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ZWEITES KAPITEL
DIE ELTERN UND DIE »DEUTSCHE HEIMSCHULE«

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GEBURTSORT CAMMIN UND DIE ANFÄNGE EINER PERSON.

DIE ELTERN, ABER KEIN LOB DES HERKOMMENS

Die Anfänge der Person Uwe Johnsons liegen mehr im dunkeln als die Anfänge seines Geschlechts. Das hat er selbst so gewollt. Distanzierung erscheint als Programm. Es gibt bei ihm kein Gottfried Kellersches Lob des Herkommens, auch keinen Fontanisch ausgeglichenen Rückblick auf die Kinderjahre. Undenkbar im Fall des Uwe Johnson ist die freundlich-ironische Beschreibung der astrologischen Konstellation zur Stunde der eigenen Geburt – wie immer Goethe es in Dichtung und Wahrheit gehalten und noch Günter Grass am Beginn der Blechtrommel darauf angespielt hat. »Die Konjunktur war glücklich« – diesen Satz hat der nicht schreiben können, der im Zeichen des radikalen Bruchs mit der Elterngeneration erwachsen werden und schreiben lernen würde.

Im Gegenteil: Seine Sache mußte die Distanzierung vom Vorausgegangenen sein. Vom »Dritten Reich« des »Führers« Adolf Hitler zumal, in das er hineingeboren wurde, das er in besonderer, intensiver Weise erlebte, da die Eltern ihn auf eine Eliteschule der Nazis gegeben hatten. Johnsons Blick auf die eigene Biographie war daher auch notwendigerweise bestimmt vom Registrieren der Brüche. Das ist bereits an den Lebensläufen ablesbar, erst recht an der Literatur, die er verfassen wird.

Es gibt Lebensläufe Uwe Johnsons, die beginnen überhaupt erst mit dem Jahr 1945. Zu diesem Zeitpunkt kam er aus Hitlers »Deutscher Heimschule« frei, die siegreiche Rote Armee stand vor den Schultoren. Uwe Johnson mußte seine Anstalt nicht mit der Panzerfaust in der Hand verteidigen, war dafür noch um ein weniges zu jung. Noch die Reflexionen der Begleitumstände, verfaßt 1979, fünf Jahre vor seinem Tod, setzen erst mit dem Jahr 1945 ein. Wiederum einen anderen Lebenslauf beginnt der bereits Erwachsene im März 1958 wie folgt:

Mein Name ist Uwe (Klaus Dietrich) Johnson. Ich wurde geboren am 20. Juli 1934 in Kammin.

Die Klammer, die die beiden zusätzlichen Vornamen einschließt, kann man sie verstehen als die ironische Distanzierung eines, der kein »Dietrich von Bern« zu sein wünschte, als die zeichenhafte Abgrenzung des Sohnes gegen eine elterliche Namensgebung, die er als Teil des Programms auch verstehen mußte, das ihn auf die »Heimschule« brachte? Anderes tritt eindeutiger in Erscheinung in zwei Lebensläufen, die im Leipziger Universitätsarchiv lagen. Im jüngeren der beiden parodiert der Sohn die Titelsucht seiner Mutter, der folgend er im ersten den Vater als »Oberkontrollassistent« und »Obertierzuchtwart« zu apostrophieren wohl angehalten war. – Mit brillantem Spott wird er später, im Abschlußband der Jahrestage, solch autobiographische Herkunftsbeschönigung noch einmal vorführen:

Soziale Herkunft, Beruf des Vaters: Landwirt. Im Fragebogen von 1949: Diplomwirt. 1950: Direktor der städtischen Gärten, Parks und Friedhofsbepflanzung von (sei unbesorgt. Ich verschweige den Namen der Stadt. Überdies hast du ihn ja regelmäßig ausgesprochen, wie er nun auf polnisch lautet. Besten Falls Anita hat ihn verstanden) eines größeren Gemeinwesens im heutigen Volkspolen. Bürgerlich. (Jahrestage, S. 1722)

Der »Obertierzuchtwart« Erich Johnson schwingt sich in der Literatur des Sohnes zum »Direktor der städtischen Gärten« auf.

In seinen Lebensläufen hat Uwe Johnson also schon früh Distanz zwischen sich und seine Herkunft gelegt. Er hat andererseits Erich Wünderich, als dieser an seiner Johnson-Monographie arbeitete, den Namen der oben ausgesparten Stadt durchaus wissen lassen. Das geschah am 20. September 1972, mit einer für den in persönlichen Angelegenheiten recht Verschlossenen beispiellosen Offenheit:

Geboren am 20. Juli 1934 in dem heutigen Kamien Pomorski (mit Akzentzeichen auf dem n), daher später als Pommer reklamiert. Tatsächlich war die Mutter eine Bauerntochter aus dem Dorf Darsewitz auf dem Westufer der Dievenow, sie ging zur Geburt des ersten Kindes aus Anklam zurück auf den Hof der Eltern, also in das Krankenhaus Kammin auf dem Ostufer, und ist da wohl zehn Tage geblieben. Der Vater jedoch war aus Kladow in Mecklenburg, Absolvent des landwirtschaftlichen Seminars Neukloster, Gutsverwalter und Inspektor auf meist mecklenburgischen Gütern, seit ungefähr 1930 Angestellter des Tierzuchtamtes Greifswald und Oberkontrollassistent der Molkerei Anklam; auch die Gegend, in der das zehnjährige Kind entscheidend auf eine Zukunft vorbereitet wurde, war mecklenburgisch: das Dorf Recknitz, die Stadt Güstrow.

Im Krankenhaus von Cammin (oder auch: Kammin; Johnson gebraucht beide Schreibweisen), an der Dievenow also, dem heutigen Kamień Pomorski an der Dziwna, kam Uwe Johnson am 20. Juli 1934 zur Welt. Die Kreisstadt, im Verwaltungsbezirk Stettin gelegen, beheimatete in den dreißiger Jahren rund 6000 Einwohner. Als »verlorene Heimat« sah Uwe Johnson Cammin auch später nicht, wenn er den Ort anläßlich von Besuchen bei seinen Großeltern auf Wollin wiedergesehen hat. Cammin besaß bereits alle Ingredienzen, um zu einem »Wendisch Burg«, dem Spielort des Erstlings Ingrid Babendererde, zu werden. Sein Dom, errichtet im Jahr 1176, stammt noch aus der Hansezeit der Stadt und gehört der Backsteingotik an. Einer, der die Gegend ebenso gut kannte wie Uwe Johnson selbst: der Chef der Gruppe 47, Hans Werner Richter, hat anschaulich, weil auf eigene lebensgeschichtliche Erfahrung gestützt, im Etablissement der Schmetterlinge geschrieben:

Die Stadt heißt Cammin. Es ist eine Kleinstadt, eine Landstadt, halb bäuerlich, halb proletarisch, sehr arm, aber sie besitzt einen Dom, den ich schon in meiner Kindheit als den Camminer Dom kannte. Cammin liegt an der Dievenow. Hier, zwischen den beiden Inseln Usedom und Wollin, läuft die Oder mit drei Mündungsarmen ins Meer, mit der Peene, der Swine und der Dievenow. Bevor die Oder mit ihren drei Armen ins Meer kommt, muß sie noch durch das große Haff und durch das Achterwasser, große, fast riesige Wasserbecken. Da auch die beiden Inseln von Seen durchzogen sind, muß man von einer Wasserlandschaft sprechen, einer Landschaft des Meeres. Die Dievenow ist der östlichste der drei Mündungsarme, und hier an der Dievenow, in der kleinen Stadt Cammin, wurde Uwe Johnson geboren. (Richter, Etablissement der Schmetterlinge, S. 173)

Richter spricht auch an, was für das Kind Uwe Johnson noch wichtiger gewesen sein wird als die Geburtsstadt Cammin: nämlich die Insel Wollin – von der Ostsee durch das Stettiner Haff, von Usedom durch die Swine und vom Festland durch die Dievenow getrennt. Auf Wollin verbrachte der Knabe glückliche und lebenslang unvergeßliche Ferien auf dem Hof der Großeltern mütterlicherseits. Was sich im Lied der Pommern eher einfach artikuliert: »Blaue Wälder krönen/Weisser Dünen Sand./Pommernland, mein Sehnen/Ist dir zugewandt« – für Uwe Johnson galt es seit frühen Kindertagen: Die Insel geriet ihm zu einem Ort der Sehnsucht, zu einem Refugium vollends vor den politischen Forderungen des Schulalltags. Zeitlebens gedachte er der Stunden an diesem Ort, in den Mutmassungen hat er ihnen ein erstes Denkmal gesetzt:

Oder war er es selbst, der glücklich gewesen war in dem weiten Land am Wasser auf dem grossen Hof, wo unzählig nebeneinander die Leiterwagen standen in der Sonne und die Luft der blühenden Linden gewichtig vor den kühlen Zimmern stand, über dem klaren Spiegel des frühen Flusses, in dem fügsamen Knistern des Schilfs an der schweren Biegung des Kahns?

Die Erinnerung, wie sie in den zitierten Zeilen aufblitzt, galt dem, was man Uwe Johnsons allererste Heimat nennen könnte und was vor ihm bereits den Malern Caspar David Friedrich (geboren in Greifswald) und Philipp Otto Runge (geboren in Wolgast) Heimat und Inspiration gewesen war. In beider Landschaftsbilder ist die Ostsee-Küsten-Landschaft eingegangen, findet dort ihren Ausdruck im Sehnsuchtsblick übers Wasser. Das Wasser, auf das der Betrachter dieser Bilder blickt – und diesen Tatbestand haben Caspar David Friedrichs und Philipp Otto Runges Gemälde mit Uwe Johnsons literarischem Werk gemein – ist immer die Ostsee. Dabei gilt, was wiederum Hans Werner Richter in seinem Buch über Pommern geschrieben hat: »Meer, Steilküste, Kreidefelsen, Seen, das Haff, das Achterwasser, Flüsse, Meeresarme und Häfen – und die Landschaft ist romantisch. Auch ein Realist kann sie nicht anders sehen.« Auch der Landschaftsepiker Johnson wurde in diesem Zusammenhang zu einem Romantiker aus Realismus.

Erste Heimat auf Wollin also, wie sie ein Leben lang in der Erinnerung eines Menschen als Vorschein unablässig gesuchten Lebens präsent sein kann. Doch wirkliche Heimat muß erträgliches Leben auch für den anderen, den Fremden zumal, bedeuten. Diese Wahrheit hat sich im Fall des Uwe Johnson bestätigt, eingebettet in die Verhältnisse der Familie Sträde, der Vorfahren mütterlicherseits. Bei den Eltern Uwe Johnsons wurde der damalige »Führer und Reichskanzler« Adolf Hitler durchaus geschätzt. »Noch als Briefmarke kam er ins Haus; was nützte die Faust, die ihm heimlich aufs Gesicht schlug.« Auf Wollin war das anders; besser; gerechter. Da nämlich »schwoll« Hitler zur Gefahr an, »wenn bei den Grosseltern die Kriegsgefangenen am Tisch essen durften, und er grinste, wenn sie vor dem Besuch des Ortsbauernführers in die Küche gebeten werden mussten«, so hat Johnson selbst in Begleitumstände sich dieser Ferientage entsonnen (S. 26). Im »fügsamen Knistern des Schilfs« auf Wollin blitzte dem Autor der Mutmassungen also die heilsame Erinnerung an die selbstverständliche Humanität gemeinsamen Essens mit den Fremden auf, wie sie bei den Großeltern praktiziert wurde. Auch politisch stellte dieses Wollin also eine Insel dar in Hitlers gleichgeschaltetem Reich. Auch deshalb liebte der Knabe sie so sehr. Inseln als Orte imaginierten Friedens und als Zuflucht vor Verfolgung würden in der späteren Biographie des Mecklenburgers eine große Rolle spielen, bis hin zur Umsiedlung auf die Themse-Insel Sheppey im Jahr 1974.

In Cammin dagegen war die Atmosphäre eine andere. Die Kreisstadt lag näher am politischen Geschehen jener Tage. Hans Werner Richter erinnert sich im Etablissement der Schmetterlinge weiter:

Einmal, lange vor Uwes Geburt, habe ich in dieser Stadt unter roten Fahnen demonstriert, drei Jahre vor Hitlers Machtantritt, doch es gab dort nur Deutschnationale und Nationalsozialisten, SA-Leute und Stahlhelmer, und so wurden wir durch die Stadt gejagt, mit Beschimpfungen, mit Gejohle und mit schrecklichen Wurfgeschossen, die aus allen Fenstern kamen. Seitdem haßte und fürchtete ich diese Stadt. Sie war für mich der Inbegriff der Reaktion und bornierten Rückständigkeit. (Richter, Etablissement der Schmetterlinge, S. 173)

Gesellschaftliche Unterschiede mögen hinzugekommen sein, die Hans Werner Richter in die Überlegung gefaßt hat, daß

Uwes Vater [...] Milchinspektor [war], und mein Vater war Fischer, ein kleiner, aber trotzdem gravierender Standesunterschied in der damaligen pommerschen Gesellschaft. Ein Milchinspektor gehörte dem kleinen Bürgertum an, ein Fischer aber nicht, der eine wurde bis zu einer bestimmten Grenze mehr von unten herauf angesehen, der andere von oben herab, ein Milchinspektor inspizierte die Milch eines ganzen Bezirks, er stand wahrscheinlich einer großen Molkerei vor, besaß also bedingte Macht und war ein geachteter Mann, ein Fischer aber fuhr Tag für Tag und oft jede halbe Nacht aufs Meer hinaus und mußte sehen, wie er seine Fische verhökern konnte. (ebd., S. 173 f.)

In der Tat: Uwe Johnsons Vater zählte zu den Honoratioren, darin das Idol seiner eigenen Frau. Sie hat, wie bereits erwähnt, ihre Hochachtung vor dem obersten kontrollierenden Molkereiassistenten des Landkreises noch in die Lebensläufe des Sohnes hineinredigiert.

Die soziale Stellung des Vaters mußte die Neigung der Eltern, an das »Dritte Reich« und seinen »Führer« zu glauben, bestärken. Der Sohn Uwe hat seine soziale Herkunft mit der ihm eigenen Sachlichkeit in Daten des Lebenslaufs (bislang unveröffentlicht) beschrieben:

Mein Name ist Uwe Klaus Dietrich Johnson. Ich wurde geboren am 20. Juli 1934 in Kamien (Kammin/Pom.). Mein Vater Erich Johnson, Diplomlandwirt, starb 1946. Er war beschäftigt als Kontrollassistent und Tierzuchtwart von der Molkerei Anklam und vom Tierzuchtamt Greifswald. Meine Mutter Erna Johnson geborene Sträde (49), bis zum Tode meines Vaters Hausfrau, arbeitete danach als Heimerzieherin und Näherin, schliesslich als Schaffnerin der Reichsbahn; sie verliess die Demokratische Republik persönlicher Umstände wegen im Herbst 1956. Ich habe eine achtzehnjährige Schwester, die Stenotypistin ist und mit meiner Mutter die Republik verlassen hat.

Der Vater Erich Ernst Wilhelm Johnson, 1900 geboren, war seit dem 6. November 1931 mit Erna Johanna Sträde, geboren den 15. März 1909, verheiratet. Beide kamen aus ländlichem Milieu. Beide nahmen, als ihre gemeinschaftliche Lebensaufgabe, den sozialen Aufstieg in Angriff. Uwe Johnson selbst hat dazu geschrieben, in seiner Vorstellung als neues Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (veröffentlicht in deren Jahrbuch 1977), er habe

eine Bauerntochter aus Pommern zur Mutter [...], jedoch nicht aus jenem hinteren Landesteil, von dem es lateinisch heißt, er singe nicht, sondern aus dem Gebiet westlich der Oder, 1648 schwedisch und 1720 preußisch geworden, was einem 1934 Geborenen als Obrigkeit den Preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring einträgt. [...] Zum anderen, es gefällt Leuten, mich einen Mecklenburger zu nennen, als sei das ein verläßliches Kennzeichen. Dafür ist nachweisbar, daß mein Vater geboren wurde im Ritterschaftlichen Amte Crivitz und aufwuchs im Domanialamt Schwerin. [...] Dem bin ich verbunden nicht nur durch einen Vater, einen Absolventen des Landwirtschaftlichen Seminars Neukloster und Verwalter herrschaftlicher Güter, sondern auch durch eigene, ausgiebige Beschäftigung mit dem Boden dieses Landes, beim Kartoffelwracken, Rübenverziehen, Heuwenden, Einbringen von Raps und Roggen, des Umgangs mit Tieren auf diesem Boden nicht zu vergessen. (ebd., S. 159)

Anklam gab im Lebensplan der Eltern die entscheidende Station ab. Bereits 1934 erscheint die Familie unter der Anklamer Adresse »Am Markt 23« als gemeldet. Alles spricht also dafür: Lediglich die Mutter war zur Geburt des Kindes nach Cammin, in das ihrem elterlichen Hof am nächsten gelegene Krankenhaus, zurückgegangen. Johnson selbst hat später in dem Interview mit Wilhelm Johannes Schwarz (S. 88 f.) ausgeführt, daß er »die ersten Jahre (s)eines Lebens« an einem Ort in Mecklenburg verbracht habe. Da sprach er von Anklam.

Die Verbindung nach Cammin allerdings dauerte an. Sie war nun auch leichter aufrechtzuerhalten. Denn spätestens seit 1936 hatte das automobile Zeitalter im Haus der Johnsons eingesetzt. Das geschah in Form eines DKW-Kleinwagens, der ein Dienstwagen für Erich Johnson und ein willkommener Anlaß für seine Frau Erna war, sich der Führerscheinprüfung zu unterziehen. Auch darin setzte der Geist der Zeit sich durch. Keine zwei Jahre vor der Geburt des Uwe Klaus Dietrich war die erste der famosen Autobahnen des »Führers« eingeweiht worden, jene zwischen Köln und Bonn. Der Besitz eines Autos freilich war noch längst nicht an der Tagesordnung. Außergewöhnlich war erst recht, daß eine Frau den Führerschein erwarb. Die sozial erheblich ehrgeizige Erna Johnson absolvierte die praktische Prüfung ganz als Honoratiorenfrau. Sie erregte bei dieser Gelegenheit Aufsehen durch ihren ausladenden Sommerhut. Nach ihm muß sie sogar einmal gefaßt haben, als der mecklenburgische Sommerwind ihn entführen wollte. Das wiederum kostete die Aspirantin beinahe die Prüfung, ereignete der Vorgang sich doch am Volant. Doch Erna Johnson bestand. Nun fuhr sie oft und gern nach Wollin und Cammin und hatte den Knaben im Auto bei sich. Jetzt erblickt er, der später ein Reisender aus Leidenschaft sein wird (und dennoch nie den Führerschein machen wird), die schwarzen Wasser der Dievenow. Eine schillernd sich schlängelnde Schlange aus Wasser. Die Wegstrecke verlief mit Wasserblick auf beiden Seiten. Eine Straße, die sich dem Wasser anschmiegte, als ginge es unentwegt in die Ferien. Auf diese Weise, mit der Mutter zusammen im eigenen Wagen, die Mutter nun einmal ganz für sich allein, vermag einer zu lernen, das Reisen zu lieben für ein ganzes Leben.

Nach 1945 gehörte die frühe Gegenwelt Wollin zu Polen. Uwe Johnson besuchte da bereits eine der »Neuen Schulen« der späteren DDR. Und fand historisch gerecht, was sich in seiner nahen Verwandtschaft abspielte. Vergaß dennoch nie die Geborgenheit, die er auf Wollin erfahren hatte. Im Gegenteil: Daß Wollin in der Konsequenz des verlorenen Eroberungskrieges an Polen fallen sollte, ließ die Insel in den Mutmassungen vollends zum Ort jener Heimaterfahrung und Heimaterinnerung werden, für die sich, paradox genug, als unabdingbar erweist, daß sie real unerreichbar zu sein hat.

»Am Markt« in Anklam wohnten die Johnsons nur einige Jahre. Erkenntnisse über diese Zeit gehen einerseits auf Uwe Johnsons Leipziger Studienakte zurück, vor allem auf Berichte einer Nachbarin, die den Knaben Uwe in den zur Rede stehenden Kinderjahren erlebt hat. Im Sinne der Literatur als dem Gedächtnis der Menschheit erscheint als konsequent, daß diese Frau selbst Aufnahme in das Werk Uwe Johnsons gefunden hat. Im Abschlußband der Jahrestage, in dem Johnson zurückkehrt an die Stätten von Kindheit und Jugend, tritt der Schüler Lockenvitz auf. Dieser »freie deutsche Junge« erscheint als ein Alter ego wie eigentlich kein zweites in Uwe Johnsons Literatur. Es ist denn auch Lockenvitz, »der die Frau Knick aus der verlorenen Heimat kannte, eine vermögliche Bürgerstochter, keine Tochter von Arbeiter und Bauern«. (Jahrestage, S. 1814) Bei dieser Dame handelt es sich um die Ehefrau Anneliese des Englischlehrers von Uwe Johnson, Dr. Hansjürgen Klug. Dieser Pädagoge wurde von seinen Schülern in Güstrow »Clever« geheißen und von Johnson als »Hansgerhard Knick« nur unbedeutend verfremdet in die Jahrestage hineingenommen. Anneliese Klug, eine geborene Röhl vom Jahrgang 1923, kam in Anklam zur Welt, wuchs dort auch auf und machte 1942 ihr Abitur. Sie fungierte zeitweilig als eine Art Kindermädchen für den Knaben Johnson. Die 13- bis 14jährige Anneliese Röhl wohnte mit Johnsons im gleichen Haus. Das war »Am Markt 23«. Heute klafft dort eine große Lücke, Folge noch des Krieges. 1937 standen die Johnsons unter dieser Adresse im Anklamer Adreßbuch. Der zweijährige Uwe wurde von Anneliese viel in der Stadt herumgefahren, weil die Mutter meinte, die eher triste Umgebung des Mietshauses sei ihm wenig ersprießlich. Ein »reizendes« und stilles Kind ist der Junge gewesen, dessen spiralige rotblonde Locken die Mutter freilich schon früh stutzte, auf daß ihr Sprößling »männlicher« aussehe. Wenn irgendwer, so war dieses Kind ein »Lockenvitz«. Auch die frühesten Fotos zeigen ihn so, ganz vertieft in sein Spiel und ernst in Richtung des Photographen schauend. Auf dem Spielanzug aber, über dem Herzen des Kindes, erkennt der Betrachter das Zeichen des Frauenschaftsverbandes des »Dritten Reiches«. Der hier noch spielte, wird fortgegeben werden zur höheren Ehre eines »Führers«. Uwe Johnsons Mutter war überaus tätig in diesem Zusammenhang. Erich Johnson dagegen galt nicht als ein besonders überzeugter Nazi. Niemand würde später verstehen, daß die Rote Armee diesen ruhigen Mann ins von den Nazis übernommene KZ Neubrandenburg verbringen würde. Der Vater hatte sich politisch eigentlich nie exponiert. Seine politische Überzeugung war geradezu unbekannt. In die Partei trat er erst spät, im Krieg – genau am 1. März 1940 – und da unter erheblichem Druck, ein. Einen Reflex dieser Tatsache bietet die Vaterfigur des Dritten Buchs über Achim. Überhaupt tat Erich Johnson sich wenig hervor, und wenn, dann allenfalls in beruflicher Beziehung. »Verstanden hat sie ihren Mann, glaube ich, nicht« – so die Nachbarin Anneliese Klug über Erna Johnson. Die Mutter ihrerseits gehörte nie der Partei an. Doch die Mitgliedschaft stellt in unserem Zusammenhang gar nicht das Wesentliche dar. Man dürfte nämlich bei den Johnsons für das Neue Reich vor allem deshalb plädiert haben, weil man sich von ihm die Erfüllung der eigenen sozialen Aufstiegsträume versprach. Aber auch lesend strebte man nach Höherem. Es gab Bücher, die man 1945 auf der Flucht vor der Roten Armee von zu Hause mitnahm. Deren Spannweite reichte »von der gebundenen ›Gartenlaube‹ bis zu ›Die letzte Reckenburgerin‹ von Louise von François (1817–1893)«, so erinnern es die Begleitumstände (S. 34). Der Vater pflegte der Mutter solche Literatur aus Anlaß von Geburtstagen und anderen Festen zu schenken – auch wenn er es gar nicht gern sah, daß sie diese dann süchtig las. Die Familie des »Obertierzuchtwarts« Johnson gab sich also vom DKW bis zur Lektüre als Aufsteigerfamilie, und diesen Aufstieg hatte Hitlers Regime möglich gemacht. Das band die beiden Johnsons an ihren »Führer«, so wie es Millionen anderer »Volksgenossen« verpflichtete. Dabei kann kaum Zweifel daran bestehen, daß diese Bindung ausgeprägter auf seiten der Mutter auftrat. Dennoch, und das muß deutlich ins Bewußtsein gehoben werden, handelte es sich bei den Johnsons um eine ganz normale Familie des damaligen »Dritten Reiches«. Was man fürs »Winterhilfswerk« spendete, war durchaus im Rahmen des Üblichen, wie Nachbarn sich erinnern, und auch sonst gab es Auffallendes kaum zu vermelden.

Erna Johnson steht als eine untersetzte blonde Frau vor uns, mit äußerst bestimmtem, dominantem Blick. Gab sie eine jener »atemlosen Gebärerinnen« (Drittes Buch) ab, die ihren »Führer« verehrten – und die andererseits doch eher an sozialem Aufstieg als an wirklich politischem Engagement interessiert waren? Ihr Mann mochte ihr von der Ausbildung und vom Sozialprestige her überlegen gewesen sein. Sie versorgte ja ausschließlich den Haushalt. Andererseits war sie fast ein Jahrzehnt jünger als er und immerhin ein Kind von Leuten, die einen eigenen Bauernhof besaßen. Dieser Besitz mag Erna Johnson zu Selbstbewußtsein verholfen haben gegenüber ihrem Mann. Um so mehr wuchs das freundliche und stille Kind Uwe auf die Mutter bezogen auf, zudem der Vater viel unterwegs war in Ausübung seines Berufes, der ein Herumreisen in den Molkereien des Bezirks erforderte. »Von seiner Herkunft, seinen Eltern sprach er kaum – mein Eindruck war ein gestörtes Verhältnis zur Mutter, ohne Kommentar über die Hintergründe«, so die amerikanische Verlegerin und spätere mütterliche Freundin Uwe Johnsons, Helen Wolff (in: »Wo ich her bin ...«, hg. von R. Berbig und E. Wizisla, Berlin 1993, S. 158). Kein Zweifel: Energie, Mobilität, die Bildungsaspirationen des Kleinbürgertums mit den entsprechenden Erziehungsvorstellungen zeichneten Uwe Johnsons Mutter aus.

EIN AUGENFEHLER UND EINE LIEBE ZUR MUSIK.

EIN EIGENES HAUS UND DIE VERTREIBUNG DARAUS

Bereits als Kind war Uwe Johnson mit einem Augenfehler behaftet. Ein schulärztliches Attest vom 25. August 1952 bescheinigte ihm auf dem »lk. Auge« eine angeborene Weitsichtigkeit. Erna Johnson suchte das zu kurieren in der ihr eigenen Art. Mit Entschiedenheit und mittels einer schwarzen Augenklappe rückte sie ihrem Kind zu Leibe. Technisch handelte die Frau überlegt und sagte doch wiederholt im Beisein des Knaben: »du schielst as een Schafbock«. Im Leben geht, wie in der Literatur, keine Erfahrung verloren. Die Wiederkehr des Verdrängten kann, wie Psychologie und Dichtung lehren, Menschenschicksal prägen. In der eigenen Tochter Katharina wird Uwe Johnson später anamnetisch erschüttert sein Schicksal wiedererkennen, wenn er am 31. Januar 1969 an die Rostocker Ersatz-Mutter Alice Hensan schreibt:

[...] dass Katharina schiele. Schiele! [...] Aber ich sehe das Kind an, das mit seiner eleganten braunen Brille aussieht genau wie die 12jährige in meiner Schule, die kein Mensch mochte, und kann mich nicht trösten.

Nicht bocksartig schielend, sondern symmetrisch dreinschauend wünschte die Mutter sich ihren Sohn. Ein Hof-Erbe sollte der Knabe zunächst werden, dann ein Chirurg. Im Jahr 1947 hat die verwitwete Erna Johnson einem Mann, der sie heiraten wollte – und den sie davon abzuschrecken wünschte –, erzählt, ihr Sohn solle Medizin studieren. Die sozialen Phantasien, die sich in diesen Berufswünschen aussprachen, sind von ehrgeiziger Dynamik. Darüber hinaus sollte Uwe Johnson Geigenunterricht erhalten, ein Vorhaben, das in die Tat umgesetzt wurde. Die Aufstiegsorientiertheit des Elternhauses spricht schließlich aus jenen Passagen der Begleitumstände, wo diese die proletarische Lösung einer »Schmiedelehre« in Recknitz beschreiben:

Leider wird diese Lehrzeit abgebrochen durch einen Wunsch des Vaters, der durch seinen Tod in ein Vermächtnis verwandelt ist: »Der Junge soll es einmal besser haben.« Darunter hat man zu jener Zeit unberatenerweise verstanden: den Übergang auf eine weiterbildende Schule, das Abitur und, womöglich, ein Studium. Hätte es damals eine Wahl gegeben, ich riete mir von heute her zur Schmiedelehre. (Begleitumstände, S. 33)

Das freilich wurde 1979 rückblickend von einem geschrieben, der im Begriff war, sich nach jahrelanger Depression und Schreibhemmung das Schreiben mühsam wieder beizubringen. Der Wunsch nach der Schmiedelehre liest sich vor diesem Hintergrund so sarkastisch wie illusorisch und provokativ.

Die soziale Karriere der Familie setzte sich fort und gipfelte endlich im Bezug eines Hauses mit Garten, jenem Archetyp des alldeutschen Lebenstraums. Immerhin zogen die Johnsons, soziale Aufsteiger sind in aller Regel mobil, in ihren elf Anklamer Jahren, zwischen 1934 und 1945, dreimal um. Der letzte Umzug ging im Jahr 1938 nach »Mine Hüsung 12«, knapp zwanzig Minuten Fußweg von der alten Adresse entfernt und damals noch vor der eigentlichen Stadt. Ein neuerschlossenes Wohngebiet, auf dem einladende Walmdachhäuschen errichtet wurden. »Am Markt 23« hatten die Johnsons nur den abgeteilten Part einer Fünf-Zimmer-Wohnung ihr eigen nennen können. Jetzt zog die Familie in ein geräumigeres Domizil, das durch Wohnkredite des neuen nationalen – sich ja auch sozialistisch nennenden – Regimes ermöglicht worden war. Das »Häuschen mit Garten« besaß einen – kleineren – Ziergarten vorn und einen – größeren – Nutzgarten hinten. Die Siedlung ging von der Pasewalker Landstraße ab und verlief U-förmig. Johnsons wohnten, von der erwähnten Pasewalker Landstraße her betrachtet, im rechten Flügel des Areals mit einem guten Stück freier Aussicht an der rückwärtigen Front. Eine weitere Stadtrandsiedlung entstand in ungefähr 200 Metern Entfernung, bestimmt für kinderreiche und sozialschwache Familien. Von denen war man aber durch eine Wiese getrennt, durch sumpfigen Grund, den ein Kind im Sommer barfuß als Spielplatz nutzen konnte.

Uwe Johnson selbst hat eine ebenso mimetisch genau erinnerte wie frei konzipierte Skizze dieses frühen Wohnorts gegeben. Auch in ihr wird der Ensemble-Charakter der neuen Siedlung betont, der ursprünglich sehr viel strenger als heute ins Auge getreten sein wird. Daneben stellt der Erinnernde heraus, was dieser Umzug für das soziale Selbstgefühl der Familie und deren emotionalen Zusammenhalt bewirkte. Es entsteht das Bild von Menschen, die in der Gleichförmigkeit ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln, die auch neue Zuneigung füreinander finden, verbunden durch den Stolz auf das endlich Erreichte. Diese nur a posteriori widersprüchliche Signatur prägt Johnsons literarische Skizze des Anklamer Milieus im Dritten Buch über Achim, wo der Autor seiner Figur Achim eine Jugendbiographie erfindet, in der Züge des Alltagslebens der Johnsons um 1939/40 zu erkennen sind:

Das Amt gab ihm südöstlich vor der Stadt ein Einfamilienhaus zur Miete. Das waren damals etwa zehn gleichförmige Häuser um einen ungepflasterten Dorfplatz, in dessen Mitte ein Findling aufgerichtet war zum Gedenken an die Toten des ersten deutschen Weltkrieges aber noch nicht für die des zweiten. Die Häuser hatten alle den nämlichen verglasten Treppenaufgang zur Seite, graubraune Satteldächer, die gleichen Fensterordnungen und Schuppen in den großen Hintergärten. [...] Dem Vater wich der graue Schimmer aus dem Gesicht, er war nicht mehr rauhbärtig wie früher die meiste Zeit der Woche, er trug weiße zugeknöpfte Hemden mit Krawatten, er kam gebadet nach Hause wie festtäglich. [...] Vor den feiertäglichen Besuchen der neuen Kollegen saß die Mutter fahrig überrötet am neuen Frisiertisch und tat sich Puder und Crème und Farbe ins Gesicht; Achim pflegte daneben lehnend ihr zuzusehen, bis sie seinen Blick im Spiegel festhielt und fragte ob es genug sei, und er verlegen nickte. Sie war viel zärtlicher zu ihm, inzwischen glaubte er sich wieder groß genug dafür. (Drittes Buch, S. 89)

Ein Zufall ist es wohl nicht, daß in Uwe Johnsons Literatur Szenen erfüllten Familienlebens, wie sie dem neu bezogenen Haus zugehörten, in tableauartig breiter Schilderung zu neuem Leben erwachen:

Der Vater hat nicht viel gesagt. Sein Gesicht war unlesbar verschwiegen, er verständigte sich mit einzelnen wie hervorgepreßten Worten, nur der Mund war bewegt; [...] Die Mutter ging den an mit Beredsamkeit. [...] Im Umgang mit den Nachbarn war sie lockerer, die Worte gingen ihr unbedacht vom Mund, sie lachte gern: wie überrascht. Mit herzlichen Reden und betulich hielt sie den staatlichen Frauenverband in der Siedlung zusammen, stellte jede Tüte gesammelter Lebensmittel befriedigt nachzählend auf die ausgezogene Servierlade der Kredenz im Wohnzimmer, tat die grösste am Ende selbst hinzu: dabei kam es ihr an auf den Zusammenhalt des deutschen Volkes gegen seine Feinde. [...] Bei den stundenlangen Reden des erregten Hitler [...] sass sie ergeben bisweilen mit Kopfschütteln am Strümpfestopfen, während der Vater krumm den Kopf auf die Tischecke stützte, die man nicht einsehen konnte. [...] Die Mutter bekam nichts Sichtbares zu Weihnachten, aber zum Geburtstag Romane, die sie während des übrigen Jahres nicht zeigen durfte, denn der Vater hielt nichts vom unterhaltenden Lesen. (Drittes Buch, S. 75 ff.)

So weit scheint, bei aller gebotenen Vorsicht gegenüber der Klippe des Biographismus, die Folgerung gestattet: Wir sehen vor uns die Familie Johnson in »Mine Hüsung« Nr. 12. Damit enden aber die Parallelen. Denn Achims Vater ist Arbeiter und Antifaschist, bei dem sogar Widerstandshandlungen nicht auszuschließen sind – in diese Wunschvater-Zone hat der Autor seine Figur als Hommage an seinen Leipziger Professor Hans Mayer weitergeführt. Johnson selbst hat dem Gelehrten dies mitgeteilt.

Der Knabe nannte die neue Heimat »Oma Röhls Stadt«, denn in der Nähe, noch auf dem Lande vermutlich, wohnte die Großmutter von Anneliese Röhl. In der kindlichen Bezeichnung mag auch so etwas wie kindliche Melancholie mitschwingen, Sehnsucht des Knaben nach seiner eigenen fernen, geliebten Oma auf Wollin, der Insel im Oderhaff, wo man mit dem Kahn durch knisterndes Schilf gleiten konnte.

Die Siedlung, wie immer vor 1933 erbaut, als programmatische Sozialleistung des »Dritten Reiches«, ihr Name als Antwort auf Fritz Reuters Versepos Kein Hüsung: Nie mehr im neuen Deutschland sollten Liebende nicht zusammenkommen können, bloß weil ihnen der Wohnraum fehlte. Im Hause des Erich Johnson kündigte sich denn auch noch im Jahr 1939 Nachwuchs an. Die Familie vergrößerte sich 1940 um die Tochter Elke Christine. »Elke Christine«. »Uwe Klaus Dietrich« – klatschten in der Siedlung und im Städtchen die Leute über die aktive Frauenschaftlerin Erna Johnson: Die Frau lese zuviel triviale Literatur und wolle zu hoch hinaus?

Deutschlands Wiederaufbau, wie die Zeit ihn sah, war nicht nur abgeschlossen, das Reich begann vielmehr, sich neuen »Lebensraum« zu erobern. Es stand sehr gut um Hitlers Krieg im Jahre 1940. Immer mehr Volksgenossen würden DKW – und Volkswagen – fahren. Man war, aus Schweden stammend, ohne jeden Zweifel arisch und hatte es auch nachweisen können. Die Familie Johnson hatte manchen Grund zur Zufriedenheit. Und so muß man sich den Parteibeitritt des Vaters am Märzbeginn des Jahres 1940 als einen Akt vorstellen, in dem sich Bekenntnis, Dankbarkeit, Gewährenlassen, Trägheit, Konformismus und Opportunismus ununterscheidbar vermischten: als ein deutsches Syndrom. Der einzige, der immer noch weiter sollte, war der Knabe.

Der besuchte vom April 1940 bis zum Juni 1944 die Comenius-Schule in Anklam, ein guter Schüler. Das Leiden an dieser vor allem preußisch geprägten Schule kann er später authentisch bei Thomas Mann nachlesen – es wird die Identifikation mit dessen Tonio Kröger fördern und auf gewisse Weise die Schriftstellerlaufbahn Johnsons mitinitiieren. Andererseits hing auch an der Wand der preußisch geprägten Schulstube in Anklam das Konterfei Hitlers. Im zweiten Band der Jahrestage kann man darüber nachlesen:

Adolf Hitler ist der Führer.

Adolf Hitler liebt die Kinder.

Die Kinder lieben Adolf Hitler.

Die Kinder beten für Adolf Hitler. (Jahrestage, S. 859)

Und:

Marie, an der Stirnwand des Klassenraums in Jerichow hatte der Spruch gestanden von den deutschen Jungen, die so hart sein sollten wie ein Erzeugnis der Firma Krupp, zäh wie Leder und noch etwas. [...] In Gneez hatten sie in fetter brauner Fraktur an die Klassenwand malen lassen:

»Ihr seid das Deutschland der Zukunft

und wir wollen daher

daß ihr so seid

wie dieses Deutschland der Zukunft

einst sein soll und muß. A. H.«

Auf Mittelachse geordnet. (Jahrestage, S. 934 f.)

Wie auch immer der Grundschüler Johnson sich unterdrückt gefühlt haben mag; seine Zeugnisse fielen überdurchschnittlich aus. Das gab der ehrgeizigen Mutter die Chance, den Knaben für die »Deutsche Heimschule« im fernen Kosten bei Posen anzumelden, ein Internat mit dem strengen Ziel nationalsozialistischer Eliteerziehung. Unverhofft und brutal trat sie an die Stelle familiärer Idylle im Anklamer Walmdachhaus.

Er war daran zu begreifen daß die dörfliche Vertrautheit des verlassenen Ortes verloren war. Die Freunde würden vergessen werden müssen, hier halfen sie einem nicht. Der Wald und der Fluß und daß man jeden Stein im Pflaster kennen konnte: verloren. (Drittes Buch, S. 88 f.)

»Verloren«, hier zum ersten Mal, seitdem immer wieder. Auf die Realisierung des Märchens in »Mine Hüsung« erfolgte jäh der Schubs in die politische Sozialisation, von dem Knaben als eine Art Vertreibung erlebt. Statt normaler Volksschule und freien Nachmittagen auf den Wiesen der Siedlung, in einer Umgebung, die der Knabe inzwischen kennengelernt und zu der seinen gemacht hatte, nun eine Anstalt mit militärischem Drill und, so sieht es aus, sogar verordnetem Boxkampf. Der krude Wechsel erfolgte zur Mitte des Jahres 1944. Er traf einen Zehnjährigen und bildete, ein Trauma mit lebenslangen Folgen, mit einiger Wahrscheinlichkeit vor, was Uwe Johnsons Literatur dann insgesamt prägen wird: den Verlust dessen, was Heimat symbolisiert, aus Gründen der Politik. Eltern- und Liebesverlust, Einbuße alles Vertrauten aus Gründen, die ganz uneinsehbar für den Knaben mit einem fernen, strengen Staat und mit der, wie es in den Mutmassungen heißen wird, »politischen Physik« zu schaffen hatten. Daß ihm der Wechsel zudem in einem Lebensaugenblick zugemutet wurde, als die Familie sich erstmals wirklich auf ein unbefristetes Bleiben eingerichtet hatte, muß die Verletzung förmlich bis in die Fundamente seiner Person getrieben haben. Derart, daß Uwe Johnson diesen ersten, grundlegenden »Verrat« seinen Eltern, der Mutter zumal, nie würde vergeben können: Man hatte das introvertierte, sensible und schmale Kind abrupt der Härteerziehung der neuen Barbaren ausgeliefert. Dabei las der Junge fast süchtig.

Das Alarmsignal war so unübersehbar, es hätte wahrgenommen werden müssen: dies Kind las. Mit zehn Jahren hatte es sich gelangweilt in der Gesellschaft von Winnetou und Karl Mays Bände durchgenommen wie eine Schulaufgabe, da sie als Geschenk zu würdigen waren. Noch die genaueren Indianerbücher waren Pflichtstücke gewesen, Märchen gehörten zur Grundausstattung des Krankseins, waren verordnet wie Medizin, und die Erinnerung misstraut der gefälligen Legende, man habe einmal auf dem Dachboden der Grosseltern, in einer Luft voll sauberen Staubes, von der Sonne geheizt, den »Robinson Crusoe« gefunden. Die psychologische Ausbildung des Wehrwillens durch die militärischen Dreigroschenhefte hatte so wenig angeschlagen, dass das Gedächtnis sich begnügt mit einem einzigen Satz, in dem ein Mann auf einem Flussdampfer dem Bordhund eine Scheibe Brot »hauchdünn« mit Schmalz bestreicht; der Rest dieser Szene ist das einzige, was bedauerlich fehlt. (Begleitumstände, S. 33)

Ein solcher Geschmack wird ihn bereits auf der Grundschule in Anklam vereinzelt haben. Wie viel mehr mußte er das auf der nationalsozialistischen Sonderschule tun. Diese würde ihm, neben anderem, das Lesen zensieren und verbieten wollen. Wer die Heimat nicht und auch nicht seine Lektüre behalten durfte, der mußte sich beides eben schreibend selbst verfertigen. Das Schreiben zum einen als einzig wirksame Therapie gegen das existentielle Verlustgefühl, wie es die Wahrnehmung des unaufhaltsamen Verrinnens der Zeit hervorzurufen vermag. Schreiben darüber hinaus als Mittel gegen den Heimatverlust, der einen, mit schrecklicher Plötzlichkeit, treffen konnte.

An solche Konsequenz war 1944 natürlich noch nicht zu denken. Doch daß er – und noch dazu so plötzlich – fortgegeben wurde, mußte der Knabe zuallererst seiner Mutter als »Schuld« anrechnen, stellte diese doch seine erste Beziehungsperson dar. Noch als die Schwester später, 1963, die krebskranke Mutter zu sich in die Wohnung nahm, statt sie pflegen zu lassen, empfand Uwe Johnson das als eigentlich unverständliche Nähe und Sentimentalität. Die Tiefe der Verletzung schränkte ihm auch da noch die Fähigkeit verstehenden Verzeihens ein.

Zu allem zeichnete sich im Jahre 1944 die Kriegsniederlage für jeden unverkennbar ab. Erna Johnson, realitätsfern und in ihrem Glauben an den »Führer« so hysterisch wie später Uwe Johnsons Figur der Frau Lockenvitz, sandte ihr Kind dennoch in die »Deutsche Heimschule« im fernen Polenland. In diesem aberwitzigen Glauben, spätestens, »verriet« die Mutter ihr Kind. Daß Uwe Johnson später keine je erfahrene »Untreue« vergessen wird, daß er »Treue« als höchsten Wert noch in Nebensächlichstem bewahrte, bis hin zur grotesken, marottenhaften Anstrengung, nie etwas Zugesagtes zu vergessen, und zu der damit verbundenen wahrhaft tragisch-heroischen Anstrengung, Verläßlichkeit zwischen den Menschen einzurichten – das, so scheint es, hat seinen ersten Grund in diesem lebensgeschichtlichen Komplex.

DIE »DEUTSCHE HEIMSCHULE« IN KOSTEN BEI POSEN.

