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II.
VON WARNOW UND PLEISSE BIS AN DIE SPREE ERSTES KAPITEL
EINE AUFNAHMEARBEIT UND EIN LYRISCHES INTERMEZZO
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DER ABITURIENT ALS ANGEHENDER STUDENT
Uwe Johnson hat unter dem 25. Mai 1952 eine Arbeit über ein aktuelles Allgemeininteresse, das in Beziehung zu dem künftigen Beruf steht, abgefaßt und an seine künftige Universität Rostock gesandt. Das geschah unmittelbar nach seinem Abitur. Der Text war handschriftlich, sehr lesbar und übersichtlich gehalten. Er handelte über Arnold Zweigs Der große Krieg der weißen Männer. Hier schrieb der angehende Student übrigens noch, was sich mit der ersten Klausur während des Studiums für immer ändern wird, das ß anstelle eines durchgehenden Doppel-s. Johnsons Denken zeigt sich noch weitgehend geprägt durch den »marxistisch« orthodoxen Deutschunterricht. Für Lukács’ Konzept ebenso wie für den Kampf der SED gegen den »Formalismus« war Arnold Zweig ein wichtiger Autor – einer, der als vormals bürgerlicher Intellektueller zu den Kräften des Fortschritts gefunden hatte.
Georg Lukács hatte seine Einschätzung Zweigs zuerst 1945 in der Internationalen Literatur Nr. 3, dann im selben Jahr in einer Buchveröffentlichung im Aufbau-Verlag zum Ausdruck gebracht. Publikationen, in denen sich Sätze finden, die auch des Schülers Johnson vitales Interesse an der Vorgeschichte und der Verstrickung der Eltern in den Nationalsozialismus formulierten. Erkenntnisinteressen, die sich bereits in der Babendererde und dann reich orchestriert in den Jahrestagen finden: Wie werden aus harmlos-»wehrlosen« Kleinbürgern am Ende »Faschisten«? Lukács hat dazu geschrieben:
Reich entfaltet wird das Motiv der deutschen Wehrlosigkeit in Arnold Zweigs Kriegsromanen aus dem ersten imperialistischen Krieg behandelt. Der Zyklus [...] zeigt auch, wie unter den Bedingungen des preußischen Militarismus aus normalen Kleinbürgern widerliche sadistische Verbrecher herangezüchtet werden. (Lukács, Deutsche Literatur im Zeitalter des Imperialismus, S. 68)
Uwe Johnson hatte also eine ganze Reihe von Gründen, auch subjektive, seine Aufnahmearbeit für die Universität gerade über Arnold Zweig zu schreiben. Er sah den Zyklus denn auch noch durchgehend mit den Augen eines Lukács-Adepten. Lobte, daß Zweigs Gestalten für »ihre Klasse und Gesellschaftsschicht typisch« seien. Betrachtete als verwirklicht, was große Kunst laut Lukács kathartisch-pädagogisch vom Betrachter fordert: »Du mußt dein Leben ändern.« Man habe, so Johnson, in Zweigs Romanen einen antimilitaristischen Zyklus vor sich, der »jeden Menschen zum Kampf für das Gute in der Welt begeistern« müsse. Das klingt noch schülerhaft. Und weist doch schon auf einen differenzierteren Blick voraus. Zweig lieferte in seinem Zyklus die Analyse des deutschpreußischen Militarismus mit den Mitteln epischen Erzählens. Der Studienbewerber, der in dem Zweig-Aufsatz die Literatur als generelles Mittel zur Humanisierung der Welt auffaßte, zeigte sich beeindruckt von der konkreten Dehumanisierung, wie er sie damals in der eigenen Familiengeschichte erblickt haben mochte. In der Aufnahmearbeit von 1952 geschah mehr, als daß ein angehender Germanist mit Hilfe der analysierenden Aufzählung von Personen und einer Wiedergabe der Handlung unter Beweis stellte, daß er Zweigs umfänglichen Zyklus genau gelesen hat – und daß er ihn als »höhnische Satire auf die Phrasen des ›preussischen Mannestums‹« auffaßte.
LYRISCHES INTERMEZZO, SOMMER 1952.
»DER SINGENDE« ODER JOHNSON ALS »SPITTA«
Der Singende, eine von Ernst Barlachs Plastiken, beeindruckt durch seine glückliche Einfältigkeit. Den gleichen Eindruck erweckt der Abiturient Johnson, wo er Lyrik, vielleicht besser: Gedichte, Gereimtes geschrieben hat. Uwe Johnsons frühe Gedichte waren, im genauen Sinn des Wortes, »Gebrauchslyrik«. Ihnen war aufgegeben, Gemeinschaft im Kreis Gleichgestimmter herzustellen. Stets sind sie dabei auf ferienhafte Umgebung abgestellt. Sie sollten ein Wir-Gefühl möglich machen und die Gemeinschaft des Augenblicks in Gereimtem feiern. Leopold Tober, der heute in Schweden lebende Bruder von Johnsons Schulfreundin Antonie Landgraf, erinnert sich, daß der Schüler Johnson gern sogenannte Katschmarek-Gedichte, also Verse im Slawen-Deutsch, improvisierte. Auch diese stellten Unterhaltung für eine Gemeinschaft dar. Sie konnten lauten: »Gut wenn sich im Grase liegt/Schlecht wenn sich in Fresse fliegt/Abgeschrieben wenn Granatsplitter.«
Das Insel-Tagebuch, eine Art Gedicht-Sammlung, die Kurt Hoppenraths Witwe Louise aufbewahrt hat, ist auf den 25. bis 28. Juni 1952 datiert, also binnen weniger Tage in der Zeit unmittelbar nach bestandenem Abitur entstanden. Da war der frischgebackene und gewiß vom Gefühl neu gewonnener Freiheit beschwingte Abiturient zusammen mit Schulkameraden beiderlei Geschlechts auf einer Insel im Krakower See, dem Großen Werder vermutlich. Teilnehmer erinnern sich, daß Johnson damals leidenschaftlich »Kann denn Liebe Sünde sein« sang. Daß er andererseits häufig allein am Wasser saß. Da wird der Schulabgänger dann gedichtet haben. Einige Resultate dieser Mußestunden werden im folgenden zum ersten Mal vorgelegt. Ihnen vorangestellt war ein gleichfalls gereimtes Vorwort:
Statt eines Vorwortes
Auf dem Landungssteg der Insel
Stand ein Hund, der mit Gewinsel
Mir eine herzliche Begrüßung machte.
(Weil ich für ihn das Futter brachte.)
Weiter stand da noch ein Schild,
Wirklich ein sehr schönes Bild,
Daß das Betreten verboten sei,
Andernfalls sei Strafe dabei.
Als der Schreiber stellt sich vor
Ein gewisser Berthold Mohr.
Dadurch wurde mir sehr klar,
Daß es hier nicht anders war
Als da, von wo ich hergekommen,
Doch hab ich das nicht tragisch genommen.
Man kann ja nicht gleich bis zum Nordpol verreisen,
Schon wegen der Aussicht, da zu vereisen.
Auch hier war ich nun ganz allein
Und wollte versuchsweise glücklich sein.
Davon, wie dies mir gelungen,
sei hier nun ein Lied gesungen.
Was im konformen Stil dieser Gedichte umgeht, ist eine Sehnsucht nach Gemeinschaft, zu der unabdingbar das gemeinsame Singen gehört. In den hier zur Rede stehenden Versen hat Uwe Johnson, der nicht eben gut singen konnte, gesungen. Hat sich so noch einmal der verbindenden Nähe einer Gruppe anvertrauen wollen. Gemeinschaftliches, gemeinschaftsbildendes Singen, wie Johnson es von seinen Schulen kannte, jetzt als literarische Handlung. Für die Feriengemeinschaft auf der Insel im Krakower See, auf ihr hatte die Familie Mohr einmal eine Pacht besessen, schrieb Uwe Johnson Verse wie die folgenden:
Nieder-Geschlagenes
Große und auch kleine Tropfen
Leise an die Scheiben klopfen.
Es regnet. Es regnet ungebührlich
Und viel zu sehr kontinuierlich
Große und auch kleine Tropfen.
Ich frage nur: Ist dieses nötig?
Wenn nicht, so bin ich gern erbötig,
Für morgen und auch übermorgen
Für lauter Sonnenschein zu sorgen.
Doch bin ich nicht als Petrus tätig.
Ich sitze den ganzen Tag im Haus,
Denn der Regen läßt mich nicht raus.
Er macht da draußen große Pfützen.
Da kann die Sonne tagelang sitzen
Und trocknen die wieder aus.
Der Regen katzenähnlich schnurrt
Und äußerst geistverwirrend surrt.
Als ich den Hund vorhin mal fragte,
Was er zu diesem Wetter sagte,
Hat dieser Kerl mich angeknurrt.
Vielleicht über Irland ein neues Tief
Oder es regnet mal ohne Motiv.
Vom Trübsinn des Wetters angesteckt,
Habe ich Bosheit in mir entdeckt
Und mache aus posi-negativ.
Das Barometer: Veränderlich,
Doch nichts am Wetter ändert sich
Außer der Stärke des Regens
Und Hoffnung klammert sich vergebens
An das tröstliche Wort: Veränderlich.
Oder auch:
Verschlafenes
Dieweil nach stattgehabter Kauung
Empfiehlt sich gründliche Verdauung,
Ging mitten ich in die Natur
Mit einer Badehose nur
Und sonst nichts weiter angetan.
Im starken, unbewußten Tran,
Ließ ich mich dort, wo Rindvieh weidet,
Das ungewöhnlich unbekleidet,
Zu dem Verdauungsschlafe nieder
Und streckte meine langen Glieder
Unbekümmert, ungehindert in das Gras.
Da Platz genug war, konnt’ ich das.
Als mir dann die Augen sanken,
Hatte ich nur den Gedanken:
O wie ist das schön!
Dann habe ich gegähnt.
Man konnte sich im Himmel wähnen,
Genau so schön ist es gewesen.
Und wenn dies jemand sollte lesen,
So möge er recht herzhaft gähnen!
Ferien in der Gemeinschaft als der Himmel auf Erden. Doch eines: Die erotische Erfüllung läßt sich hinter der so erfrischend kalauernden wie häufig verunglückten Melodik dieser Zeilen als ein Wunsch verspüren. Man schlief, nach Geschlechtern getrennt, in einer scheunenartigen Behausung. Der sehnsüchtig-erschreckte Ruf aus Mädchenmund »Die Jungen kommen« wurde neben der Frage, ob Liebe denn Sünde sein könne, zum Schlager dieser Saison. Es blieb beim bloßen Rufen. Die Disteln, die die Mädchen in hoffnungsvoller Furcht in die Eingangsluken der Schlafscheunen legten, blieben ohne Funktion.
Kalamität
Ich schlief dort unterm Dach.
Darauf wies ich das Fehlen nach
Einer Leiter, mittels derer
Mein an siebzig Kilo schwerer
Körper auf den Boden käme,
Ohne daß er Schaden nähme.
Schließlich fand ich dann auch eine
Besser war sie schon als keine,
Doch war sie außerdem gebrechlich:
Tatsächlich lebensgefährlich schwächlich.
Den ersten Abend trug sie mich,
Nur knarrte sie absonderlich,
Denn sie war, wie schon gesagt
äußerst schwach, da hoch betagt.
In Heu und Decken eingepackt
Verschlief ich meine erste Nacht,
Nur träumte ich von einer Leiter!
Die ich hochstieg, immer weiter – – –
Bis das Ding, das altersschwache
Zusammenbrach mit viel Gekrache.
Davon bin ich aufgewacht.
Es war schon mitten in der Nacht,
Ich hab es noch drei Mal geträumt
Und morgens wild vor Wut geschäumt.
Man liebt doch eine romantische Nacht
Nur, wenn man sie ohne Aufregung verbracht.
Ein psychoanalytischer Interpret würde diesen »Traum« vielleicht als einen von gefürchteter Bestrafung bei geträumter Erfüllung erotischer Sehnsucht verstehen: die zusammenbrechende, sich hoch erstreckende Leiter. Wie auch immer: Die Landschaft und die Atmosphäre der engeren Heimat des Abiturienten Uwe Johnson, zwischen Güstrow und Müritz, erscheinen in diesen Versen aufbewahrt. Es wird genau diese Wasser-Landschaft sein, die zunächst auch die Spiel-Welt der Babendererde abgeben wird. Erst im Zuge der Überarbeitung des Textes wird sie durch die großartigere Müritz (deren Name »Meer« bedeutet) ersetzt werden. Die aber würde erst der Student Johnson in seine Erfahrung bringen.
Bereits in den beiden Jahren vor dem Abitur waren die Oberschüler der Brinckman-Schule am Krakower See gewesen. Man fuhr mit dem Fahrrad bis Krakow, setzte dann auf die Insel über. Ein Wandervogel-Leben griff Platz. Man schlief auf Heuböden, schwamm in den Seen, sammelte Möweneier und beobachtete Fischreiher auf einer Nebeninsel. Wenn Johnsons Schulkameradin Brigitte Stüwe, damals noch Martens, aus dem Wasser stieg, spielte die Clique auf einem von Hand aufgezogenen Grammophon das allseits beliebte »Kann denn Liebe Sünde sein«. Unbeschwerte Tage, die dann in den Abschlußband der Jahrestage und in das Verhältnis zwischen Pagenkopf und Gesine eingehen durften:
gemeinsam kamen wir zu dem Rest der Klasse zurückgeschwommen, und offensichtlich hatten wir die ganze Zeit miteinander geredet. War ich da einmal ohne ihn, sangen sie noch manchmal die Frage, ob denn Liebe Sünde sei. (Jahrestage, S. 1588)
Daneben fanden die von der Schule organisierten Reisen des Chors statt, an denen Uwe Johnson als Begleiter teilnahm. Sie führten vor allem an der Ostseeküste entlang und fanden, wie die Schulkameradin Brigitte Stüwe – ihr Vater kehrt als der Fabrikant »Hünemörder« in den Jahrestagen wieder – sich entsinnt, größtenteils unter den gleichen Wandervogel-Bedingungen statt wie die Privatausflüge der Schüler. Auch bei diesen Reisen mußte man zuweilen in Scheunen übernachten.
Uwe Johnsons unglückliche Liebe zur Musik, Martin Walser hat sie in Brandung diagnostiziert, bestimmte den Oberschüler zum Ansager bei den Gesangsveranstaltungen des Chors der John-Brinckman-Oberschule. In den Begleitumständen hat der Güstrower über diese Zeit berichtet, dabei das einzige Mal seine frühe »Poeten«-Tätigkeit selbst erwähnt:
Danach ist für diesen Jugendfreund (denn so war die Titulatur für Angehörige der F.D.J. und ihre Anrede unter einander) vorläufig nur noch etwas zu melden, was aber gedeutet werden kann als zusätzliche »gesellschaftliche Betätigung«: er machte die Ansage für den Chor seiner Schule, wenn dieser Gastspielreisen unternahm. Der Ehrlichkeit halber ist einzugestehen, es war fast eine Conference, in der dem Publikum eine leicht verquere Vorschau auf die dargebotenen Kunst- und Volkslieder geboten wurde. Um ganz ehrlich zu sein: sie war gereimt. Um der letzten Wahrheit die Ehre zu geben: sie wurde in einer Zeitung rezensiert. Wie hiess es da? »In humorigen Zwischentexten versucht sich glückhaft ein junger Güstrower Poet«, folgt ein Name. (Begleitumstände, S. 59 ff.)
Auch der Erhalt dieser Texte des »jungen Güstrower Poeten« ist der Witwe des damaligen Chorleiters, Louise Hoppenrath, zu danken. Sie seien an dieser Stelle auszugsweise erstveröffentlicht:
Ein sogenanntes Vorwort
Der Chor und die Tanzgruppe der John Brinckman-Oberschule Güstrow unternahmen im Auftrag der Landesregierung Mecklenburg vom 14. bis zum 28. Juli 1952 eine Konzertreise durch die mecklenburgischen Ostseebäder Kühlungsborn, Rerik, Wustrow, Dierhagen und Grode. Der Bericht umfaßt weiterhin die Zahlen der Auftritte und der Besucher, die namentliche Aufführung der Mitglieder der Kulturgruppe, des begleitenden Lehrpersonals und natürlich der Leitung sowie eine Beschreibung und Erläuterung des Programms. Das ist alles. Das ist durchaus nicht alles. Es fehlt noch etwas. Es fehlen Dinge, die zwar in keinem offiziellen Bericht stehen dürfen, die ich aber – da sie wahrscheinlich noch keiner von uns vergessen hat – auf meine Art noch einmal zu erzählen mir erlaube. Es sind keine Namen genannt worden, teils aus Pietäts-, teils aus Zweckmäßigkeitsgründen. Nur Herr Mahn kommt namentlich vor, aber der ist ja sowieso blamiert. Wer sich hier nicht wiederfinden sollte, dem sei gesagt, daß das nicht etwa auf die viel bemühte Pietät zurückzuführen ist. Sondern auf Zweckmäßigkeitsgründe. Diese in Skizzenform bereits während der Reise entstandenen Gedichte haben nicht den Zweck, den verlängerten Arm meiner Privatrache zu spielen oder meiner sagenhaften Bosheit ein Betätigungsfeld zu verschaffen. Was man möglicherweise für Bosheit oder Privatrache halten wird, ist ganz etwas anderes. Vielleicht weiß es unsere Kreuzworträtselspezialistin?
