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ZWEITES KAPITEL
STUDIUM IN ROSTOCK.
UWE JOHNSONS »GUTE MUTTER«
UND EINE ERSTE LIEBE

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ROSTOCK 1952 BIS 1954: ERSTER STUDIENPLATZ.

DIE STADT UND DIE UNIVERSITÄT

Rostock stellte Uwe Johnsons ersten auswärtigen Wohnort dar. Bis dahin hatte der angehende Student stets mit seiner Familie zusammen gewohnt. Vom Herbstsemester 1952 an, das Studienjahr begann am 8. September 1952, wurde das anders. Nach einem Kurzaufenthalt in einem Rostocker Studentenheim im November 1952 zog Johnson zu Beginn des Jahres 1953 nach Rostock um. Bezog jenes Keller-Zimmer in der Friedrich-Engels-Straße 71 bei der Familie Hensan, wo er bis 1954 amtlich gemeldet bleiben wird.

Indes gehört die Stadt Rostock kaum in die Reihe der Städte, die prägnante Spuren im Werk Johnsons hinterlassen haben. Ein einziges Mal nur nennt er, der sich durch die Summe der Flüsse definieren konnte, in denen er schwamm, die Warnow – in den Jahrestagen, und da ohne jede Konnotation zu der Stadt. Die Rostocker Straßenbahnhaltestellen im Babendererde-Manuskript hat Johnson im Verlauf der Überarbeitung getilgt und dafür durchgängig die Silhouette Güstrows eingesetzt. Just als der angehende Student in die Hafenstadt kam, war die Ostseestadt zu einem eigenen Bezirk erweitert worden. Die damalige DDR-Verwaltungsbezirksreform hatte das vormalige nördliche Mecklenburg und Vorpommern zusammengefaßt. So geriet Johnson in die größte Stadt Mecklenburgs mit damals rund 200 000 Einwohnern und zugleich in die größte Hafenstadt der DDR mit der bedeutenden Neptun- und Warnow-Werft. Neben rund 200 mittelständischen Betrieben erhoben vor allem diese beiden Werften und das Dieselmotorenwerk mit zusammen knapp 20 000 Arbeitsplätzen Rostock zu einer Industriestadt. Rostocks Innenstadt, wie immer durch die Bombenangriffe des Jahres 1942 noch schwer beschädigt, zeigte sich mit Bauwerken der Backsteingotik (Marienkirche aus dem 13. Jahrhundert; Nikolaikirche aus dem 14. Jahrhundert; Petri- und Jakobikirche aus dem 15. Jahrhundert und das sehr schöne, wundervoll proportionierte Rathaus aus dem gleichen Säculum) ausgezeichnet. Die Stadt, späteres Hansemitglied, war im Jahr 1189 neben einer wendischen Burg gegründet worden. Das mag das seine zur Namensgebung »Wendisch Burg« beigetragen haben, in der Ingrid Babendererde, der Roman entstand ja zum größten Teil in dieser Stadt, wobei kein Zweifel daran bestehen kann, daß »Wendisch Burg« Güstrow »ist«.

Spätestens im Mai des Jahres 1952 muß Uwe Johnson beschlossen haben, in Rostock zu studieren. Der Entschluß war ein Kompromiß: Zwar ging der Student von zu Hause fort, aber doch nicht allzuweit. Noch einmal erwartete den Güstrower das Schicksal des »Fahrschülers«. In einem Brief an die Recknitzer Lehrerin Frau Luthe malte er das in moderater Überzeichnung aus:

Morgens um 5 Uhr stehe ich auf, stehe eine Stunde Bahnfahrt ab [...], schlafe (auf mecklenburgisch: »düse«) in der Vorlesung vor Müdigkeit und Nervosität [...], fahre um 21 Uhr nach Hause, bin um 22 Uhr da, arbeite bis 24 respektive bis 1 Uhr. Morgens um 5 stehe ich auf usw.

Die Existenz der Rostocker Universität ging auf einen Gründungsakt vom 13. Februar 1419 zurück, der seinerseits einen frühen Klassenkompromiß darstellte: Der adlige Landesherr stellte in der Regel den Rector magnificentissimus, während ein – aus akademischen oder bürgerlichen Kreisen stammender – amtierender Rektor die Amtsgeschäfte führte – eine Verfassung, die ihrer Zeit für deutsche Verhältnisse weit voraus war. Die Reeder und Großkaufleute der Stadt mit ihren Handelsverbindungen nach Skandinavien und bis in das Italien der Renaissance hatten dies federführend erreicht. Immerhin: Ulrich von Hutten hielt von 1509 bis 1512 Vorlesungen in der Hafenstadt, und nach ihm, 1598, Tycho de Brahe, der berühmte Lehrer des nachmals noch berühmteren Johannes Kepler. Dennoch hatte, nach damaligem DDR-Urteil, die Universität nicht allzuviel zum Befreiungskampf des deutschen Bürgertums beigetragen. Ihr Studentenleben habe sich zuallererst durch Nachtwächterskandale, Duelle und Reibereien mit dem Militär hervorgetan. So jedenfalls stand es im damaligen Studienkatalog geschrieben. Und nun eine Universität im Umbruch: Im Vorlesungsverzeichnis wurde der neue Studiosus mit entsprechend klassenkämpferischen Zeilen empfangen:

1946 begann das erste Semester unter den Bedingungen der sich festigenden antifaschistisch-demokratischen Ordnung. Auf dem Gebiete der Sprachwissenschaft wurde das Institut für Slawistik gegründet. Wenige Tage später erfolgte dann die Einrichtung der Vorstudienanstalt, wodurch nach jahrhundertelanger Unterdrückung den Arbeitern und Bauern Mecklenburgs die Tore der Universität weit geöffnet wurden.

Im Herbst des gleichen Jahres eröffnete die Pädagogische Fakultät mit 148 Studenten den Lehrbetrieb zur Heranbildung von wissenschaftlich qualifizierten Fachlehrern für die Grundschule. An der Demokratisierung der Studenten, an dem Aufbau aller erforderlichen sozialen und wirtschaftlichen Einrichtungen und der Schaffung von wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaften innerhalb der Fakultäten nahm der erstmalig im Oktober 1946 gewählte Studentenrat großen Anteil [...] Wichtige Etappen waren die am 4. Oktober 1949 erfolgte Eröffnung der Arbeiter- und Bauernfakultät, die aus der Vorstudienanstalt hervorging, sowie die Errichtung der Technischen Fakultät für Schiffbau am 26. Mai 1951, deren Studenten zum Teil Arbeiter in volkseigenen Werften gewesen waren. Am 1. September 1951 erfolgte die Eröffnung einer Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät [...] Die enge Verbundenheit der Universität mit den Werktätigen kommt in den Freundschaftsverträgen mit der Warnowwerft und den Maschinenausleihstationen Roggentin und Klein-Kussewitz zum Ausdruck sowie in der Tatsache, daß die Universitätsbibliothek in Ausleihe und Lesesaal auch an mehreren Abendstunden den Werktätigen zur Verfügung steht. Die Zahl der Studenten betrug am 1. April 1946 etwas mehr als 500. Am 1. September 1946 studierten bereits annähernd 1000 Studenten in Rostock, von ihnen waren 13% Arbeiter- und Bauernstudenten. Zwei Jahre später betrug die Zahl der Studenten fast 1500, unter ihnen waren bereits 25% Arbeiter- und Bauernstudenten. Im Studienjahr 1951/52 studierten an unserer Universität über 2000 Studenten, der Anteil der Arbeiter- und Bauernstudenten ist auf 42,5% gewachsen; 85% aller Studierenden erhielten ein Stipendium [...] Aber noch wichtiger war der Beschluß der II. Parteikonferenz der SED über den Aufbau des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik. In Erfüllung der darin gestellten Aufgaben werden unsere Universitäten und Hochschulen eine Intelligenz heranbilden, die durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse in Forschung und Lehre am Aufbau des Sozialismus mitarbeitet.

Diese Zeilen standen über Johnsons Eintritt in die akademische Welt. Sie wiesen aber auch schon auf das Ende hin. Denn die darin erwähnten Maschinenausleihstationen würden sich später, nach 1956, unter jenen zahlreichen Institutionen befinden, die eine Bewerbung des Absolventen Johnson, »Kultureller Beirat« hätte er hier werden können, ablehnen würden.

Der angehende Student fand in Rostock eine Konkurrenz zwischen »bürgerlichen« und linientreuen, oder, wie die Studenten sie nannten, »bonzigen« Lehrkräften vor. Uwe Johnson würde sich vor allem an Hildegard Emmel und an die »bürgerliche« Fraktion halten, was keineswegs nur wissenschaftlich-politische Gründe hatte. Im Alltag jedenfalls koexistierten die beiden Lager noch. Ein Schreiben des FDJ-Mitglieds Johnson an das Rostocker Prodekanat aus dem Jahre 1952 ist ganz selbstverständlich mit dem FDJ-spezifischen Gruß »Freundschaft« unterzeichnet.

Ein bevorzugtes Mittel der Einbindung und ideologischen Schulung des einzelnen Studenten gab die »Seminargruppe« ab. Unter der Rubrik »Formen des akademischen Unterrichts« stand: »Diese Seminargruppe bildet eine feste organisatorische Einheit, die eine kontinuierliche Erziehungsarbeit ermöglicht.« (Namen von Spitzeln aus der Rostocker Seminargruppe finden sich unverändert in den Mutmassungen wieder.) Wie seine Kommilitonen mußte auch Uwe Johnson sich einem »gesellschaftswissenschaftlichen Grundstudium« mit recht ausgreifender Zielsetzung unterwerfen:

Das gesellschaftswissenschaftliche Grundstudium bildet die Grundlage des gesamten Studiums. Es hat die Aufgabe, den Studierenden die Einsicht in die Entwicklungsgesetze von Natur und Gesellschaft zu vermitteln, dadurch ihre Leistungen in den Spezialfächern zu erhöhen und sie zu befähigen, bewußt am nationalen Befreiungskampf des deutschen Volkes teilzunehmen.

Daneben hatte er obligatorische Kurse in russischer Sprache und Literatur zu belegen. Sie sollten ihn befähigen, die Ergebnisse der »fortgeschrittensten Wissenschaft«, der »Sowjetwissenschaft«, zu rezipieren. Johnsons Note in russischer Literatur vom 12. Juni 1953 bestand in einem »Sehr Gut«. Dem Sport, der ebenfalls obligatorisch war und der dem Motto: »Bereit zur Arbeit und zur Verteidigung des Friedens« unterstand, konnte Johnson entgehen, besaß er doch das Güstrower Schularztattest. Johnson selbst:

Gegen den Schüler ist in Einwand zu bringen, dass er sich von einem approbierten Arzt eine »vegetative Dystonie« bescheinigen liess, sobald die amtliche Rede war von freiwilliger Verpflichtung in eine der Waffengattungen der Kasernierten Volkspolizei, und dadurch obendrein eine Freistellung vom Unterricht im Sport sich erschlich. (Begleitumstände, S. 52)

Generell war den Studenten eine strenge Studiendisziplin auferlegt. Außerdem galt eine Art Benimm-Kodex:

ein höfliches und ehrerbietiges Benehmen gegenüber den Professoren und Dozenten, insbesondere das disziplinierte Verhalten in den Vorlesungen; der regelmäßige und pünktliche Besuch der Vorlesungen, Seminare, Übungen, Praktika und Spezialseminare [...]; ein sorgfältiges Selbststudium entsprechend den Studienplänen.

Zum Studium gehörte weiterhin ein Berufspraktikum. Johnson absolvierte es im Sommer 1954 zwischen dem 21. Juni und dem 24. Juli im Leipziger Reclam Verlag, wohnte während dieses Monats bei Erhart Franz in der Paul-Schneider-Straße 5 zur Untermiete. Das Stipendium wurde dem Praktikanten währenddessen von der Universität weitergezahlt. Die Fahrtkosten wurden ihm erstattet, und er erhielt zusätzlich eine Pauschale von 75 Mark. Die Wahl des Ortes Leipzig für das Praktikum mag bereits Johnsons Entschluß widergespiegelt haben, von 1954 an sein Studium in der Stadt an der Pleisse fortzusetzen.

LEBEN UND STUDIUM IN ROSTOCK

Zum Herbstsemester 1952 kam der Güstrower Abiturient nach Rostock. Am 12. Juni 1952 bekam er sein Studienbuch (Hochschulnummer 69/M52) ausgestellt. Am 19. August 1952 wurde Uwe Klaus Dietrich Johnson, von nun an allerdings würde er seinen Namen auch auf amtlichen Unterlagen konsequent auf Uwe Johnson verkürzen, für sein erstes Studienjahr immatrikuliert. Auf dem ersten Paßfoto seiner Universitätsjahre blickt, mit offenem Kragen und frisch geschnittenen, aber doch nicht ganz kurzen Haaren, hinter schwer-schwarzem Hornbrillengestell, ein selbstbewußter junger Intellektueller ruhig in das Objektiv. Im ersten Studienjahr, zwischen dem Herbst 1952 und dem Frühjahr 1953, bekam Johnson die obligatorischen drei Wochenstunden Grundlagen des Marxismus-Leninismus verabreicht. Sie werden im Studienbuch an extra prominenter Stelle aufgeführt. Hinzu kamen Systematische Pädagogik und Entwicklungspsychologie (hier hatte einer, der nicht Lehrer werden wollte, dennoch einen Lehrerstudiengang gewählt), ferner Mittelhochdeutsche Grammatik, Sprechkunde, die Geschichte der Deutschen Literatur von 1700 bis 1789, eine Einführung in die Sprachwissenschaft und, was dann auch für das nächste Studienjahr gelten würde, die Lektüre neuenglischer Texte sowie Russische Sprache und Literatur.

Im zweiten Studienjahr kamen dann Althochdeutsche Grammatik und Hauptprobleme der Deutschen Satzlehre hinzu, ebenso die Geschichte der Deutschen Literatur 1789 bis 1815 (bei Hildegard Emmel). Weiterhin hörte Johnson Meisterwerke der Weltliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts und ein Spezialseminar zu Faust II. Daneben standen noch Anfängerübungen im Schwedischen – Johnson wußte um seine Herkunft – und die Lektüre neuenglischer Texte – was unverkennbar Johnsons damals schon vorhandene komparatistische Interessen belegt –, eine Geschichte der Französischen Literatur in der bürgerlichen Gesellschaft und eine Geschichte der Französischen Literatur im Absolutismus. Hinzu kamen noch Englische Debattierübungen und die Antike Philosophie Platons. Uwe Johnsons Studienergebnisse erwiesen sich, wie zu erwarten, als insgesamt hervorragend. Dies ungeachtet des Umfangs seines Stundenplans und, obwohl er nebenbei schrieb und, so das Zeugnis seiner Rostocker Studienfreundin, des »Waldgesichts«, weniger fürs Studium gearbeitet habe als beispielsweise sie. Das Zwischenprüfungsergebnis vom 18. Mai 1953 lautete: Gesamtnote »Sehr Gut«.

