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SPITZMAUS, GEDÄCHTNIS, EMOTION UND MOTIVATION
ОглавлениеIn einem nächsten großen Entwicklungsschritt, vor rund 150 Millionen Jahren (für die Streber unter den Lesern: Trias, Jura, Kreide, die Zeit der tagaktiven Saurier), schafften es kleine, komplex gebaute Organismen, die Nacht als sichere biologische Nische zu nutzen. Die Entwicklung der ersten primitiven Säugetiere (anthropologischen Funden nach optisch vergleichbar mit heute lebenden Spitzmäusen) wurde durch die Entwicklung eines Stoffwechsels ermöglicht, der sie von der Wärme des Sonnenlichts unabhängig machte. Ein begleitendes Phänomen der Säugetierentwicklung war, dass Massenvermehrung aus unterschiedlichen Gründen unmöglich wurde. Zu komplex wurde vor allem der aufwendige Stoffwechsel zur Aufrechterhaltung der Körperkerntemperatur. Die Reproduktionsrate musste deshalb also auf rund zehn bis zwanzig Nachkommen pro Wurf reduziert werden.
Das seit über hundert Millionen Jahren erfolgreich angewandte Verhaltensprogramm des „Froschgehirns“, das bewirkte, dass Weibchen zwei Minuten nach dem Ablaichen alles vergessen hatten, war nun für die ersten Säugetiere kein geeignetes Überlebensprogramm mehr. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass zwanzig Nachkommen nur durch puren Zufall überleben, war gleich null. Wir stammen also nun von jener Spezies ab, die ein völlig neues Verhaltensprogramm entwickeln musste, um dem Spiel mit dem Zufall, nicht gefressen zu werden, zu entkommen.
Den Teil der Hardware und Software, den diese primitiven Säugetiere durch Selektionsprozesse neu entwickelt haben, nennen wir heute vereinfacht „das limbische System“. Es gilt gemeinhin als Sitz unserer Emotionen. Für die ersten Säugetiere, die sich zum Schutz vor Feinden in kleinen Herden organisieren mussten, scheint es ein grundlegender Vorteil gewesen zu sein, die momentanen Befindlichkeiten der anderen einschätzen zu können. Wenn ich nicht rechtzeitig bemerke, dass es gleich Ärger geben könnte, wird das Leben gefährlich Privat wie beruflich, Sie wissen was ich meine. Durch diese Fähigkeit wurde der Aggressionstrieb, der ein enges Zusammenleben unmöglich gemacht hätte, kontrollierbar. Das eigene Verhalten und das anderer – mit den entsprechenden körperlichen Reaktionen – „spüren“ (und damit auch vorhersagen) zu können, ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor der sozialen Entwicklung zum Menschen. Wir sollten uns überlegen, welche Verhaltensweisen „programmiert“ werden mussten, damit eine Spitzmausmutter sich so lange fürsorglich um ihren Nachwuchs kümmert, bis dieser überlebensfähig ist. Um das beantworten zu können, müssen wir die Logik der „Spitzmaus-Programmierung“ verstehen: Es wird emotional!
In der Evolution der Organismen war als Grundvoraussetzung sozialen Verhaltens ein Quantensprung notwendig, damit Beziehungen zwischen Artgenossen möglich wurden: die Entwicklung der Erinnerungsfähigkeit. Ohne Gedächtnis und (das damit verbundene) komplexe Lernen könnten wir uns schlicht nicht merken, wer Freund und wer Feind ist, wer sich für uns eingesetzt und wer uns ausgenützt hat. Nicht mehr der körperlich Stärkste, sondern der starke und sozial Geschickte bekommt langfristig Rang und Privilegien durch die Aufmerksamkeit und den Respekt der anderen.
Diese Grundlogik unserer Festplatte mit dem installierten Datei-Explorer ist eine genauere Betrachtung wert: Alle Informationen, die nicht von den Sinnesorganen als den primären Filtern ausgeblendet werden, werden in dieser Gedächtnisstruktur neu angelegt. Das Spannende am Datei-Explorer des limbischen Systems ist, dass unser Spitzmausgehirn keinen Ordner „neutral“, also emotionslos, anlegen kann, sondern diesen beim Neuanlegen emotional einfärben muss. Bildlich können wir uns das so vorstellen, dass die Farbe Dunkelgrün für hoch emotional positive Erlebnisse und die Farbe Dunkelrot (am anderen Ende der Farbskala) für traumatisch negative Erlebnisse verwendet wird. Dazwischen liegen alle anderen Farbschattierungen, die für weniger stark erlebte emotionale Ereignisse verwendet werden. Aus dieser Logik der emotional bewerteten Erlebnisse folgt konsequenterweise, dass unsere Erinnerungen an bestimmte Ereignisse entscheiden, ob wir uns zukünftig davor fürchten, uns auf etwas freuen können, motiviert oder demotiviert sind. Die Zeit, in der uns etwas völlig egal sein konnte, ist nun vorbei. Die Emotion, die beim Erinnern (also beim Öffnen eines Ordners) entsteht, entspricht demnach der Farbe des Ordners. Wir werden an anderer Stelle noch genauer beleuchten, dass beim Öffnen eines Ordners der Farbton durch die momentane Emotionslage zum Zeitpunkt des Erinnerns verändert wird. Wenn wir traumatische Erlebnisse ausnehmen, sehen wir, dass unsere Erinnerungen sehr variabel sind.
Diese Erinnerungsfähigkeit voraussetzend, können wir nun das Sozialverhalten der ersten Spitzmäuse als die Konsequenz dreier Motive (dreier neuer Systemprogramme) verstehen, die wir auch als Updateversion 1 des Froschgehirns, das dabei weiterhin aktiv bleibt, verstehen könnten: