionsweise untrennbar miteinander verbunden.

Wir haben bereits festgestellt: Den aktuellen Gefühlszustand aller anderen Herdenmitglieder „lesen“ und damit mögliche Konsequenzen vorhersagen zu können, war eine wesentliche Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben in hierarchisch strukturierten Gemeinschaften.

Besser fix als fertig

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