Diese Gesamtzensur umfasst folgende Prädikate: 1. Schriftliche Abschlussarbeit – Sehr Gut. 2. Leistungen während des Studienjahres – Sehr Gut. 3. Teilnahme am Unterricht – regelmässig.

Am 27. Mai 1953 legte der Student die Zwischenprüfung über Herder und Kant sowie über die Literatur des Demokratischen Deutschland ebenfalls mit »Sehr Gut« ab. Auch in Marxismus-Leninismus erzielte er (am 12. Juni) ein »Sehr Gut«. Gleiches galt für die russische Sprache und die Geschichte der Deutschen Literatur von 1700 bis 1789. Nur in der Mittelhochdeutschen Grammatik kam er über ein »Gut«, wenn auch mit Pluszeichen, nicht hinaus. Am 15. Oktober 1953 wurde ihm dieses Prüfungsergebnis offiziell bestätigt.

Bereits der Studienanfänger Johnson organisierte sein Dasein als Schriftsteller. Seine finanziellen Mittel waren begrenzt. Dennoch bevorzugte er, das eigene Schriftbild ausschließlich in schwarzer Tinte zu erblicken, ungeachtet aller Mehrkosten. Eine Fülle solcher schriftstellerischer Utensilien wird Walter Benjamin fordern – als unerläßlich für die Inspiration. In bezug auf die Rostocker Zeit hat Uwe Johnson in Begleitumstände das folgende geschrieben:

Wie soll er da eine Fülle auftreiben, wenn die Regierung selber schreiben lässt auf holzigem Papier! Will er das bewerkstelligen mit dem Ankauf unzähliger »Geschenkpackungen« aus einem monatlichen Budget von 130 Mark Stipendium, wird er Senf wählen müssen als Belag für sein Brot. Es ist selbst verschuldet, wenn einer sein Schriftbild nur in schwarzer Farbe erträgt (auf den Vorwurf der Exzentrizität antworte ich mit der Auskunft, dass grüne Farbe reichlich im Handel war), solches Schwarz aber so tief im Süden der Republik angefertigt wird, dass es den Bezirk Rostock nur zufällig erreicht. Hier versichere ich einem Mädchen namens Christian, dass ich anfangs aber ohne jede Ahnung war von dem Geschäft, das deine Mutter betrieb, mit Schreibwaren, Christian. Was war Luxus? Eine Schreibmaschine war Luxus. Fülle war manchmal geboten. (Begleitumstände, S. 69 f.)

Bei dem im Text erwähnten »Mädchen namens Christian« handelte es sich um die Kommilitonin Christine Krakow, mit der Johnson im Rahmen des Vietinghoffschen Englisch-Unterrichts im Herbst 1953 bekannt geworden war, mithin in jener Zeit, auf die sich auch die zitierte Passage der Begleitumstände bezieht. Bereits da muß er sich als Berufsschriftsteller im Benjaminschen Sinn betrachtet haben. Das Schreiben als eigene, besondere Form der Existenz. Als eine Profession, die der geeigneten Stimuli bedurfte. Einsparungen vorzunehmen, das erschien dem asketischen Blonden in nahezu allen Bereichen des Lebens als notwendig und möglich. Nicht aber im zentralen seiner Schreibexistenz.

Tatsächlich mußte er energisch sparen. Johnsons Stipendium betrug von 1952 bis 1955 130 Mark im Monat. Seine Mutter verdiente, zu Beginn des Jahres 1955, ganze 263 Mark. Der dann zum »Arbeiterkind« gewordene Uwe Johnson erhielt, wie erwähnt, sein Stipendium auf 180 Mark aufgestockt. Die Rostocker Straßenbahn gewährte gegen »Vorlage des Studentenausweises und eines Lichtbildes« eine verbilligte Monatskarte zum Preis von 7,50 Mark. Als Stipendienempfänger war Johnson beitragsfrei versichert. Daneben besaß er dank des mütterlichen Berufes einen Freifahrschein für die Strecken der »Deutschen Reichsbahn«. Ebenso das Recht, zu ermäßigten Preisen in der Reichsbahnkantine in Güstrow zu essen. Dieses Recht nahm er häufig wahr (und erlauschte sich hier entscheidende Kenntnisse zur Darstellung des Dispatcher-Berufs). Für ihre Studenten unterhielt die Rostocker Alma mater einen Mensabetrieb in der Schwaanschen Straße. Der Student Johnson, es ist verbürgt, daß er die Leipziger Mensa regelmäßig aufsuchte, wird auch in Rostock diese Möglichkeit in Anspruch genommen haben. Dort wurden, so stand es geschrieben, Mittag- und Abendessen »verabfolgt«. Das Mittagessen kostete 0,60 Mark. Das Abendessen, auf eigener Karte ausgeschrieben, war für 0,30 bis 1,10 Mark zu haben. Als Tischzeiten galten wochentags 11.30 bis 13.30 und von 17.30 bis 19.30. Auch sonntags konnte einer zwischen 11.30 und 13.00 verköstigt werden. Daneben standen allen Studenten Lebensmittelkarten zu, die ausgeteilt wurden vom Prodekanat in der Schwaanschen Straße Nr. 3, 1. Stock, wochentags zwischen 10 und 14 Uhr.