EINGANGSBILDER

Ob Uwe Johnson auf seinen Eintritt in die »Heimschule« vorbereitet war, wie weit er selbst bereit erschien dazu, ist heute nicht mehr zu rekonstruieren. Wohl aber, wie ihm seine »Heimschul«-Zeit ins Bewußtsein trat. Der »Hitlerjugend« kann der Knabe in Anklam aus Altersgründen noch nicht angehört haben, allenfalls dem »Deutschen Jungvolk«. Er selbst hat rückblickend beides unter dem gebräuchlicheren Begriff »Hitlerjugend« zusammengefaßt, hat Zugehörigkeit angedeutet. Dokumente liegen darüber nicht vor. Wohl aber die Äußerung Hans Werner Richters, noch einmal aus dem Etablissement der Schmetterlinge, derzufolge Johnson nach einer Auseinandersetzung einmal gesagt haben soll: »So schlecht hat man mich nicht einmal in der Hitlerjugend behandelt.« Richter weiter:

Auch er dachte ja an seine Biographie, wie Heinrich Böll [dessen Äußerung in dieser Richtung nachgerade notorisch war], auch er sagte einmal in einem anderen Zusammenhang, »ich werde mir doch nicht meine Biographie kaputtmachen«. Ich habe das nie begriffen, ich hielt den Gedanken daran fast für lächerlich. (Richter, Etablissement der Schmetterlinge, S. 181)

Es scheint allerdings, daß Uwe Johnson in diesem Punkt nicht anders dachte als sein Freund Hans Werner Richter. Nirgends hat er versucht, seine Zugehörigkeit zu Hitlers »Jungvolk« zu verbergen. In den Begleitumständen steht vielmehr:

Unter [Hitlers] Kommando verdarb der Sonntag, wenn die Jugend seines Namens in geschlossener Formation, Uniform Vorschrift, abmarschierte zum Besuch von Filmvorführungen über Leute wie Bismarck oder Rudolf Diesel. (Begleitumstände, S. 26 f.)

Man kann also nicht ausschließen, daß der Knabe Uwe zeitweilig einem beflissenen Hitlerjungen geglichen hat. Er selbst hat ausgeführt, gegenüber Wilhelm Johannes Schwarz: »Sicherlich besass ich damals das Weltbild, das die Schule vermittelt hatte, das Weltbild, das alle anderen hatten.« Johnson sagte aber auch, im gleichen Zusammenhang: »Nicht der Führer stand im Mittelpunkt meines Lebens, sondern meine Eltern.« Doch 1944, in der vierten Klasse, wurden ihm seine Kopfform, seine guten Schulleistungen und die Einstellung seiner Eltern zum Verhängnis. Da nämlich suchte eine der Kommissionen, die durch das Reich reisten, auch Uwe Johnson aus, um den blonden Jungen im verschärften Geist der nationalsozialistischen Elite erziehen zu lassen.

Die »Deutsche Heimschule« in Kosten bei Posen, heute polnisch Koscian, galt als eine etwas weniger elitäre Ausgabe jener »Nationalpolitischen Erziehungsanstalten«, die Hitler sich hatte errichten lassen, seinen Nachwuchs für die Kolonisierung der Welt heranzuziehen. Die Kostener Elite mithin war eine Elite der zweiten Wahl. Uwe Johnson erfüllte zwar, was Herkunft, Kopfform, Körperbau und Schulleistungen betraf, alle Vorbedingungen für die Elitezugehörigkeit im »Dritten Reich«. Wohl aber störte des Schülers Augenfehler. Erna Johnson hatte ihn doch nicht in Gänze zu korrigieren vermocht.

Dezidiert gehen Johnsons Lebensläufe, anders übrigens als später die Begleitumstände, auf die Zeit in Kosten ein; der früheste, geschrieben wahrscheinlich 1952 in Güstrow, wie folgt:

Ich wurde im Frühjahr 1940 in der Comenius-Schule in Anklam eingeschult, die ich bis zum Abschluss der 4. Klasse besuchte. Bei einer allgemeinen Auslese wurde ich für den Besuch einer »Deutschen Heimschule« vorgeschlagen. Vom Sommer 1944 bis zum Januar 1945 war ich der Schüler der »Deutschen Heimschule« Kosten bei Poznan/Posen. Nach der durch das Vorrücken der Roten Armee verursachten Auflösung der Heimschule lebte ich bei meinen Eltern in Anklam.

Die Neutralität der Schilderung fällt ins Auge. Eine Beteiligung der Eltern wird nicht erwähnt. Die Stilhaltung erscheint, selbstverständlich, für die damaligen Behörden der DDR berechnet. Verrät zudem noch die Handschrift der Mutter. Dagegen im später, 1954 wohl, geschriebenen Lebenslauf steht, nun bereits im gestrafften und geschmeidigeren Stil, der Einsatz allein erklingt wie ein kleines Fanal:

Ich heisse Uwe Johnson. Meine Eltern sind der Diplomlandwirt Erich Johnson und Erna Johnson, geborene Sträde. Ich wurde geboren am 20. Juli in Cammin in Pommern. Mein Vater arbeitete bis 1945 als Angestellter des Greifswalder Tierzuchtamtes als Tierzuchtwart und Kontrollassistent der Molkerei in Anklam. Dort besuchte ich bis 1944 die Volksschule. 1944 gab mich mein Vater in die Deutsche Heimschule Kosten.

Der Vater gibt hier das Kind fort – in der Formulierung des letzten Satzes gerät zum ersten Mal die Beteiligung der Eltern ins Bild. Doch der Vater soll es damals gewesen sein, ohne Beteiligung oder gar Einverständnis der Mutter? Als dieser Lebenslauf geschrieben wurde, lebte Erna Johnson noch in der DDR. Darin ist meines Erachtens der hauptsächliche Grund für die ausschließliche Nennung des Vaters zu sehen. Erich Johnson lag zudem zu diesem Zeitpunkt bereits in russischer Erde begraben, und die Johnsons wußten dies. In der Abfolge der Lebensläufe spricht ein fortgegebenes Kind, das sich schrittweise an die Verantwortlichen seiner Verstoßung heranarbeitet.

Im Verlauf dieses Prozesses wird der Vater, je später, desto mehr, exkulpiert. Dennoch: Die Wunde, die die Verstoßung einst zugefügt hatte, vernarbte allenfalls oberflächlich. Es erscheint schon als auffällig, wie sich die stilistische Geste des Fortgegeben-Werdens wiederholt, wenn es um die »Heimschule« geht. Noch 1981 schrieb der, der da bereits fast vierzig Jahre Abstand zu seinem Dasein als »Jungmann« besaß, an seinen Schulfreund Lehmbäcker: »1944 war ich in eine ›Nationalpolitische Erziehungsanstalt‹ getan [!], eine Kaserne von einem Internat.« Der sonst allem englischen Understatement zugetane Johnson nordet hier die »Heimschule« zur NaPoLa auf. In den selbstbiographischen Passagen seiner Literatur freilich hat er die Verantwortung des Vaters in gleichem Maße reduziert, wie er die der Mutter zumindest konstant erhielt. Im Gegensatz zum oben zitierten Lebenslauf wird es in den Jahrestagen die in religiöser Hysterie befangene Lisbeth sein, die ihr Kind fortgeben will. Cresspahl rettet seine Tochter, führt also aus, was in der Realität des Sommers 1944 Erich Johnson nicht möglich gewesen war.

Weiterhin erscheint in diesem Zusammenhang signifikant, daß jene Darstellungen, die sich aus Johnsons Rückerinnerung an die eigene Jugend speisen, auch Achims Jugendgeschichte im Dritten Buch und die Geschichte des Schülers Lockenvitz im Abschlußband der Jahrestage, die Rolle des Vaters je später, je deutlicher abtönen. Mehr oder weniger gezwungen stimmt Achims Vater der Polit-Karriere seines Sohnes zu. Im Fall des Lockenvitz schließlich wird recht unkaschiert verhandelt, worum es in der Realität von 1944 gegangen sein mag: Der Vater sagt ja zum NaPoLa-Plan, »vor die Wahl gestellt [...]: Einziehung zur Wehrmacht, oder ein anderes Bekenntnis zum Hitlerstaat.« (Jahrestage, S. 1722) Durch die Fortgabe des Knaben konnte der Vater bei der Mutter bleiben – bis kein Jahr später auch er »Mine Hüsung« verlassen mußte, um in den »Volkssturm« einzurücken.

DIE »DEUTSCHE HEIMSCHULE« ALS INSTITUTION

Uwe Johnsons Aufenthalt in Kosten brachte ihn in zentrale Bereiche des braunen Erziehungswesens. Auf dem Reichsparteitag von 1935 hatte der »Führer« ausgeführt: »In Zukunft wird der junge Deutsche von einer Schule in die andre gehoben werden. Beim Kinde beginnt es, und beim alten Kämpfer wird es enden. Keiner soll sagen, daß es für ihn eine Zeit gibt, in der er sich ausschließlich selbst überlassen sein kann.« Uwe Johnson hat die Realisierung dieses Versprechens – oder lag hier eine Drohung vor? – am eigenen Leib erfahren. Mit zehn Jahren konnte ein Kind in eine NaPoLa aufgenommen werden. Insgesamt existierten etwa vierzig dieser Anstalten im gesamten Reich. Sie waren meist in Schlössern oder beschlagnahmten Klöstern untergebracht, in repräsentativer Umgebung jedenfalls, das Selbstgefühl der künftigen Elite auch durch entsprechendes Ambiente zu festigen. Als Vorbild galt die berühmte, herrscherlich über dem See gelegene, vormals kaiserliche Kadettenanstalt im holsteinischen Plön. Ursprünglich waren die NaPoLas eine Gründung der SA und als ein Geschenk zum Geburtstag des »Führers« 1933 gedacht. Nach dem 30. Juni 1934, dem Datum des sogenannten Röhmputschs, fielen sie an die SS. Im Lehrplan der NaPoLas stand herkömmlicher Schulunterricht neben militärischer Ausbildung. Letztere lief wahlweise auf eine der drei Waffengattungen zu oder auch auf die Waffen-SS. Daß eine Mehrzahl der sogenannten Jungmannen gerade der Waffen-SS den Vorzug gab, kann nicht überraschen.

Neben den »Nationalpolitischen Erziehungsanstalten« (offizielle Abkürzung: NPEA) und neben den vor allem in Holland und Flandern gegründeten »Reichsschulen« gehörten die »Deutschen Heimschulen« zum engeren Bestand der sogenannten nationalsozialistischen Sonderschulen. Für sie alle galt ein vergleichbar strenges Auswahlverfahren. Die reisenden Auswahlkommissionen sollten übrigens auch eine zu ausschließliche Selbstrekrutierung der NSDAP verhindern. Das hatte seine Gründe, schließlich wünschte jedes nationalsozialistisch überzeugte Elternteil sein Kind in einer der Schulen des »Führers« zu sehen. Die Sonderschulen waren, wie Statistiken zeigen, vor allem vom Mittelstand besucht – jenem Mittelstand, der auch in der Anklamer Siedlung »Mine Hüsung« zu Hause war.

Zwei Wege führten in solche Eliteerziehung hinein: ein eigener Antrag – was in der Praxis bedeutete: Antrag der Eltern – oder das Erwähltwerden durch eine der obersten Auslesekommissionen. Uwe Johnson verkörperte den gewünschten Typ und wurde auf die letztgenannte Weise »entdeckt«. Offiziell unterstanden diese Sonderschulen dem Reichsbildungsministerium. De facto bestimmte in ihnen freilich die SS unter Heinrich Himmler bis in die pädagogischen Details hinein. Insgesamt galt, was Horst Überhorst in Elite für die Diktatur (Düsseldorf 1969) geschrieben hat:

Wer bei der Aufnahmeprüfung nach dem Urteil des Referenten der SS nicht rassisch hochwertig war, hatte keine Chance, die Prüfung zu bestehen, auch wenn er sich sonst gegenüber allen Prüflingen als überlegen erwies. (Überhorst, Elite, S. 82 f.)

Dennoch meinte der SS-Gruppenführer Beyer in einem Schreiben an den »Reichsführer SS« Himmler, daß in den »Heimschulen [...] alles, jedenfalls keine Auslese« sei.

Bei der »Auslese« aber zählte bei weitem nicht allein die »Reinrassigkeit«. Ohne erstklassige schulische Leistungen besaß kein Schüler eine Chance. Auch mußte, und das geschah keineswegs nur pro forma, die Einwilligung der Eltern in jedem Fall eingeholt werden. In einer zeitgenössischen Veröffentlichung von Fritz Kloppe aus dem Jahr 1934 mit dem Titel Nationalpolitische Erziehungsanstalten heißt es:

Richtungweisend sind drei Sätze: Bei der persönlichen Vorstellung des anzunehmenden Schülers bei den Leitern der Anstalt – Kommandeur, Erziehungs- und Unterrichtsleiter – wird in einer kurzen Besprechung mit Vater und Jungen zunächst erkannt werden müssen, wieweit der Aufnahme Begehrende in die Anstalt paßt. [...] Die zweite Vorbedingung ist die rein körperliche Anlage des Jungen. Schwächliche Kinder mit körperlichen Fehlern, mit Erbkrankheiten (Herzfehler, Augenfehler) sind völlig ungeeignet. Bedauerlich persönlich, ein tüchtiger, rassisch einwandfreier Knabe mit solch einem Fehler, aber Humanitätsgefühle: ach der arme Junge! sind unzulässig.

Daß nun gerade Uwe Johnson, trotz eines manifesten Augenfehlers, in die nationalsozialistische Sonderschule in Kosten aufrückte, spricht für seine Schulzeugnisse. Und für die Bereitschaft der Eltern, den Knaben fortzugeben. Seit dem 7. Oktober 1937 war durch den Reichsbildungsminister Rust verfügt, daß sämtliche Volksschulen

diejenigen Jungen des dritten und vierten Schuljahres, die für eine Nationalpolitische Erziehungsanstalt geeignet erscheinen, zum 1. November jedes Jahres dem Kreisschulamt melden. Der Kreisschulrat reicht die Vorschläge der nächstgelegenen Nationalpolitischen Erziehungsanstalt auf dem Dienstwege weiter.

Dieser Dienstweg muß die Akte Johnson (und vermutlich auch den Knaben selbst) über Köslin geführt haben. Vom Oktober bis zum November 1943 wird Uwe Johnson einer Vormusterung ausgesetzt gewesen sein, durchgeführt vom Anstaltsarzt, dem Unterrichtsleiter und einigen anderen Erziehern in der am nächsten gelegenen NaPoLa, im Fall des Anklamers also im genannten Köslin. Dort wurde sein Schädel vermessen, seine Abstammung untersucht, wurden seine Zeugnisse gelesen, die Farbe der Augen, der Abstand zwischen Nase und Kinn, der Neigungswinkel der Stirn, die Kopfform insgesamt taxiert. Neben den Zeugnissen muß auch die Gesundheit des Knaben erstklassig gewesen sein. Denn von allen Volksschülern des Reichs, das damals rund 80 Millionen Menschen umfaßte, wurden pro Jahrgang lediglich vierhundert zur Vorprüfung für die NaPoLa angenommen. Hinzu kamen noch die, die von den Eltern direkt gemeldet wurden. Lediglich 100 bis 120 Schüler wurden nach der Vorprüfung zur Aufnahmeprüfung zugelassen, die wiederum nur ein Drittel bestand.

Auch die praktischen Prüfungen waren in allen Fällen ähnlich. Überhorst hat sie nach dem Zeugnis eines »Jungmann K.« aus der Klasse 5a beschrieben:

Dann führte man uns die Panzernahbekämpfung vor. Wir sahen wie gefährlich ein Panzer ist und wie schwer er zu »knacken« ist. Das »Knacken« eines Panzers erfordert vor allem Ruhe, Schnelligkeit und Geistesgegenwart. Wir sahen, wie SS-Männer einen russischen Panzer vom Typ T 34 auf sich zurollen ließen und erst im letzten Augenblick, als die Ketten des Panzers etwa 75 cm vor ihrem Körper waren, zur Seite sprangen. (Überhorst, Elite, S. 396)

Diese heroische Seite besaß freilich auch ihr administratives Gegenbild. Da es sich bei dem Ganzen um eine deutsche Auslese handelte, war nämlich noch die geringste Einzelheit detailgenau geregelt:

Die Reisekosten zur Aufnahmeprüfung und der Aufenthalt in der Anstalt (täglich 1,30 Reichsmark) gehen zu Lasten der Eltern. Es empfiehlt sich, die Fahrkarte des Jungmannen für die Hinfahrt von der Bahn zu »Reklamationszwecken« bescheinigen und sich aushändigen zu lassen, da die Kosten dieser Fahrt bei Bestehen der Prüfung auf Antrag zur Hälfte erstattet werden können. (Überhorst, Elite, S. 83)

Erna Johnson, eine glückliche deutsche Mutter, wird im Sommer 1944 den Vorschriften gefolgt sein. Sie hat ihrem Sohn zusammengestellt und ganz gewiß mit seinem vollen Namen versehen:

1 braune Sporthose,

1 Braunhemd,

1 schwarze Badehose,

1 kurze Hose,

1 Badetuch,

2 Paar schwarze Strümpfe,

1 Paar Hosenträger,

1 weißes Turnhemd,

1 Wäschebeutel,

1 Nähkästchen,

1 Wandereßbesteck,

1 Zahnbürste mit Behälter,

1 Reisekoffer oder Reisekorb,

3 Nachthemden oder Schlafanzüge,

4 Handtücher, Seife,

1 Handbürste,

2 Waschlappen,

1 Nagelscherchen,

18 Taschentücher,

1 Paar Turnschuhe,

1 Kleiderbürste, evtl. Rasierzeug,

1 Wasserglas,

2 Putzlappen,

Schuhputzzeug. (Überhorst, Elite, S. 84)

Damit ausgerüstet, ein Besitzer von insgesamt 18 Taschentüchern, reiste ein Knabe im Sommer 1944 aus seinem Anklamer Häuschen ins Internat der Kostener »Heimschule«.

SCHULUNTERRICHT UND SONNENWENDFEIER

Die in der »Heimschule« mißbrauchte Sehnsucht nach Gemeinschaft wird Uwe Johnson, vor allem im Sport, recht grausam zugesetzt haben. Seine gesamte Persönlichkeit stand quer zu dem, was in der »Heimschule« gefordert wurde. Und doch wird er sich gewünscht haben, dazuzugehören. Alles erschien abgestellt auf die Identifikation mit dem Aggressor, machte sie doch das Zentrum von Herrschaftsausübung in beiden Totalitarismen unseres Jahrhunderts aus. Im Unterwerfungsritual stand das Schauspiel der Gewalt mit seiner archaischen, wortwörtlich bluttriefenden Attraktion im Mittelpunkt. »These new boarding-schools, therefore, fifteen in number, started in 1933, were modelled in more than one respect upon our English Public Schools« – so hat es damals ein Engländer, der in Hitlers Reich zu Besuch weilte, aufgeschrieben (auch dies zitiert nach Überhorst, Elite, S. 321). Das Englische stand an zentraler Stelle im Lehrplan dieser Schulen. Vor dem Krieg waren Schüleraustausch und ständige Verbindung mit englischen Schulen häufig. Vor allem den Sport als hochrangigen Erziehungsfaktor hatten Public School und NaPoLa gemeinsam. Statt des englischen Mannschaftssports freilich wurde in den von der SS gesteuerten Anstalten das Boxen Mann gegen Mann verordnet. Eine NaPoLa-eigene Zeitschrift, Der Jungmann, veranschaulicht, wie es dabei zuging:

In der [Aufnahmeprüfung] fing es an. [...] Die Zugführer standen mit Notizblock und gezücktem Bleistift bereit, jeden Fehlschlag zu vermerken. Die ersten Gegner machten sich fertig. Auf das Kommando »Los!« schossen sie wie zwei Kampfhähne aufeinander und begannen eine schreckliche Schlägerei. Sie dachten: »Je mehr wir aufeinander losgehen, desto höher wird es uns gewertet.« Schlag um Schlag prasselte auf die nackten Körper. Jeder kniff die Augen zu und schlug wild um sich. Schließlich mußte der Zugführer wegen blauer Augen und roter Nasen den Kampf abbrechen. (Jungmann, Jg. 1936, Heft 2, S. 29)

Über Uwe Johnsons Gemütsverfassung auf dem NS-Internat gibt ein Brief Auskunft, den er am 5. August 1981 an den Schulfreund Heinz Lehmbäcker gesandt hat:

Dear Henry

ich habe zu danken für zwei Briefe, vom 12. und 27. des vorigen Monats, auch für Glückwünsche zu einem Tag zwischen den beiden. Dieser 20. Juli ist mir in einem recht frühen Sommer abhanden gekommen. 1944 war ich in eine »Nationalpolitische Erziehungsanstalt« getan, eine Kaserne von einem Internat, da wurde den halben Tag Sport als Heeresdrill betrieben, auch die Freizeit war der militärischen Erziehung gewidmet, so dass ich zu leiden hatte, Brillenträger schon damals. Am 19. befand die »Stube«, ich hätte ihre Ehre durch mangelhaften Bettenbau geschändet, so dass das Geschenk zum Geburtstag in den frühen Morgenstunden erschien als nächtliche Abreibung, »Heiliger Geist« genannt, und ich am Abend recht erleichtert war über die Nachricht, in Berlin sei die Regierung abgeschafft worden, in deren Sinne Kinder der Maßen abgerichtet wurden. So fällt mir zum 20. Juli immer zuerst ein, und verdrängt das private Datum, dass an diesem Tage etwas zu meinem persönlichen Nachteil schief gegangen ist. Tatsächlich habe ich ihn in diesem Jahr zum ersten Mal zu begehen versucht. Aber in dem Luftkissenfahrzeug zwischen Dover und Frankreich, dieser fliegenden Garage, fiel mir angesichts der vierzig Minuten Reisezeit doch wieder als Hauptsache ein, dass Hitlers Seelöwe zu lahm war für diese Strecke, und in Boulogne-sur-Mer sah ich am deutlichsten an der höckerigen Stadt die vielen Eisenbahntunnel, in der [sic!] Hermann Meier mit seinem Sonderzug Asien sich verkroch, weil er Schiss hatte vor der Royal Air Force, die er längst »am Boden zerschmettert« hatte mit seinem grossen Maul. Nunmehr will ich mich endgültig begeben in die Einsicht, dass mir dieser Tag beschlagnahmt ist.

Daß Uwe Johnson in diesem Brief seinen Geburtstag am 20. Juli mit dem gescheiterten Attentat auf den »Führer« zusammensieht und Göring nennt, wie dieser genannt zu werden wünschte, sollte er nicht die Luftherrschaft über England erringen – das schuldet sich natürlich dem politisch reflektierten, sarkastischen Bewußtsein des nunmehr 47jährigen Autors. Dennoch wird deutlich: Der Knabe Johnson war kein Hitlerjunge Quex. Vielmehr einer, den die Quexe drangsalierten, wofür es verschiedene Gründe gab. Zunächst: Johnson besaß zum Sport ein ausgesprochen delikates Verhältnis. Weiterhin: auf der Comenius-Grundschule hatte man den Konflikten noch durch Auswendiglernen entgehen können. Darüber berichtet auch die Gesine der Jahrestage ihrer Tochter Marie. Schon damals war Johnson ein langaufgeschossener Leptosomer, schlaksig und schielend. Als einer, der zudem leidenschaftlich las, und zwar seine »private« Lektüre, war er ein nachgerade prädestiniertes Objekt des Gehänselt-Werdens. Das um so mehr, als er sicherlich sein Handikap durch gute Schulleistungen auszugleichen trachtete. Die Photos des jungen Studenten zeigen eine deutliche Narbe unter dem linken Auge. Als Teil von Achims Jugenderfahrung hat Uwe Johnson im Dritten Buch jene Passage niedergeschrieben, in der wir ihn erneut in Kosten vor uns sehen:

In der Schule schloß er lange keine neuen Freundschaften, der Briefwechsel mit den zurückgelassenen wurde aber ratlos. [...] So übertrieb er den Eifer im Unterricht wie bei den Schularbeiten bis nahe an den Platz des Klassenersten; drei Mitschüler lauerten ihm auf an der nachmittäglich unbegangenen Straßenecke und schlugen ihn zusammen, ein scharfkantiger Stein hinterhergeworfen riß ihm die Schläfe weit auf, das ist diese Narbe am linken Auge. [...] Immerhin war ich doch ziemlich verletzt: sagte er, und: Bedenke mal daß wir die reinen Kinder waren. (Drittes Buch, S. 90 ff.)

Sie erschienen als die reinen Kinder, diese zehnjährigen »Jungmannen«. Und müssen einander dennoch im Stil der staatlicherseits gewünschten »Blonden Bestie« Nietzsches zugesetzt haben. Des Mecklenburgers Erfahrung war eine generationstypische. Das macht auch die literarische Qualität der entsprechenden Passagen etwa im Dritten Buch aus. In Fritz Rudolf Fries’ Weg nach Oobliadooh, in einem Roman also, den sein Autor selbst als Antwort auf die Mutmassungen verstand und den kein anderer als Uwe Johnson half, dem Suhrkamp Verlag zur Publikation zu vermitteln, erscheinen ganz ähnliche Erfahrungen aufbewahrt:

Paasch vortreten, sagt der Lagerälteste. [...] Die Fahne steigt in den Himmel, reißt ein schwarz-rot-weißes Loch ins Weiß der Morgenstunde. [...] Paasch ist an der Reihe. Er tritt aus dem Karree der Geborgenheit. Jemand verbindet ihm die Augen, führt ihn an den Rand der Grube, über die zu springen es gilt, ohne ihre Ausmaße zu kennen. Der Älteste pfeift. Paasch springt, fällt ins Bodenlose. Die Meute johlt. Der Lagerälteste pfeift ab. Paasch kann zurücktreten, taumelnd. (Fries, Obliadooh, S. 44)

Der Sport als Kampf und Krieg dominierte den Alltag dieser Anstalten. Daneben stand der Unterricht mit einem Stundenplan wie dem folgenden, der auf der NaPoLa im ostpreußischen Stuhm galt:

Deutsch 4 Wochenstunden
Geschichte 3
Erdkunde 2
Latein 4
Englisch 5
Mathematik 3
Physik 2
Chemie 2
Biologie 2
Kunsterziehung 2
Musik 1
Sport 5 (Überhorst, Elite, S. 180)

Selbstverständlich kann der Knabe Uwe Johnson von solcher Ausbildung nicht gänzlich unbeeinflußt geblieben sein, zumal sie sich an durchaus avancierten pädagogischen Modellen ausrichtete. Wie immer auch ideologisch der Blick nach rückwärts gewandt war, bezog die Pädagogik von Hitlers Sonderschulen die damals ganz modernen Medien Film und Rundfunk mit ein – und zwar in einem ganz erstaunlichen Ausmaß. Diese Eliteschulen erschienen als ein getreues Spiegelbild des »Dritten Reichs«, waren ideologisch einem vorindustriellen Denken, technisch und pädagogisch aber dem Modernsten, das damals überhaupt erreichbar erschien, verpflichtet. Insonderheit der »bildnerischen und handwerklichen Erziehung« räumten diese Anstalten einen breiten Raum ein. Dabei ging es ihnen immer um die Wahrnehmung von Geschichte im Gegenwärtigen, um das Erkennen des Symbolischen im Alltäglichen. Sehr früh bereits wird Uwe Johnson einen frappierend genauen, einen förmlich archäologisch sezierenden Blick für symbolische Komponenten in allen Erscheinungen entwickeln. Johnsons Darstellung der mecklenburgischen Landschaft in ihrem mythisch-geologischen Aufbau in den Mutmassungen legen Zeugnis davon ab. Gleiches tut die Heimatinnigkeit der Babendererde. Man mag sich gegen diese Erkenntnis sperren: Der Schriftsteller Johnson wird von der Kunsterziehung in der Kostener »Heimschule« nicht unbeeinflußt geblieben sein. Die Pädagogen des »Dritten Reichs« wußten nur zu genau, wie eine ästhetische Macht der Kunst sich politisch instrumentalisieren läßt:

Uns leitet dabei die Erkenntnis, daß Symbol und Bildwerk über die Herzen und Handlungen der Menschen wieder die Macht einer großen schöpferischen, von einer festen sittlichen Wertordnung getragenen Zeit gewonnen haben. Wenn aber 400 Jungen 8 Jahre hindurch täglich vor einem Glasfenster, dem von Langemarck oder dem des 9. November oder unter den 18 schmiedeeisernen Leuchtenböden des großen Saales sitzen, auf denen der Sinn dieses Geschehens in gestalteten Symbolen, Namen der Toten und Zahlen bis zum Sieg der Bewegung im Sudetenland eindeutig geformt ist, dann bildet das bei allen Jungen eine einzige Vorstellung. (Überhorst, Elite, S. 197)

Wer will das bestreiten? Und was im Kopf dieser Jungen dann eine »einzige Vorstellung« gebildet haben muß, ist zumindest in Umrissen rekonstruierbar. Der Wille, Symbole zu schaffen und dadurch die jugendlichen Gemüter zu erschüttern, kennzeichnete die Feierstunden und Gemeinschaftsgesänge. Der Tagesablauf der Sonderschulen trat als geschlossene Ereignisfolge auf, die ihren Zielpunkt eben in den Feierstunden hatte. Jeder Tag begann mit dem Wecken um 6.45 Uhr durch eine wütend schrillende elektrische Klingel. Darauf folgten Frühsport und das Duschen, das die verschiedenen Stuben in gehetzter Zeitabfolge durch erst brodelnde Hitze, dann strenge Kälte jagte. Um acht Uhr erhielten die Jungen die erste Portion Symbolik bei der Flaggenhissung verabreicht. Danach: Frühstück. Weitere wichtige Teile des Tages galten dem gemeinsamen Singen, Uwe Johnsons großem Sehnsuchts-Traum in späteren Güstrower Tagen. Es war überwiegend in die abendliche Dunkelheit verlegt, erhellt nur vom mystischen Lodern der Flammen (die »Waberlohe«). Da wird auch Uwe Johnson das Horst-Wessel-Lied gesungen haben, bezwungen vom Wunsch, dieser Gemeinschaft anzugehören. Allabendlich in der Gemeinschaftsstube der »Deutschen Heimschule« in Kosten erhob sich der Gesang der Knaben:

In den Ostwind hebt die Fahnen,

denn im Ostwind stehn sie gut!

Dann befehlen sie zum Aufbruch,

und den Ruf hört unser Blut.

Denn ein Land gibt uns die Antwort,

und das trägt ein deutsch’ Gesicht:

Dafür haben viel geblutet,

und drum schweigt der Boden nicht!

In den Ostwind hebt die Fahnen,

denn der Ostwind macht sie weit.

Drüben geht es an ein Bauen,

das ist größer als die Zeit!