Der soziale Kontext bestimmte neben der Form auch die Themen: schülerhaft gehemmte Liebe; die Eifersucht auf die Erwachsenen; der geraubte Kuß; das Gefühl, das einer nicht zu offenbaren wagt; die Scham, die überwinden muß, wer die Angebetete zum Tanz auffordern will. Es sind die Verse eines Tonio Kröger, der sich noch nicht zum Abseitsstehen entschlossen hat, sondern immer noch versucht, im Kreis der Blonden mitzuhalten:
Pietät
Dies war einer Jungfrau Bitte:
Daß man ihr erlauben täte,
daß sie zu ihrer Tante ginge,
an der sie so von Herzen hinge.
Und Herr Mahn voll Pietät
gern erlaubt ihr, daß sie geht.
Leider war man indiskret
(Was nicht zeugt von Pietät!)
und man konnte nicht umhin,
zu bemerken immerhin,
daß die Tante, welche bärtlich,
tat sie küssen äußerst zärtlich.
Wenn man nun mit Pietät
dies zu untersuchen geht,
dann ergibt sich sonnenklar,
daß das wohl ihr Onkel war
(übrigens, der Onkel sächselt)
und sie hat das nur verwechselt.
Und aus dieser Perspektive,
(die wahrscheinlich eine schiefe)
sich mit Deutlichkeit ergibt
(da der halbe Chor verliebt):
daß der halbe Chor verwandt.
Dieser Zustand ist bekannt
als ausschließlich erster Grad,
was vergnüglich, in der Tat.
Ewig dem vor Augen schwebt,
der dies alles miterlebt:
Verwandtschaftliche Pietät
oft wunderliche Wege geht.
Soviel zur poetischen Behandlung erotisch verursachten Neids durch den Abiturienten Uwe Johnson. Eine andere Talentprobe lautete:
Vorbildlicher Lerneifer
oder:
Ich kam, ich sah –: Er siegte
Um nach stattgehabter Kauung
zu befördern die Verdauung,
ging am Abend ich spazieren –
und tat schöne Waldeslüfte
durch die angenehmen Düfte
von der Turf verzieren.
Plötzlich ward mir augenscheinlich
(und es war mir schrecklich peinlich!)
eine Tante und ihr Onkel.
Denn das Wandern ist ergötzlich
und in manchem Sinne nötzlich
in dem Walde, wo es donkel.
Es verdienen alle Achtung
solche, die Naturbetrachtung
noch im Dunkeln unternehmen.
Doch wenn nicht einmal die Sterne
sichtbar sind in weiter Ferne,
spricht man über andre Themen.
Hierbei kann man viele Wissenschaften,
wie z. B. Kü-dunkünste
auf das gründlichste erlernen.
Doch bei aller Pädagogik,
die bezieht sich auf Erotik,
muß ein dritter sich entfernen.
Um das nicht mitanzusehen,
wandte ich mich, wegzugehen
davon ab, von Neid gepeinigt.
Doch daß ihre edle Liebe
(zu dem Lernen) Vorbild bliebe
ewig nur, wird hier bescheinigt.