ALICE HENSAN, DIE »GUTE MUTTER« VON ROSTOCK

Die offizielle Bestimmung lautete 1952: »Immatrikulierte Studenten erhalten sofort Zuzugsgenehmigung.« Damit war freilich noch kein Zimmer gefunden. Das besagte Rostocker Prodekanat hätte Johnson vielleicht helfen können. Tatsächlich aber war es die Kommilitonin Käthe Woischik, die ihm zu seiner ersten Studentenbude verhalf. Das Zimmer lag damals noch in der Rostocker St.-Georg-Straße, aus der Drachentöter-Straße wurde nur wenig später die Friedrich-Engels-Straße. Heute hat die Straße ihren alten Namen zurückerhalten. Im Einfamilienhaus mit der Nummer 71, einem in glasierten Backsteinziegeln aufgeführten zweistöckigen Bau mit umgebendem Garten, wohnte die verwitwete Dame Alice Hensan mit Familie. In ihr sollte Uwe Johnson, dessen Beziehung zur eigenen Mutter seit längerem gespannt, ja zerrüttet war, einer »Ersatz-Mutter« begegnen, die ihm lebenslang ebenso eng verbunden bleiben wird wie Uwe Johnson ihr. Unter allen Rostocker Begegnungen ragt diese hervor. Ihr muß vergleichbare Bedeutung wie der noch zu schildernden mit dem »Waldgesicht« zugesprochen werden. Sie überstrahlte bei weitem alle akademischen Einflüsse an Intensität. Offiziell ist Uwe Johnson vom 17. Januar 1953 bis zum 12. September 1954 bei Hensans gemeldet gewesen; sehr gut möglich ist aber auch, daß er das Zimmer bereits 1952 bewohnte, zumindest sporadisch. In seinen Briefen jedenfalls wird er von der gemeinsamen Zeit mit Hensans »seit 1952« sprechen; in der Studienakte folgt die Rostocker Adresse direkt auf die Güstrower.

Der frisch aus Güstrow angelangte Student zog also in das traditionelle »Studentenzimmer« eines Bürgerhauses ein, gelegen in einem der besseren Viertel der ehemaligen Hansestadt. Man betrat das Haus durch einen seitlichen Eingang. Der führte, ohne die restlichen Wohnräume zu berühren, über eine kurze Treppe zur Linken hinunter in das »Studentenzimmer«. In diesem Zimmer las, studierte und schrieb Uwe Johnson in den Jahren 1953 und 1954, pfeiferauchend und teetrinkend. Außer ihm war das Haus von drei Frauen bewohnt: Großmutter, Mutter und Tochter. In der Mutter haben wir gewiß die Tonangebende zu vermuten: eben in der Dame Alice Hensan, geboren im Jahre 1900, gestorben 1985. Alice Hensan hatte Sohn und Ehemann im Krieg verloren. Sie war gebildet und literaturinteressiert, die Tochter einer Engländerin, schrieb sie einen schönen, erfrischenden deutschen Briefstil mit häufigen englischen Einsprengseln. Durchaus selbstironisch ließ sie sich die »Eule« nennen. Unter diesem Zeichen fanden die beiden zu einer Beziehung, aus der ein für Johnsons Biographie wichtiger, umfangreicher Briefwechsel resultiert.

Alice Hensan, die wußte, daß ihr Untermieter schrieb, und die ihn schon einmal ihren »guten Jungen« nennen konnte, brachte es zu einer erstaunlichen Autorität über den jungen Mann. Nach der Erinnerung von Manfred Bierwisch – und alle Briefzeugnisse unterstützen diese Aussage – bedeutete Alice Hensan dem jungen Schriftsteller schon bald entschieden mehr als die eigene Mutter. Sie zeichnete sich aus durch beherrschte Herzlichkeit, darin ein »norddeutscher Mensch«. Zudem einer mit einer großen Bibliothek, die von Goethe und Schiller über Fontane bis zur englischen Ausgabe von William Faulkners Light in August reichte. Die »englische Dimension«, in ihrer Bedeutsamkeit für sein literarisches Werk gar nicht zu überschätzen – Johnson begegnete ihr zuallererst in dem Haus an der Friedrich-Engels-Straße.

Alice Hensans Vater war Landgerichtsdirektor in Rostock gewesen. Er hatte sich mit einer Engländerin verheiratet. Ada Hensan kam aus Hull und erreichte ein biblisches Alter (sie lebte von 1867 bis 1960). Wiewohl ihr Deutsch perfekt war, hatte sie ihre Muttersprache beibehalten. Liebte es nach wie vor, sich auf Englisch zu unterhalten. Diese »Granny« stellte eine äußerst vitale alte Dame mit recht bestimmtem Auftreten dar, die Besucher zur – englischen – Konversation geradezu abzuordnen vermochte. Da kam ihr der neue Untermieter gerade recht. So wie umgekehrt ihr authentisches Englisch dem Studenten zupaß gekommen sein muß, der von Anfang an in Rostock englische Literatur- und Konversationskurse belegte. Bald schon erwies sich der neue Untermieter Johnson als »Grannys« Favorit. Ada Hensan liebte übrigens insbesondere John Galsworthys Forsyte-Saga.