Auch in diesen Zusammenhängen müssen wir uns den »Jungmann« Uwe Johnson vergegenwärtigen. Johnsons Texte werden der Erforschung und Widerlegung beider ideologischer Totalitarismen auf deutschem Boden mit den Mitteln der Ästhetik dienen, dabei sich so kompromißlos, klarsichtig und integer wie nur wenige andere artikulieren. Seine Authentizität gewann dieses Werk auch durch die Teilnahme seines Autors an den Ritualen der Nazi-Macht – zumal vieles davon dann in der ideologischen Adaption Stalins und den Ritualen der DDR-Staatspartei und der »Freien Deutschen Jugend« erneut auftauchte. Heiner Müller, auch er einer, der ein »Leben in zwei Diktaturen« (so der Untertitel seiner Lebenserinnerungen) geführt hat, stellte die Faszination des Horst-Wessel-Liedes direkt neben die der »Internationale«. Auf diese Weise vermochte einer durch beide deutsche Diktaturen hindurchzugehen. Niemand wird glauben, solche Feststellung mache dem Mecklenburger »die Biographie kaputt«. Im Gegenteil: erst solche Biographie verhalf ihm dazu, die innere Wahrheit seines Werkes zu festigen. Die fast unbegreifliche Stärke und Zähigkeit eines jungen Autors, der jahrelang unter denkbar ungünstigsten Bedingungen sein schriftstellerisches Werk vorantrieb, könnte man mit dem Durchsetzungsvermögen in Zusammenhang bringen, das man Uwe Johnson in Kosten antrainiert haben wird. Ihm gelang es, die Ablehnung des ersten Romans mit dem Verfassen des nächsten zu beantworten.

Am Ende des Schuljahres 1944 erhielt der »Jungmann« Uwe Johnson als Beurteilung die folgenden Sätze ins Zeugnis geschrieben: »Er ist ein verständiger, gewissenhafter Junge. Sein Interesse am Unterricht und seine Mitarbeit sind erfreulich.« Ein freundlicher Abschiedsgruß. Und doch hat der Güstrower diese Anstalt später so gehaßt, daß er sie aus seinem Leben in all jenen Lebensläufen ausstrich, die er erst mit dem Jahr 1945 beginnen ließ.

EIN EINSAMER LIEST.

ERSTE BEGEGNUNG EINES FORTGEGEBENEN

MIT DER KATZE ERINNERUNG

Die Facetten von Uwe Johnsons Kostener Dasein ergeben ein erstes Bild von Fremdheit. Daß der Knabe nicht frei gewesen sein kann vom Bestreben, von dieser Gemeinschaft, die ihn quälte, auch akzeptiert zu werden, machte alles nur noch schlimmer. Und dahin war es gekommen, weil seine Eltern ihn fortgegeben hatten. (Der Dichter Joachim de Catt in der Skizze eines Verunglückten wird dann als ein Waisen- und Findelkind in die Skizze geraten, als vermutlich ein Jude noch dazu.) In den Kostener Tagen könnte sich jedenfalls eine traumatische Erfahrung ereignet haben, die Johnsons Werk prägen sollte. Zumal sie sich, wenn auch unter anderem Vorzeichen, 1959 wiederholen würde: daß einem die Politik die Heimat nimmt. Daß man also »Heimat« immer schon im Zeichen vorweggenommenen Abschiedsschmerzes erleben mußte. Daß man im Gedächtnis zu bewahren angehalten war, was real jederzeit verloren gehen konnte. Die Babendererde wird mit folgenden Sätzen schließen:

– Wir werden ja sehen was an diesem ist: sagte Klaus. Sie würden ja sehen was an diesem war. Ob sie es vergessen hatten über ein Jahr, und ob das schlimm sein würde. Ob Ingrid dies gespreizte Gestab des Fensterschattens und ob Klaus Ingrids Hand an seiner Schulter und ob sie das Poltern der Ruder von vorhin mit dem eigentümlichen Ton von Rudern im Boot vergessen haben würden, und ob das schlimm sein würde. Und das Flirren der Fliederbüsche unter dem leichten Wind und das Schaben der Boote am Steg und das leise Getropf im Schleusenbecken. (Babendererde, S. 247)

Und, und, und. Es würde schlimm sein. Und es würde zugleich gar nicht schlimm sein, da der – vorausgewußte – Verlust seinerseits die Katze Erinnerung auf den Plan rief. Als Klaus im Erstling fortgeht und das Licht löscht, leuchten auf dem Dachboden der Niebuhrs die Augen der Katze auf: um dann erst mit dem Ausgang der Jahrestage wieder zu verlöschen.

Die Fremdheitserfahrung in Kosten war zudem eine ambivalente: Gegenüber den anderen »Jungmannen« stellte Uwe Johnson einerseits den verweichlicht Lesenden dar. Hochgewachsen und blond, angetan mit der blauen Ausgehuniform, erschien er andererseits als der germanische Herrenmensch – Eliteschüler eines völkermörderischen Regimes. In dieser paradox zugespitzten Situation hat Uwe Johnson die Literatur entdeckt. Und bleibt als der Lesende der unaufhebbar Fremde par excellence. Wie Johnson sich selbst dabei erlebt hat, dokumentiert sich auch in einem Beitrag, den er 1976 für die Ersten Lese-Erlebnisse verfaßte, die sein Verleger unter den Autoren seines Verlages gesammelt hat und wo Uwe Johnson just diese Kostener Erfahrungen zu Protokoll gegeben hat:

Von den polnischen Kindern beschmissen mit Steinen oder gefrorener Hundescheiße (denn es ist Januar), geht der Jungmann durch die zivilistischen Straßen auf die Leihbücherei, das Buch zurückzugeben, das er errungen hat unter heftiger Anschnauzerei von seiten der staatlich angestellten Frau, ehemals von Beruf Dame. Ein Buch über die Rückzugsgefechte der nordamerikanischen Indianer, bedeckt mit einem löcherigen Mantel von Wissenschaft; das Papier ist solider. Daneben die getürkte Autobiografie Hermann Görings. So viel weiß man schon, aber mit zehn Jahren nehmen sie einen nicht für Bibliografie. Wer liest, ist ungesund am Körper. Privates Lesen ist Verweichlichung. (Lese-Erlebnisse, S. 108)

Der Mecklenburger bezog sich dabei implizit auch auf die – im gleichen Sammelband veröffentlichten – Leseerinnerungen Martin Walsers. Walser hatte Hölderlin auf dem großväterlichen Dachboden, bei gleichzeitigem Blick auf die Berge jenseits des Bodensees, entdeckt. Johnson dagegen bietet uns Kosten im Januar. Und, wenn diese Zuspitzung erlaubt ist: Hundescheiße statt Hölderlins Hymnen.

Johnsons Sarkasmus zeigt den lesenden Knaben als Außenseiter der eigenen Gruppe. Selbst die Feinde seiner Gegner konnten ihn nicht akzeptieren. Die Reflexion solch doppelter Fremdheitserfahrung, ihrerseits zum Motor des Erzählens selbst geworden, wird dann die Jahrestage als Johnsons letztes und abschließendes Werk vorantreiben. Im New-York-Epos gilt der »Genosse Schriftsteller«, der ja auf seine Art ein Opfer der Nazischule war, den jüdischen Emigranten, sie versammeln sich in New York unter der Leitung des Rabbi Prinz, ehemals Berlin-Dahlem, als ein besonders germanisch aussehender Deutscher – gleichgültig, was dieser Redner ausführen mag. »Germanisch« schaute der Vortragende ja auch aus, verstärkt durch die schwarze Lederjacke, mochte diese in Wahrheit auch eher das Gegenteil ausdrücken: Johnsons Brecht-Verehrung. Ich zitiere bereits in diesem Zusammenhang eine Erinnerung Helen Wolffs an ihren Autor, Freund und Protegé Uwe Johnson in dessen New Yorker Zeit (hier wie auch sonst sollen die Erinnerungen Helen Wolffs im englischen Original wiedergegeben werden. Das Englische ist die Sprache dieser Emigrantin auch darin geworden, daß ihr darin gleichermaßen pointierte Formulierungen wie im Deutschen gelingen):

On another plane, he found here something he was looking for – the historical past that obsessed him. On the Upper West side, where he lived, he met, in density, survivors of his country’s mass murderings, and he responded to them with a mixture of fascination and guilt – the latter totally misplaced, of course, since he was a child when the war ended and by fact of date innocent. One episode to stand for many: Johnson used to take an occasional meal at a Jewish Cafeteria on Broadway, sitting in a corner, as he thought unobtrusively, but all the same conscious of his Teutonic appearance, enhanced by the inevitable leather jacket. A Jewish family took a table close to him, then began eying him suspiciously or so he thought. He immediately got up and retreated, but in a way that no one could misinterpret: He walked slowly backward toward the door, all the time turned toward the family and ceaselessly bowing in a gesture of regret and respect.

Mit einer Mischung aus Faszination und Schuld reagierte Uwe Johnson auf die Anwesenheit der Opfer des Holocaust in New York. Diese Konfrontation wird dazu führen, daß er seine eigenen Wurzeln in der deutschen Geschichte genauer wird ergründen wollen. In dieser Konstellation, wenn auch angesiedelt im weit prinzipielleren Bereich des entscheidenden deutschen Verbrechens: dem Holocaust, erkannte der angehende Autor der Jahrestage neben anderem auch Facetten seiner vormaligen Befindlichkeit in Kosten. Damals eilte er, wie zitiert, durch die Straßen der Stadt, mit Hundekot von den Einheimischen beworfen, auf dem Weg, sich eine Lektüre zu besorgen, die ihn zum Außenseiter der eigenen Gruppe machen würde. Die schockartige Entdeckung, daß man, obwohl an den Verbrechen der Nazis unschuldig, den Juden dennoch als blonder Deutscher und Mitverantwortlicher für den Genozid erscheinen mußte, wird dann den Erzählpakt zwischen Gesine und Johnson mitbegründen.

In der beschriebenen Kostener Situation muß sich etwas wie die »Konditionierung« des Erinnerungs-Schreibers Uwe Johnson ereignet haben. Wenn dies so war, kam diese »Konditionierung« aus der Situation des abgeschiedenen Lesens heraus zustande. Aus einem Lesen, das zudem im Bewußtsein ausgeübt wurde, Verbotenes zu unternehmen. Solches mit Schuldgefühlen beladenes Lust-Lesen hatte der Zehnjährige bereits zu Hause praktiziert:

Das war ein weltvergessenes Lesen, fiebrig, süchtig, übrigens durchaus in dem wahnwitzigen Wissen, dass die dort geschilderten Personen unwahrscheinlich waren, ihre Handlungen wenig zu empfehlen, kaum wünschenswert. Dies an die Empfindung von Sünde reichende Bewusstsein wurde nur notdürftig beruhigt von der mechanischen Stimmigkeit, in der die Erzählung jeweils sich zusammenfasste. Im Grunde verdankte sich die Faszination der immer von neuem staunenden Einsicht, dass die Namen auf dem Titelblatt einmal wirklich gewesen waren, bis zum Nachweis der Anmeldung bei der Polizei, dass es also Menschen gab, die sich die Welt selber machen können. (Begleitumstände, S. 34)

Der Knabe würde schließlich selbst einer jener Menschen werden, die »sich die Welt selber machen können«: als Autor zur Phantasieproduktion fähig und darin immun gegen den abrupten, früh und traumatisch erfahrenen Verlust alles Vertrauten. Uwe Johnsons große Entdeckung aus dem Jahr 1944, dem Jahr seiner ersten in die Tiefe reichenden lebensgeschichtlichen Verletzung, lautete, in einen den Begleitumständen entnommenen Satz von evangelischer Heilsintensität gefaßt: »Dies war ein Mittel gegen die Zeit, zumindest gegen ihr Vergehen.« (ebd.)

Wenn, wie Erik H. Erikson es als verbreitete Auffassung durchgesetzt hat, die geglückte Beziehung zur Mutter ein »Ur-Vertrauen« zu begründen vermag, ruft deren Mißglücken gewiß das Gegenteil hervor. Wenn die Mutter den Knaben fortgibt, vermag das Opfer dies nur als tiefste Untreue, als Verrat auszulegen. Ein »Ur-Mißtrauen« kann daraus resultieren, das dann lebenslang durch »Verträge« jener früh erfahrenen mangelnden Verläßlichkeit in allen emotionalen Beziehungen aufzuhelfen versuchen wird. Die erste, schreckliche Verlusterfahrung vermag auf der Seite des Kindes das Streben nach Bewahrung des einmal erlebten Schönen hervorzubringen. Kann womöglich ein kognitives Verhalten begründen, das zur Voraussetzung für alle Erinnerungs-Literatur gerät, ein zunächst noch magisch verstandenes Mittel zur Bannung allgegenwärtig drohenden Verlustes?

Ein Vorgriff auch auf die Jahrestage als die summa des Johnsonschen Schreibens erscheint hier am Platz. Die »Katze Erinnerung« tritt, ausführlicher geschildert, zu gerade dem Zeitpunkt in Gesines Leben ein, als Lisbeth diesem ein Ende machen will. Im zweiten Band der Jahrestage steht die folgende Beschreibung zu lesen, die die lebensgeschichtliche Genese des Katzen-Symbols poetisch konkretisiert, in Form einer Geschichte, einer Parabel fast, erzählt. Wie hatte Uwe Johnson gesagt: »Man hat kein anderes Material als seine eigenen Erfahrungen.«

Der Deckel aber war neu, den hatte Cresspahl gemacht, damit ich nicht einen Küchenschemel anschleppte und darauf ins Wasser stieg. – Wenn er fehlte, konnte das ein Versehen sein. Von einem Fremden, ja. Wer aber zum Haus gehörte, wußte das mit der Katze und mir. Es war ein großes graues Biest, massig und faul. Als Cresspahl die Pinnowsche Scheune zur Werkstatt umbaute und in der Futterkammer bei seinem Werkzeug schlief, hatte diese Katze ihn besucht und war bei ihm geblieben. [...] Ich wollte sie zum Spielen überreden; sie aber lag lieber innen am Küchenfenster und besah sich die Vögel. Sie war auch alt, nicht bloß träge. Das Kind stand oft da draußen, hatte den Kopf im Nacken, sah zur Katze hinauf und redete mit ihr, und die Katze sah mich an, als wüßte sie ein Geheimnis und würde es mir doch nicht sagen. [...] – Und deine Mutter, deine Mutter stand dabei? – Ja. Nein. Wenn ich daran vorbeidenke, sehe ich sie. Sie steht dann vor der Hintertür, trocknet ihre Hände in der Schürze, wringt ihre Hände, eins kann das andere sein. Sie sieht mir zu wie ein Erwachsener sich an einem Kinderstreich erheitert und wartet wie er ausgeht [...] – Und sie rührte sich nicht. – Da war ich längst unter Wasser. Ich hatte immer noch ihr Bild bei mir; erst dann fiel mir auf, daß in dem runden Tonnenschacht nur der Himmel zu sehen war. – Dann zog sie dich raus. – Dann zog Cresspahl mich raus. (Jahrestage, S. 617 ff.)

Johnsons »Person« Gesine, als sie noch ein Kind war und ihrerseits vom Ertrinken bedroht, erblickt die Katze, wie man etwas zum ersten Mal ansehen kann, das einem längst vertraut erscheint. Der größte aller Verluste setzt das Symboltier der Johnsonschen Erinnerungs-Literatur mit schockartiger Plötzlichkeit auf seinen Platz. Weil alle Geborgenheit als bedroht und trügerisch erfahren wird, bleibt nur, das Bedrohte im Gedächtnis aufzuheben. Daraus resultiert ein permanentes Eingedenken, entspringt die Erinnerungsliteratur, die Uwe Johnson nun zeitlebens schreiben sollte.