»In Wessen Leben ging nicht einmal das Wunderbare, in tiefster Brust Bewahrte Geheimnis der Liebe auf!« (E.T.A. Hoffmann, Die Elixiere des Teufels, Band II)
Der dies geschrieben hat, der hatte allerdings seinen Wilhelm Busch gelesen. Und blieb wie dieser im Rahmen des Erlaubten. Von Wedekindscher Jugend-Erotik sind diese Verse weit entfernt. Und doch starren sie gebannt auf »das Wunder der Liebe«, auf daß es sich ereignen möge im Kreis derer, die das gemeinschaftliche Lied verbindet:
Ein Jüngling verliebte sich.
In eine Jungfrau vom Sopran.
Die Jungfrau arg verfärbte sich,
als sie dies vernahm.
Sie ward darob nicht so erfreut,
wie es erwartet und ersehnt.
Drum hat er in der Folgezeit
entsetzlich oft gestöhnt.
Doch hat er redlich sich bemüht
und deutlich ihr gezeigt,
sein Herz sei nur für sie erglüht.
(Das wird von uns bezeugt.)
Als eines Abends nun der Chor
auf offener Bühne stand
und sang dem Publikum was vor,
er starrte an sie. Unverwandt!
Und als der Chor zur Seite ging,
da ist es dann geschehen:
sein Auge an dem Mädchen hing
und – einsam blieb er stehen.
Das Publikum, das dieses sah,
verriet, es sei entzückt.
Der Jüngling war, daß dies geschah
noch tagelang bedrückt.
Ein großes Wunder ist die Liebe.
Wobei nur zu erwähnen bliebe,
daß sie oft wirkt auch lächerlich.
Oh Jüngling! schütze deine Triebe,
doch angestrengt darin dich übe,
sie nicht zu zeigen öffentlich.
Doch sei dir immerhin gedankt,
daß du, indem du lachtest
das Mädchen an (, das auch dir dankt)
– die Leute zum Lachen brachtest!
Das wirkt alles recht konform. Und dennoch enthalten Johnsons gereimte Chor-Gesänge bereits Elemente von Aufbruch und Rebellion. Vage lebt in ihnen bereits die Idee von einem anderen Leben, wie sie in diesen frühen fünfziger Jahren in der »Demokratischen Republik« immer deutlicher spürbar wurde. Von einer solchen Aufbruchszeit wird dann die Babendererde auf ihre Weise handeln. Die am Ende des Erstlings ihre Heimat verlassen, sie hören Jazz. Und auch das »Glaubensbekenntnis« des Abiturienten lautete, ungeachtet all seiner Tiraden gegen den »kosmopolitischen« Jazz im Abituraufsatz, schon damals:
Glaubensbekenntnis
Ja, der Boogie-Woogie, Blues,
»Opus Two« und die Choo-Choos,
kurz gesagt, der ganze Hot,
sind für uns beinahe Gott.
Niemand glaubt, wie wohl das tut,
wenn wir fallen in the mood
bei der schönen Litanei:
wuwu-rabbadibaibom-bubai!
Inschrift auf einem Schultisch:
»Es wird einmal eine Zeit kommen, in der sich der Jazz entgegen allen Vorurteilen im kleinsten Ort durchgesetzt hat.« (sinngemäß)
Drum wir üben in Geduld
unsern Jazzanbetungskult (dschäs)
mit der heil’gen Litanei:
wuwu-
rabbadibaibom-
bubai!!
(dadaaaa ...)
Man mag die akustische Umsetzung der Jazz-Synkopen in Zweifel ziehen. Dennoch gesellt sich mit diesen Zeilen zum konformistischen Einerseits ganz entschieden das rebellische Andererseits. Daß der Prosaist Gedichte schrieb, hatte entscheidend mit der Gemeinschaft seiner Schulklasse zu tun. Das Prosawerk Uwe Johnsons hingegen, ob nun in der Babendererde oder im Abschlußband der Jahrestage, würde stets der Darstellung von Verlorenem, Unwiederbringlichem gelten, erinnert von einem exemplarisch Vereinzelten. Der bald schon in seiner unaufhebbaren Vereinzelung so entschieden moderne Autor Uwe Johnson ging hervor aus einer geradezu archaischen Gemeinschaftsbindung. Lebenslang wird es ihn nach Gemeinschaft verlangen, ihn, dessen literarische Lebensleistung nur möglich erschien aufgrund konsequentester Transzendierung gemeinschaftlicher Bindung. Darin auch liegt Johnsons sozialhistorischer Standort beschrieben. Wenn überhaupt ein Schriftsteller nach 1945, dann muß er als der Chronist jener rapiden Auflösung einer noch traditionsgeleiteten, agrarischen Gesellschaft gelten, zu der Hitler zurückwollte, die sich in Mecklenburg partiell erhalten hatte und die nach dem Zweiten Weltkrieg in die Vereinzelung der Moderne förmlich hineinexplodierte. Eine Bewegung, die auch den Lebensweg der Johnsonschen Figuren von Jerichow nach New York ausmachen wird.