Auch mit Alices Tochter Dora-Elisabeth »Dorothy« Hensan – sie lebt heute noch in dem besagten Haus – ist Johnson lebenslang in Verbindung geblieben. Auf sie hat er sich häufig im Zusammenhang mit Anträgen an die Behörden der DDR berufen. Johnson duzte sich mit der Tochter. Mit der »Ziehmutter« hat er sich wechselseitig gesiezt, wenngleich die »Eule« den Vornamen »Uwe« benutzte. Daß sie ihn im Gegensatz zu seiner späteren Ehefrau Elisabeth siezte, bezeugte Respekt vor seiner Eigenart und Begabung. Es hinderte sie aber ganz und gar nicht daran, ihm in bestimmten Situationen höchst energisch »die Leviten zu lesen«. Daß er ihr ein »Sohn-Ersatz« gewesen sei, hat die Tochter Dorothy Hensan dann im März 1982 an Uwe Johnson schreiben können. In seiner gesamten Zeit in der DDR, auch noch nach der Beendigung des Studiums, war Uwe Johnson ein gern gesehener Gast in diesem Rostocker Haus. Anläßlich seines Weggangs aus der DDR hat er an die Wunschmutter die folgenden Zeilen geschrieben – zusammen mit der Mitteilung, daß auf der Buchmesse 1959 ein Buch von ihm erscheinen werde:

Sie können gewiss sein, ich hätte es lieber in der Deutschen Demokratischen Republik verlegt und verkauft gesehen. Und glauben Sie bitte nicht, dass ich mich mit diesem Buch gegen die Deutsche Demokratische Republik entschieden hätte. Ich bin sehr ungern gegangen.

Solche Offenheit hat der mecklenburgisch Verschlossene zeitlebens eigentlich nur gegenüber der »Eule« geübt. Auch sie mußte er verlassen, als er sein Land hinter sich ließ. Wie hatte er doch geschrieben, sie zu bitten, seine nachgelassenen Möbel aus Güstrow abzuholen: »die Lampe, den Sessel, das Bettzeug, und den Krug unter dem kleinen Tisch, denn er war mir teuer, ich entbehre [...]«?

Selbst als er die DDR bereits hinter sich gelassen hatte, kümmerte sich Uwe Johnson um die alt gewordene Dame Hensan, aufopferungsvoll in seiner gewissenhaften Art und mit beeindruckender Zartheit. Nach 1959 ließ er den Hensans die noch ausstehenden Honorare aus seiner Israel Potter-Übersetzung überweisen. Betagt genug, den »Arbeiter- und Bauernstaat« vorübergehend verlassen zu dürfen, besuchte die »Eule« später die Familie Johnson in Berlin. Johnson sandte der Rostocker Familie neben Büchern zahlreiche Kunstkalender, vorzugsweise solche mit mecklenburgischen Motiven, und viele, viele Flaschen Underberg. Nach dem Wegzug der Johnsons aus Berlin um die Mitte der siebziger Jahre sah man sich noch seltener als zuvor, und wenn, dann lediglich in Rostock. So blieb am Ende nur die Post, und es entstand ein ausgedehnter Briefwechsel. Johnson wünschte sich stets Informationen über den Tageslauf der Familie. Verstärkt galt dies, nachdem die »Eule« infolge einer Embolie im rechten Arm am 16. Februar 1982 einen Schlaganfall erlitten hatte.

Der Schriftsteller gab sich über die Jahre hinweg außerordentlich Mühe mit dem Aussuchen der diversen Geschenke für die Hensans, berücksichtigte dabei die Aspekte der Brauchbarkeit ebenso wie die der Vergnüglichkeit. Noch am 16. Juli 1982 bereicherte der Güstrower den Haushalt der Hensans mit einer Hausleiter. Deren Erwerb im feuchtheißen Frankfurt erschien ihm eigener Schilderung wert. Nicht nur, daß er anläßlich dieses schweißtreibenden Aktes die habituellen Schwierigkeiten des Vielreisenden, seine obligaten schwarzen Hemden in den fast immer zu kleinen Waschbecken der Pensionen und Hotels zu waschen, in exzellenter Buchprosa voller Schalk und Ironie geschildert hat. Das gute Stück kostete seinerzeit DM 51,50. Wurde erworben im hochsommerlichen Frankfurt im Fachgeschäft für Einbauküchen und Haushaltsgeräte Anton Hartmann und Sohn in der Neuen Kräme Nr. 30. Im Keller dieses Geschäftes, an einem »feuchthitzigen Tag«, brachte ein Autor zwanzig sehr erhitzte Minuten mit der sorgfältigen Auswahl einer »handlichen Leiter« zu. »Ich hatte danach Veranlassung, mich umzuziehen, so auffällig weissliche Salzspuren hatte der Schweiss in dem von mir beliebten schwarzen Hemd deponiert«, so Johnson im Brief vom 16. Juli 1982 – ein Schreiben, in dem er sich denn doch ein »Verdienstchen« für seine tropische Beschaffungsaktion in dem »Frankfurter Handelshaus« anrechnen wollte. Anderes mußte seinen Weg in die »Demokratische Republik« über den Geschenkdienst »Jauerfurt AG« nehmen. Nicht alles daran war der DDR genehm. So mußte der Schriftsteller, noch kurz vor seinem Tod, am 26. Januar 1984, Dorothy Hensan mitteilen, daß sein Versuch, ihnen die nun kompletten Jahrestage zugänglich zu machen, an der »Ziffer 111 der Liste der verbotenen Gegenstände« gescheitert sei.