EINE GÖTTERDÄMMERUNG:

KRIEGSENDE UND VOLKSSTURMMANN ERICH JOHNSON

Im realen Leben des Uwe Johnson lief nun alles auf die Auflösung der »Heimschule« im Januar/Februar 1945 zu. Die NaPoLas wurden in aller Regel geordnet aufgelöst, die Schüler nach Hause überführt. Doch gab es im Osten Fälle verzweifelten Widerstands. Uwe Johnson wird noch 1975 aus diesen Tagen der Kostener Götterdämmerung erinnern, daß er die Stadt nicht mitverteidigen »durfte«. In Erste Lese-Erlebnisse hat Johnson darüber hinaus benannt, was es, neben dem blanken Leben, zuallererst vor der heranrückenden Roten Armee zu retten galt: das Buch.

Mittags ist Appell. Alle über vierzehn dürfen die Stadt verteidigen. Die unter vierzehn dürfen bis Einbruch der Dunkelheit behilflich sein im Ausheben von Panzergräben. Bei Lampenlicht sind die Jungmannen aufgestellt vor der Karte des Generalgouvernements, Hände und Rükken beherrscht durch die blaue, die Ausgehuniform, und diskutieren die geographischen Gewinne des Gegners (»der Russen«), statt sie nach den gekrümmten Pfeilen zu betrachten. Vor dem Abendessen wird die Schule geteilt, die jüngere Hälfte packt ein. Das Buch liegt im Koffer obenauf, in einem Griff erhältlich für die Rückgabe. Der Koffer steht auf den unebenen Steinen des Marktplatzes, im Schnee. (Lese-Erlebnisse, S. 108)

In Johnsons zweitem, nüchtern gehaltenem »Leipziger« Lebenslauf steht: »Ich verliess Kosten im Januar 1945 vor dem Einrücken der Roten Armee.« Während die letzten, verzweifelten Abwehrkämpfe vor sich gingen, zog Uwe Johnson mit einem Treck nach Westen. Die Trecks bewegten sich, nachdem bereits am 12. Januar 1945 der mittlere Teil der Ostfront bei Baranow zusammengebrochen war und die besetzten Gebiete Polens für die Sowjets offen dalagen, zahlreich durchs Land. Massenhafter Tod umgab sie. Die deutsche Bevölkerung aus den östlichen Gebieten floh bei schneidender Kälte nach Westen. Helen Wolff erinnert sich:

Entscheidend, und mir mehrfach erzählt, war für den Elfjährigen, der das offenbar am Straßenrand beobachtet hatte, das Zurückfluten des geschlagenen deutschen Heeres und die Flucht von Bevölkerungsmassen. Er hätte, sagt er, bis zu diesem Augenblick alles geglaubt, was man in der Schule (und wohl auch im Elternhaus) von Deutschlands Unbesiegbarkeit und dem Feldherrngenie des Führers propagiert hatte. (Wolff in: »Wo ich her bin ...«, S. 157)

In Recknitz, wo die Familie Johnson auf ihrem Weg nach Westen Zuflucht gefunden hatte, angekommen, erblickte ein jugendlicher Zeitzeuge die folgenden Bilder:

Hinter dem Gemeindewald steht ein Schloss, darin spukt es. Das ist der Tod, der dort vorspricht bei den Flüchtlingen; mit den Trecks aus dem Osten ist die Typhusseuche angekommen. Am Schloss ist ein Begräbnisplatz nur für Personen gräflichen Standes. So werden die Toten auf Erntewagen ins Dorf gebracht, wie Fracht gestapelt, wie Abfall verscharrt. Ein elfjähriges Kind sieht von der Kirchhofmauer aus heimlich zu, da rutscht das Bein einer jungen weiblichen Leiche für einen Augenblick aus der Zeltbahn, bevor der Körper aufschlägt und das schmierige Tuch zurückgezogen wird aus dem Massengrabloch. [...] Von einer Achtzehnjährigen heisst es, in bedauerndem Ton: Gerade Insa war so eigen mit dem Wasser – ein Kind versteht sofort, dass Insa liegt, krank auf den Tod, mit einer Trauer um Insa wird fortan gefälligst weitergelebt, bis zu dem Augenblick dreissig Jahre später, wenn jemand aufsteht und sich weigert, gestorben zu sein, abermals vergeblich. (Begleitumstände, S. 29)

Daß es sich, wie von P. Nöldechen vermutet, bei dem »Schloß« um das Bothmersche, bei Klütz gelegene handelte, ist eher unwahrscheinlich. Gewiß war dort bei Kriegsende ein Typhushospital eingerichtet. Doch der Knabe Johnson, von Anklam aus nach Recknitz treckend, kann schwerlich dort vorbeigekommen sein.

Die Bilder des Grauens können nichts daran geändert haben, daß Uwe Johnson den Abschied aus der »Heimschule« auch als Befreiung empfunden hat. In Anklam kann er sich, wenn überhaupt, nur wenige Tage aufgehalten und die, allerdings nicht mehr vollständige, Familie angetroffen haben. Es fehlte der zum »Volkssturm« eingezogene Vater – womit für Uwe Johnson ein »Zurückgesetztsein« als vaterloses Kind begann:

So ist es erspriesslich für ein Kind, wenn es allezeit zu sagen weiss, wo der Vater sich aufhält, tot oder lebendig; werden oder bleiben dessen Bewandtnisse ungewiss, so hat der Sohn sich zurückgesetzt zu fühlen für die Zukunft. (Begleitumstände, S. 32)

Uwe Johnson, zunächst in Recknitz und dann in Güstrow, würde von nun an nicht mehr allzeit zu sagen wissen, wo sein Vater verblieben war. Im Gegenteil: dessen Verschwinden blieb nicht nur unaufgeklärt; ihm mußten von nun an auch taktisch wohldurchdachte Äußerungen in den Lebensläufen und Schulgesprächen des Schülers gelten. Die Restitution der Vaterfigur, die Erkundung ihres Ergehens und ihrer »Schuld«: Sie mußte dem Sohn zwangsläufig zu einem weiteren Hauptmotiv seines späteren Schreibens geraten – was von der Einführung des Heinrich Cresspahl in den Mutmassungen bis hin zu den Jahrestagen gilt.

Mit Gewißheit rekonstruieren läßt sich, daß Uwe Johnsons Vater noch unmittelbar vor Kriegsende zum »Volkssturm« einberufen wurde. Der »Volkssturm« spielte vor allem an der Ostfront zu diesem Zeitpunkt eine gewisse Rolle. Es handelte sich dabei um das buchstäblich letzte Aufgebot Adolf Hitlers. Während an der Westfront inzwischen jede Motivation zur Fortsetzung fehlte, erschien das in den Landstrichen, die später die »verlorenen Ostgebiete« heißen würden, noch anders. Hier wirkte die Furcht vor der Roten Armee mobilisierend. Auf sie konnten die Strategen des »Volkssturms« bauen. Am 27. September 1944 erging Hitlers Erlaß über die Bildung des »Volkssturms« an sämtliche Gauleiter. In den letzten Septembertagen muß er auch in Anklam in Erich Johnsons Kenntnis gelangt sein. Der Stil dieses Wagner-Oper-Imitats wird dem Oberkontrollassistenten in den Ohren geklungen haben: er, dicklich gewiß und inzwischen 44 Jahre alt, erfahren vor allem im Umgang mit Rindvieh und Molkereiprodukten, sollte nun das »Versagen aller europäischer Verbündeten« ausgleichen. Und die heranrollende »rote Flut« aufhalten.

Auf diese Weise wurde der 44jährige Erich Johnson doch noch zum Soldaten. Er sollte, laut Ausbildungsordnung, den Granatwerfer »vollständig« beherrschen und seine Handgranaten im »Zielwurf« einsetzen können. Das besagte die Theorie. In der Praxis wird Erich Johnson mit einem Spaten bewaffnet gewesen sein und vielleicht noch mit einem italienischen Beutegewehr. Er wird seine braune Parteiuniform zum Einsatz feldgrau umgefärbt haben. Der Farbstoff M44 stand zu diesem Zweck in großen Mengen zur Verfügung: die einzige »Wunderwaffe«, die der »Führer« noch bis zur Produktionsreife voranzutreiben vermocht hatte. Sie werden ihm weiterhin das Soldbuch und die vorgeschriebene schwarzweiß-rote Armbinde mit der Aufschrift »Volkssturm« ausgehändigt und ihn, das war ebenfalls vorgeschrieben, nicht weit von seiner Heimat eingesetzt haben. »Nicht weit von der Heimat«: das bedeutete die Ostfront. Der Oberkontrollassistent Johnson erschien damit zu einem ordentlichen Kombattanten gemäß der Haager Landkriegsordnung avanciert. Nach deutscher Lesart. Die Sowjetarmeen sahen das anders.

DAS VERSCHWINDEN DES VATERS – EIN LEBENSRÄTSEL

Über Erich Johnsons Kriegserlebnisse wissen wir nichts Sicheres. Es ist jedoch gewiß, daß er dem Soldatentod und der Gefangennahme entging. Auch, daß er nach Anklam zurückkehrte. Erich Johnson könnte es wie dem Zeugen Hoffart ergangen sein, der seinerseits dem »Volkssturm« Kosten zugehörte:

Ausladung in Warthbrücken. Über Nacht Einquartierung in Barackenunterkunft. Am 21. 1., 4 Uhr, Ausgabe von 72 Schuß Munition je Mann. Um 14 Uhr meldete ein Posten Annäherung der Russen. Die Kp. griff den Gegner an, wurde jedoch im Gegenangriff zurückgejagt. Munition bald verschossen, zahlreiche unerlaubte Entfernungen, ein Teil der Kp. geriet in Gefangenschaft. Hoffart schloß sich mit einigen Versprengten einem Treck an.

Erich Johnson mag sich ebenfalls mit anderen Versprengten einem Treck angeschlossen haben. Jedenfalls fand der Heimkehrer seine Familie in Anklam noch vor. Das geht aus persönlichen Aufzeichnungen einer damals 22jährigen Anklamer Kindergärtnerin hervor. Mira Jaeger erinnert sich, daß ihre Familie mit den Johnsons zusammen Ende März/Anfang April 1945 von Anklam nach Recknitz treckte: und zwar mit der zu diesem Zeitpunkt noch vollständigen Familie Johnson. Man wurde teilweise auf Lastwagen der zurückflutenden deutschen Armee befördert. Führte auch eigene Fahrräder mit. Kam dabei an Plakaten vorbei mit Aufschriften wie: »Panzerfaust und deutsche Landser sind stärker als die roten Panzer!« Recknitz erreicht, stieg man bei Uwes »Onkel Milding« in der Schmiede ab. Seit dem Februar 1945 lautete, gemäß Uwe Johnsons eigenem Lebenslauf, die Wohnsitzangabe »Recknitz, Schmiede«. Milding wird 1952 sterben. Er war der NS-Blockwart des Dorfes gewesen. Die ehemalige Kindergärtnerin erinnert sich weiter:

Seine Frau, eine stattliche Person mit großflächigem Gesicht, das blonde Haar zu einem Dutt geflochten, sah ihrem Bruder, Herrn Johnson, meine ich, sehr ähnlich.

Das Willkommen war offenbar nicht allzu herzlich, insbesondere nicht für Uwe Johnson. Denn es heißt in Mira Jaegers Aufzeichnungen weiter:

Die Verwandten nahm er ja noch in Kauf, obwohl er an Uwe immer etwas auszusetzen hatte. [...] Einmal, als Uwe, was selten geschah, während eines Gesprächs etwas dazu sagen wollte, brüllte der Schmied: »Du höllst din Muul!« Andererseits, wenn Uwe auf Fragen nur nickte, kam unweigerlich: »Kriggst du din Muul nich up?«

Der Schmied und der angehende Intellektuelle scheinen einander nicht sonderlich grün gewesen zu sein.

Etwa zwei oder drei Wochen nach der deutschen Kapitulation (8. Mai), Ende Mai oder Anfang Juni also, gingen Erna und Erich Johnson noch einmal zurück nach Anklam, um zu sehen, ob »die Luft rein« und das Haus noch am Stehen sei. Von dieser Reise kam dann lediglich die Mutter nach Recknitz zurück. Denn als Erich Johnson zum Walmdachhaus in »Mine Hüsung« zurückkehrte, muß er direkt in eine Falle gelaufen sein. Die Stadt war, wie inzwischen auch Recknitz, von der Roten Armee besetzt. Dem Recknitzer Schmied geschah noch im selben Jahr 1945, allerdings nur für kurze Zeit, was Erich Johnson widerfuhr: sowjetische Haft als »Politischer« im von den Siegern übernommenen KZ Neubrandenburg. Warum nun stieß Uwe Johnsons Vater dieses Schicksal zu? »Onkel Milding« schien stärker vorbelastet und kehrte doch sehr schnell wieder nach Recknitz zurück. Erich Johnson dagegen wurde nach Rußland deportiert und starb dort 1946, im März vermutlich. Hier liegt ein Rätsel in Uwe Johnsons Biographie. Das mußte die Phantasie, auch die des Sohnes, anziehen – zumal bereits der Knabe von Onkel Mildings Schicksal und dem anzunehmenden Verschwinden des eigenen Vaters im gleichen KZ »Fünfeichen« mit Sicherheit gewußt hat.

Dieser Tatbestand zeigt sich zunächst einmal in den Lebensläufen. Der erste »Leipziger« Lebenslauf, wir haben ihn schon kennengelernt als einen, der noch die deutliche Handschrift der Mutter trug, spricht ausdrücklich davon, daß der Vater als »Mitglied des ›Volkssturms‹ gefangengenommen« wurde. Das erscheint aber als offensichtliche Irreführung. Hätten die Sowjets Erich Johnson gefangengenommen, er wäre in einem Kriegsgefangenenlager oder, das geschah Anfang 1945 noch häufiger, als Partisan vor einem Erschießungspeloton gelandet. Doch solches Schicksal blieb Erich Johnson erspart. Johnsons zweiter »Leipziger« Lebenslauf schrieb denn auch ganz nüchtern: »Mein Vater wurde bei seiner Rückkehr nach Anklam im Juni 1945 interniert.« Alle Zeugenaussagen sprechen für die zweite Version; sie kann als gesichert angenommen werden.

Erich Johnson kehrte mit seiner Frau nach Anklam zurück und wurde in »Mine Hüsung« von den Sowjets verhaftet. Danach wurde der Mann erst nach Neubrandenburg, dann nach Kowel in die Ukraine verbracht, wo er verstarb. Eine weitere, signifikante Änderung in des Sohnes Leipziger Lebensläufen weist in diese Richtung: Spricht noch der erste Lebenslauf bezüglich des Todes des Vaters von den »Aussagen eines entlassenen Kriegsgefangenen«, so korrigiert das der zweite, verfaßt vom nun mündigen Sohn, der jetzt formuliert: »nach Aussagen Zurückgekehrter«. In der Tat war jener Paul Hermann Friedrich Rammin, der dann am 27. Januar 1948 vor dem Standesamt Anklam den Tod des Erich Johnson auf seinen Eid nahm, keineswegs ein Kriegsgefangener. Ihn hatten die Sowjets vielmehr ebenfalls in Anklam interniert. Auch er gab einen »Politischen« ab, aus welchen Gründen auch immer. Im Juni war Rammin nach Rußland verbracht worden, zusammen mit Uwe Johnsons Vater. Per Postkarte würde er sich später, ein Davongekommener, bei Erna Johnson melden.