Johnsons Abiturphase erschien zunehmend vom Schmerz der Individuation bestimmt und von einem Wissen um deren Unausweichlichkeit. Dies verraten nicht zuletzt die Zeilen, die der Abiturient an seinem Geburtstag 1952 von einer Chorreise aus Kühlungsborn dem Schulfreund Lehmbäcker gesandt hat:
I.
Der eine sieht ins Abendrot
Und schwärmt für das Ideale.
Der andre kaut sein Abendbrot
Und ist für das Reale.
II.
Nicht alles, was man heiss begehrt,
Ist kühl betrachtet, etwas wert.
Und darum sollte man sich üben
Die Wünsche, die man hat, zu sieben.
Das war ein Anflug frühreif-ironisierten Weltverständnisses, in ganz korrekte Kommasetzung gekleidet. Dann aber folgen jene Sätze, aus denen der Schmerz über die Unausweichlichkeit der Individuation spricht:
Bedauerlicherweise ist der Mensch als Individuum konstruiert und eingerichtet. Dies hindert. Es gelingt höchst selten, diesen unerfreulichen Tatbestand zu einer Art von Gemeinschaft weiterzuentwickeln.
Eben das versuchen Johnsons Abiturientenverse: den unerfreulichen Tatbestand der Individuation »zu einer Art von Gemeinschaft weiterzuentwickeln«. Was ihnen auf Dauer freilich nicht glücken konnte.
Jazz-Rhythmen des »GOING OUTSIDE«, wie sie im Erstling das Aufsprengen der bisherigen Schulgemeinschaft und den Heimatverlust ankündigen, erklingen bereits als Johnsons eigene Absage an die fesselnde Kraft solchen Gemeinschaftsgesangs.
Aus dem Radio kam gelassen und grossartig die tiefe rauchige Stimme eines Mannes announcing AND NOW ... Billie MAY and his orchestra: GOEN OUTSIDE. Hinter ihm begann ein Trompetenchor feierlich Gequältes aufzuführen; dann war da ein Saxophon, das stieg faul und verzweifelt durch ein endloses Treppenhaus, in dem waren alle Türen durchsichtig. (Babendererde, S. 244)
Der Schüler Lockenvitz schließlich wird »schräge Musik« lieben:
Das war der amerikanische Jazz der Frühzeit, gerade per Regierungsdekret von einer Musik der Dekadenz befördert zu insofern fortschrittlich, als entwickelt aus den Arbeitsgesängen zur Zeit der offen betriebenen Sklaverei. Gespräch nach Vorschrift betrieb dieser Junge. (Jahrestage, S. 1726)
Der Jazz als die Aufbruchsmusik der amerikanischen Neger manifestiert einen Kontrapunkt zu Partei-Hymne und gemeinschaftsbildendem Vaterlandslied. Der Jazz als die Oppositionsmusik auch der damaligen DDR. Neben Johnson haben das auch andere Autoren dokumentiert, Fritz Rudolf Fries zum Beispiel in seinem bohemischen Leipzig-Roman Der Weg nach Oobliadooh, also unter bereits frech verjazztem Titel:
Arlecq, immer auf der Suche nach dem Sinn des Daseins, schnitt das Heft in Stücke, klebte sich Armstrong, Stewart, Beiderbecke, Lem Arcons Gesicht, das in der Würde eines seltenen Vogels aus dem Saxophontrichter steigt, an die Zimmerwände und nahm Begriffe wie Jazz, Jive, Swing, Pop und Oldtimer in sein Vokabular auf. Lauschte zur Mitternacht den neuen Klängen aus der nicht entnazifizierten, in nazistischer Verbohrtheit den neuen Wellenlängen feindlich gesinnten Goebbels-Schnauze und blies den Air Lift Stomp auf der Flöte [...] Be-bop ist da und wird bleiben, sagte Paasch, und die Geschichte würde seine voreilige Prognose rechtfertigen. (Fries, Oobliadooh, S. 91)
Der Jazz war für diese Generation die Antwort auf eine zweifache Diktatur. Der Jazz stand für sie gegen die Goebbels-Schnauze ebenso wie gegen die Girnus-Schreibe. Im Jazz standen Synkope und Improvisation gegen die verpflichtend-totalitären Elemente pathetischer Worte und das umschlingende, erstickende Melos, wie sie die von Gesang getragenen Gemeinschaftsveranstaltungen des Staatsapparates kennzeichneten.