Johnsons Beziehung zu Alice Hensan war am Ende so von Fürsorge bestimmt, daß er vom Scheitern seiner Ehe der »Eule« niemals ausdrücklich berichtet. Nur ganz indirekt, in einem langen Brief vom 5. Dezember 1979, der an die Tochter ging und im Postskriptum Zweifel anmeldet, ob der Brief auch der »Eule« zumutbar sei, deutete Johnson die private Katastrophe an, indem er die Geschichte des Gastes George im »Seaview«, einem Pub und Hotel in Sheerness in der Nähe von Johnsons Haus, erzählte, wo der Wahlengländer selbst gern sein abendliches Bier trank. George bekommt dort ebenfalls seinen abendlichen »Gerstenwein«. Muß bei dieser Gelegenheit allerdings zusehen, wie seine Mildred, sie hat ihn verlassen, mit ihrem neuen Freund tanzt, sich in den Arm eines – selbst George muß das zugestehen – recht ansehnlichen und fürsorglichen Mannes schmiegt. George zählte 53 Jahre. Er sagte zu »Charles«, so hieß Johnson bei den Kneipengängern in Sheerness, nun sei er diesem um eine Ära voraus. Man müsse den Tatsachen ins Auge sehen. Mithin auch der, daß man nach ganzen 26 Jahren die Frau verlieren könne. Dennoch wolle er nicht von der Themse-Insel herunter, obwohl ihm seine Tochter einen Job in Southampton besorgt habe.

Dieser Bericht der »George-Geschichte« war das Äußerste an Direktheit, was Uwe Johnson den Hensans bezüglich seiner Ehekrise zumuten mochte.

Eine weitere Andeutung war allenfalls noch einem Brief zu entnehmen, mit dem der Einsame, der seine Einsamkeit in den Jahren nach 1978 gegenüber den Hensans nie direkt benannt hatte, über die Feier seines Geburtstages berichtet: Das sei nun das erste Mal seit zwei Jahrzehnten, daß er diesen wieder gefeiert habe. Zu

diesem Zweck flog ich in einem Luftkissenboot nach Boulogne-surmer, um dort in einer Nebenstrasse in einem etwas schmutzigen Zimmer zwei Lammkoteletts zu verzehren, mit ungemein reichlicher Knoblauch-Creme.

Dreierlei Geschenke habe ihm dieser Tag eingebracht: das Glückwunschtelegramm der Hensans; ein mitgehörtes amüsantes Familien-Gespräch am Nebentisch; und »die wiederholte Genugtuung, dass Hitlers Invasionsboote scheiterten an einer Strecke, für die ein englisches 45 Minuten braucht«.

Der Rostocker Familie konnte er weiterhin mitteilen, wofür sonst die eigene Familie den Adressaten abgibt: daß er, ebenfalls 1981, befürchtete, an Krebs erkrankt zu sein, was aber eine ärztliche Untersuchung entkräftete. Auch von notwendigen Reparaturen am Hausdach 1980 und der Entfernung einer sich ebenfalls als ungefährlich erweisenden Zyste aus seinem Arm im November 1979, vorgenommen im »Royal Marshden Hospital« in London, finden sich Mitteilungen an die Familie Hensan. Sogar Briefwechsel mit Manfred Bierwisch – etwa im Jahr 1978 – nahmen ihren Weg über die Hensans. Vor allem aber sandte er viele fingierte Dialoge aus seinem Stammpub »Napiers« an die »Eule«. Vom 21. November 1978 stammt folgende Szene voll dramatisierter Lakonik:

Bitte, vergegenwärtigt Euch die folgenden Verhältnisse und Vorgänge: Szene, aussen: eingeregnete Strasse, im Winde wankendes Wirtshausschild. Mann, durchnässt, betritt das Gebäude. Szene innen: Wirtsstube, Wirt, Mann eintretend. Wirt: »Rather wet out there, I presume«. Gast: »Must have something to do with the weather, I think«. Zuschauer (Bricht in Tränen aus). So viel von der hiesigen Diskretion und vom vorhandenen Wetter.