Nicht zufällig scheinen die zentralen Änderungen in Johnsons selbstverfaßten Lebensläufen stets bezogen auf das ungeklärte Schicksal des Vaters. Offensichtlich ist auch, daß die Mutter in dieser Hinsicht etwas verbergen wollte. Sie wird Rücksicht auf die Behörden der DDR genommen haben. Ein kriegsgefangener Mann erschien weniger belastend als ein »Politischer«. Doch möglicherweise bestand darin gar nicht der einzige Grund. Eine Aussage nämlich lautet:

Sie [die Familie Johnson] sind ja, bevor die Rote Armee in Anklam einrückte, ’rausgegangen aus der Stadt. Und da soll in ihrer Wohnung eine SA-Uniform gelegen haben – offen auf dem Tisch. Und es wurde gesagt, das ist ihr zuzutrauen, daß sie das aus »Gnatz« gemacht hat

– also aus Trotz, um ihre Ungebrochenheit den nun siegreichen sowjetischen Truppen gegenüber darzutun. »Nun erst recht.« Das würde selbstverständlich die Inhaftierung Erich Johnsons als »Politischer« statt als Volkssturmmann erklären. Und seine Frau hätte ihn zum Ort der Verhaftung begleitet, diese durch den Besuch in Anklam geradezu herbeigeführt? Die geschilderten Umstände ließen das Verschwinden des Vaters zu einem Geheimnis geraten, in dem »Verrat«, Versehen und Unglück gleichberechtigt – und eigentlich ununterscheidbar – nebeneinander zu stehen kamen.

»Aber«, so relativiert die zitierte Zeugenaussage ihren eigenen ersten Part, »es gab noch eine zweite Lesart. Daß das aus Wut die Hauswirtin gemacht hatte, mit der sie stets auf Kriegsfuß stand. Und das war allerdings auch eine sehr rabiate und zänkische Frau, mit der aneinanderzugeraten war nicht so übermässig schön.« Also hätten wir es mit »zwei on-dits, die einander aufheben«, zu tun. Kaum verwunderlich auch, daß »kein Mensch, jeder hat mit sich zu tun, [...] den Sachverhalt« überprüft hat. Auch in dieser Annahme hat Anneliese Klug, Uwe Johnsons Anklamer »Kindermädchen«, gewiß recht. Selbst Uwe Johnsons Schwester Elke hat sich zunächst geweigert, zur Biographie ihres Bruders beizutragen. Später, in Kenntnis der Druckfahnen dieses Buchs, hat sie die folgende Version niedergeschrieben:

Nach der Verhaftung verschwand unsere Mutter für lange Zeit, wochen-, vielleicht monatelang, so schien es mir. Wissen Sie, wo sie war? Sie reiste den Gefangenentransporten hinterher, um zu sehen, was aus ihrem Mann wird. Reisen in dieser Zeit war kein Absteigen in einem Hotel, mit ordentlichem Frühstück; reisen kann man das auch nicht gut nennen; Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung. Sie schlief in Parks und auf dem offenen Feld, zu essen hatte sie wenig, gelegentlich hat sich einer erbarmt, ihr was zu essen gegeben und manchmal ein Bett. Sie gab erst auf, als der Transport bei Frankfurt/Oder über die Grenze ging. Einmal hat sie mir einen schäbigen, schwarzen Mantel gezeigt, ihn gegen das Licht gehalten und gemeint: Ja, der hat viel aushalten müssen, diese Nächte auf dem Feld, auf der bloßen Erde. Hätten Sie so gehandelt?

Demnach wäre Erna Johnson gut vier Monate unterwegs gewesen. Die nachstehend zitierte Ramminsche Zeugenaussage legt nahe, daß die Gefangenen damals mit der Eisenbahn verlegt wurden. Auch entsannen alte Recknitzer sich wohl des kurzen Aufenthalts von Erich Johnson in ihrem Dorf, nicht aber einer längeren Abwesenheit seiner Frau Erna, die dann ihre Tochter ein Vierteljahr allein gelassen haben müßte. Elke Johnsons Version dem Leser zugänglich zu machen gebietet die Chronistenpflicht; eine Klärung indes bietet sie nicht. Eher ein Indiz dafür, daß im Hause Johnson in der Tat viel Trivialliteratur gelesen wurde.

Wie auch immer – die schwärzeste Auslegung aller zitierten Versionen ginge darauf, daß hier jemand die Gunst der Stunde genutzt und einen als inadäquat empfundenen Partner beiseite geschafft hätte. Unterstellt, die erstzitierte Version traf zu, muß Erna Johnson gewußt haben, was auf dem Tisch ihres Anklamer Hauses lag. Daß sie andererseits, sollte sie dies denn überhaupt gewünscht haben, über die notwendige kriminelle Energie und Kaltblütigkeit zu solcher Vorgehensweise verfügt hätte, scheint, nach allem, was wir über sie wissen, doch eher ausgeschlossen. Und dennoch liegt im geheimnisvollen Verschwinden ihres Mannes diese Möglichkeit beschlossen. Sie muß hier erwähnt werden, weil Uwe Johnsons Leben weithin im Zeichen der einen großen Angst verlaufen wird: daß nämlich der, dem man seine Seele ausliefert, einen verraten könnte an die politische Macht – mit potentiell tödlicher Konsequenz.

Naheliegend, daß solche Ahnung, wonach die Politik selbst die Liebe zu vergiften vermochte, seit dem Ende von Hitlers Krieg zu Uwe Johnsons emotionaler Grundausstattung gehörte. Im vierten Band der Jahrestage wird das traumatische Bohren in immer demselben Fragenkomplex manifest, ist die psychische Wirksamkeit der fatalsten aller geschilderten Versionen nachzuvollziehen:

Warum aber nahmen die Sowjets seinen Vater mit, weder Wehrmacht noch Partei, so daß er im Februar 1947 »zuletzt gesehen wurde, als er tot auf seinem Lager lag«? (Eine Zeugen-Aussage; die Mutter hoffte auf eine Rente. Die Rente wurde ihr, siehe gesellschaftliche Vergangenheit des Ehemannes, 1947 vorläufig, 1949 endgültig abgesprochen. Anspruch auf Erziehungsbeihilfe für den Schüler Lockenvitz: Bewilligt.) Im Fragebogen, in Gegenwartskunde sagte Lockenvitz: Mein Vater hatte einen Mietstreit mit dem Besitzer unseres Hauses; er wurde fälschlich denunziert. Als er uns vertrauen mochte, mit der Bitte um Stillschweigen: In unsere Villa kam dann die sowjetische Kommandantur. (Jahrestage, S. 1722)

Also die zweiterwähnte Version, das zweite »on-dit«. Freilich berichtet der Schüler Lockenvitz sie in offizieller Umgebung, in einem »Fragebogen« und in der »Gegenwartskunde«. Und er exkulpiert auch seinen Vater, indem er dessen Parteimitgliedschaft schlicht bestreitet.

Die Frage jedenfalls nach dem Verschwinden des Vaters und seinem tödlichen Verbleib steht im Zentrum von Johnsons später auch literarisch betriebenem Nachdenken – eigenartigerweise mit wachsendem zeitlichem Abstand immer ausschließlicher. Ein lebensgeschichtliches Vexierrätsel offenbar, dessen Anziehungskraft wuchs, anstatt abzunehmen. Das zweitausendseitige Jahrestage-Epos wird sich ganz entscheidend auch aus dieser Quelle speisen. Verrat im 20. Jahrhundert lautet der Titel des Buches, das Johnson die Bekanntschaft mit Margret Boveri suchen ließ. Mit dem Debüt-Roman Mutmassungen wird Heinrich Cresspahl die Bühne betreten – der gleiche Cresspahl, der später im selben ehemaligen KZ Neubrandenburg inhaftiert werden wird wie vor ihm, in der Realität des Jahres 1945, aller Wahrscheinlichkeit nach auch Erich Johnson. Gewiß: Uwe Johnson hat Cresspahls Schicksal sich erschrieben, als das einer gewünschten, erfundenen Vaterfigur und gemäß den Gesetzen des damals Wahrscheinlichen. Doch entscheidende Anstöße hatte bereits der Knabe durch Onkel Mildings realen »Fünfeichen«-Aufenthalt erhalten. Zwar hat Johnson keine Inhaftiertenliste des Internierungslagers Fünfeichen besessen. Daß sein Vater zunächst dahin verbracht worden war, hielt er indes für eine Tatsache.

Über das Lager selbst hatte er nicht nur aus dem Mund seines Onkels Erfahrungsberichte erster Hand vernehmen können. Er konnte darüber auch bei Hermann Just nachlesen:

Im KZ Neubrandenburg hatte sich in den Jahren 1945 bis 1947 genau der gleiche traurige Vorgang abgespielt wie im KZ Ketschendorf und anderwärts in den KZ’s: Hungernde Menschen, die dahinsiechten, in immer größerer Zahl an Dystrophie erkrankten und schließlich an Unterernährung eingingen. [...] Man mußte schon vor Schwäche umfallen oder nicht mehr zum Appell antreten können, um eine Überweisung in eine der Lazarettbaracken zu erhalten. [...] Die sowjetischen Ärzte erteilten den deutschen Ärzten genaue Anweisungen, welche Kranken und welche Krankheitsstadien in das Lazarett aufgenommen werden durften. [...] Jede einzelne Lazaretteinweisung bedurfte der persönlichen Genehmigung des sowjetischen Arztes. (Just, Die sowjetischen Konzentrationslager 1945–1950, S. 119)

Mithin müssen die Überlebenschancen für Erich Johnson bereits auf deutschem Boden minimal gewesen sein. Sie verbesserten sich nicht mit seiner Verschickung in die Sowjetunion. Johnsons Onkel Wilhelm Milding, den Schmied, holten die Sowjets laut der Erinnerungen alter Recknitzer mit einem Panjewagen ab. Diesem mußte der vormalige NS-Funktionär, angebunden, im Trab folgen. Es ging erst zum Verhör. Dann ab in die Gefangenschaft.

Bei Uwe Johnson wird aus der geschilderten historischen Realität die folgende Passage im dritten Band der Jahrestage:

Hier liegt Fünfeichen, das Sanatorium! Bräunlich und geradlinig liegt es mit seinen Baracken und seiner Hauptwache inmitten der weiten Ödfläche, die mit matschigen Lattenrosten, Stacheldrahtgängen und gedrungenen Wachtürmen ergiebig ausgestattet ist, über seinen Pappdächern ragen tannengrün, massig und weich zerklüftet die Berge am Lindental und dem Tollense-See himmelan, und weithin sichtbare Tafeln am Zaun unterrichten den Freund der Landschaft in russischer und deutscher und englischer Schrift: Verbotene Zone. Eintritt verboten. Es wird geschossen! Nach wie vor leitete die Rote Armee die Anstalt. Angetan mit ordensgeschmücktem Blouson, das weit über die bauschigen Breeches fällt, den Kopf unterm erdfarbenen Krätzchen erhoben, das Schnellfeuergewehr in Vorhalte, treibt der Armist den Häftling über die Lagerstraße voran, von Wissenschaft gehärtet und mit belustigter Verwunderung hält er auf kurz angebundene und verschlossene Art die Patienten in seinem Bann, – alle diese Individuen, die, zu schwach, sich selbst Gesetze zu geben und sie zu halten, ihm ausgeliefert sind mit Leib und Bewußtsein, um sich von seiner Strenge stützen lassen zu dürfen. [...]

Dies aber war Fünfeichen, vier Kilometer vom Stargarder Tor; noch 1944 hatte er in dieser Gegend für die Briten nicht nur den Fliegerhorst Trollenhagen ansehen sollen, auch wie die Deutschen in Fünfeichen ihre Kriegsgefangenen hielten. Wenn er seinen Augen trauen wollte, war er im alten Südlager von Fünfeichen, in der Baracke 9 oder 105, neben dem Stacheldraht des Gemüsegartens, nach Burg Stargard hin, und im Norden war der eingezäunte Komplex der Werkstätten und Kammern wie auf seiner Zeichnung von damals. (Jahrestage, S. 1287 f.)

Diese Passage übrigens ist eine direkte Thomas Mann-Anleihe, dessen Tristan-Erzählung mit dem Satz beginnt: »Hier ist ›Einfried‹ das Sanatorium!«, um im zweiten Abschnitt fortzufahren: »Nach wie vor leitet Doktor Leander die Anstalt.« Johnson selbst wird in seiner Rede zur Verleihung des Thomas-Mann-Preises im Jahr 1979 von dem »verwandelten Zitat« aus einem »Anfang« bei Thomas Mann sprechen. Wer vergleicht, was oben zitiert wurde, begreift, warum.

Erich Johnson wird das Lager Fünfeichen im Frühsommer 1945 kennengelernt haben. Danach, im September des Jahres, muß er noch in ein Lager nach Frankfurt an der Oder deportiert worden sein. Dies war seine letzte Station auf deutschem Boden. Von hier aus wahrscheinlich wurde er in ein Internierungs- und Arbeitslager in den Nordwesten der Ukraine verbracht, nach Kowel, einer Stadt mit ca. 30 000 Einwohnern, die zur Hauptsache in den dortigen Gerbereien und Tabakfabriken arbeiteten. Von Erich Johnsons Ende wissen wir nur, was der Mithäftling Paul Rammin nach seiner Rückkunft zu Protokoll gegeben hat:

Nach der Besetzung der Stadt Anklam musste ich noch bis zum 25. Mai 1945 bei den Russen arbeiten. An diesem Tage wurde ich im Amtsgerichtsgebäude festgesetzt. Ende Juni 1945 kam ich von hier nach Rußland. Am 1. September 1945 kam ich mit einem großen Transport [mit, und] lernte ich im Lager von Frankfurt an der Oder den Milchkontrolleur Erich Ernst Wilhelm Johnson kennen. Dieser war geboren am 26. Juli 1900. Während des Krieges war er bei der Molkerei in Anklam beschäftigt. Er wurde ebenso wie ich nach der Besetzung der Stadt Anklam verhaftet. Auf dem Weitertransport nach Kowel war ich mit Johnson ständig in demselben Waggon. Während der Reise wurde er krank. Er litt an Wassersucht. Er sah verschiedentlich im Gesicht infolge der Krankheit entstellt aus. In Kowel arbeitete Johnson noch einige Zeit. Als sein Zustand sich stark verschlechterte, blieb er kurze Zeit in der Unterkunft. Hier starb er dann in den ersten Monaten des Jahres 1946. Den Tag vermag ich nicht mehr anzugeben. Es wird im Monat März gewesen sein. Eines Morgens, als wir zur Arbeit austraten, sah ich mich nach Johnson um. Da bemerkte ich, daß er tot auf seinem Lager lag. Bei der Beerdigung war ich nicht zugegen. Johnson befand sich in Kowel, Bataillon 444.

Unter Hinweis auf 156 des Reichsstrafgesetzbuches versichere ich an Eides Statt, daß ich die oben genannten Angaben nach besten Gewissen und Gewissen gemacht habe.

Vorgelesen, genehmigt und unterschrieben.

Siegel

gez. Paul Rammin

Geschlossen.

Der Standesbeamte

gez. Gulker

Der Sohn hatte die Zeugenaussage in seinen Papieren. Noch der Student muß angenommen haben, daß sein Vater im Jahr 1947 verstorben war. Später, womöglich erst nach dem Tod seiner Mutter 1963, hat er das zutreffende Datum in Erfahrung gebracht. Aus Erna Johnsons Nachlaß kann er die Aussage Paul Rammins übernommen haben.

Uwe Johnson

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