Uwe Johnson selbst hat in Leipzig seine Vorliebe für den Jazz (gegenüber dem Freund Klaus Baumgärtner) damit erklärt, daß dies »freche« Musik sei. In Berlin besaß er eine historisch aufgebaute Sammlung von Jazz-Platten. Die weitere Plattensammlung, soweit ich sie aus den Fotografien, die Joachim Unseld im Haus in Sheerness gemacht hat, rekonstruieren konnte, enthielt auch eine Kassette mit den Werken des Johann Sebastian Bach – neben, übrigens, der Martha-Oper des Friedrich von Flotow. Beides ist Musik, die sich durchaus widerspricht. Ihr Widerspruch erscheint als der des Uwe Johnson selbst. Neben den Jazz tritt allerdings in der Babendererde die Musik des Johann Sebastian Bach. Diese Musik pflegt keinerlei unscharfe, romantische Gemeinschaftssehnsüchte. Sie lebt im Gegenteil von ihrem intellektuellen und dialektischen Zuschnitt. Die durchgeführte Kontrapunktik dieser Musik in den Formen von Fuge und Kanon; den Rückgriff auf den protestantischen Choral; die Synthese eines harmonisch bestimmten Konzertstils mit einer linear geführten Vielstimmigkeit: Der junge Johnson hat sie als derart angemessen empfunden, daß er sie in der Babendererde interpretiert hat:
Das war eine sehr sonderbare Musik, die war so inständig zuversichtlich. Es war für Ingrid als habe diese Musik etwas durchaus Gewisses vor, als gehe sie geduldig immer wieder herum um diesen bestimmten Vorsatz von Heiterkeit, unablässig wissend von der Sicherheit der Ankunft und aufgehoben in lauter Wohlmeinen. [...] Als die Musik wieder anging, war ihr plötzlich als sei es nun in ihr und ganz in ihr; sie nahm die Hände von ihrem Gesicht und richtete sich auf; nun war sie ganz unruhig. (Babendererde, S. 228)
In einer der überlieferten, aber bislang unveröffentlichten Frühversionen des Erstlings findet sich auch die Beschreibung eines Konzertbesuchs, verbunden mit Ingrid Babendererdes Analyse dieser Musik. Das Heitere und Wohlmeinende der Bachschen Musik gerät zur Chiffre des Aufbruchs. Bach hörend, wird Ingrid unruhig vor Sehnsucht nach Neuem und Anderem unter der Sonne dieses heißen Mais, die so viel Neues zur Reife bringt. Der Leipziger Student Johnson führte 1956/57 die umworbene Tochter des Dekans in ein Bach-Konzert. Zu einer Bach-Diskussion trafen sich schließlich auch – um das Jahr 1955 – die Leipziger Freunde Johnsons. Uwe Johnson hat es, dem Freund Manfred Bierwisch zu Ehren, in seinem besten »Export-Englisch« niedergeschrieben:
We may never have been on file as people (»an association«) who congregate from various quarters of Leipzig to sit up nights and discuss whether J. S. Bach, in his Musical Offering of 1747, may have hidden a message.
Mit Blick auf die »verborgene Botschaft« mag es den Freunden um die Frage gegangen sein, wieweit das Musikalische Opfer – Bach hatte es 1747 am Hof Friedrichs des Großen geschrieben und dem Monarchen gewidmet – als eine »preußische« Musik aufgefaßt werden konnte. Doch konnte man dieses Heitere tatsächlich mit dem »Preußischen« identifizieren? Oder lag darin nicht eher eine Emanzipation des protestantischen Individualismus aus den Banden des barocken Melos vor?