In dieser Umgebung, das Gasthaus als Ersatz familiären Zuhauses, spielten dann auch die zahlreichen Dialoge zwischen Charles I (Johnson), Charles II (ein Kneipen-Freund) und Charles III (dessen Kanarienvogel), die Johnson für die Hensans erfand.

Nach seiner Übersiedlung nach England hat Uwe Johnson die Hensans wohl nur noch zweimal gesehen. Gewiß hat er sie besucht, als er sich im Jahr 1978 vom 14. bis zum 17. Juni in der DDR aufhielt. Und er hat sie am 17. und 18. August ein letztes Mal besucht, als er mit einer englischen Reisegesellschaft und englischem Guide Mecklenburg und Rostock besuchte. Da freilich nicht, wie die Fama es will, als ein englischer Staatsbürger, sondern durchaus als der Bundesdeutsche mit der Paßnummer: D 8 085 509, der er lebenslang geblieben ist.

DAS »WALDGESICHT« ALS INGRID.

UWE JOHNSONS ERSTE LIEBE

Uwe Johnson kannte die junge Dame, die für die Ingrid in seinem Erstling, wenn auch eher unfreiwillig, Modell gestanden hat, seit dem Spätsommer des Jahres 1952. Beide studierten sie Germanistik an der Rostocker Universität. Bereits in einem Brief vom 30. August 1952 meldete der Student seine Verliebtheit der ehemaligen Recknitzer Lehrerin Charlotte Luthe. Dort finden sich die folgenden Zeilen:

Ich habe mir den Magen verdorben und verliebt habe ich mich auch. Wie üblich, beging ich meinen traditionellen Fehler und suchte mir so safttriefende Birnen aus, in die ich mich dann – verliebt habe. Den Magen verdarb ich mir mit (auch Tradition) einem jungen Mädchen, bei dem nicht nur der sex appeal entscheidend war. Sie ist in einer interessanten Entwicklungsperiode, nämlich im Übergangsstadium zwischen Backfisch und wirklicher Dame.

Johnson schrieb hier vom »Waldgesicht«: einer jungen Frau, die mit Vornamen Gertrud hieß und die er selbst schon bald »Göre« oder auch »Deerie« rief. Ihr Mädchenname und jetziger Name sollen auf ihren Wunsch hin ungenannt bleiben. (Der studentische Neckname »Waldgesicht« hat übrigens nie für die direkte Anrede zwischen den beiden gegolten. Sie ihrerseits nannte den Mecklenburger bei seinem Vornamen.) Das »Waldgesicht« ist am 23. April 1934 in Crivitz bei Schwerin geboren, entstammte also der gleichen Gegend wie Uwe Johnson. Dort ging sie bis zum Abitur im Jahr 1952 zur Schule. Auch sie hatte ihren Vater verloren, bereits 1944. Sie besaß zwei Brüder. Ihre Mutter hat Johnson ebenfalls kennengelernt, sie mag zur Zeichnung der Frau Babendererde das ihre beigetragen haben.

Aus sogenanntem bürgerlichen Hause, der Vater war Kaufmann gewesen, hat das »Waldgesicht« den Ideen des Sozialismus, von seiner Praxis ganz zu schweigen, nie etwas abgewinnen können. Nicht nur das unterschied sie damals von Uwe Johnson. Andererseits: Während des ersten Semesters in Rostock holte das »Waldgesicht« ihr Kleines Latinum nach. Daraus müssen sich, neben anderem, Berührungspunkte mit dem Einser-Lateiner Johnson ergeben haben.

»Waldgesicht« als Johnsons erste Liebe also, so genannt ihres ebenmäßig-lieblichen, sozusagen »grünen« Antlitzes wegen. Ein Gesicht, zu dem der Name Ingrid (im Altisländischen »die Liebliche«) gewiß gepaßt hätte. (Den titelgebenden Vornamen für den Erstling jedoch hatte Uwe Johnson bereits in Güstrow von der Schulkameradin Ingrid Helms entlehnt.)

Aus dem Fenster hielt sich ein verschlafenes aus der Massen liebliches Gesicht unter verwirrten blonden Haaren, das war lächelnd und versöhnlich noch vom Unbewusstsein des Schlafens. (Babendererde, S. 203).

Und weiterhin ist dort zu lesen:

Herr Wollenberg kehrte zurück mit einem schmalen kantigen Silberreifen auf seiner Hand, den legte er vor Klaus hin, stützte sich ohne Eile auf die Theke und sprach: War das so? Klaus drehte das matt schimmernde kühle Silber in seinen Fingern, hielt die Innenseite gegen das Licht, sah Herrn Wollenbergs gelassenes Zusehen, legte den Ring hin. Während Herr Wollenberg wohlwollend erzählte: Ja-u ..., neulich sei doch das Fräulein Babendererde hier gewesen und habe sich das Fach mit den Armreifen angesehen. [...] Während Klaus das Geld auf der Theke ausbreitete, erwähnte Herr Wollenberg noch: das Fräulein Babendererde sei ja wohl das schönste und netteste Mädchen am Orte, könne man wohl sagen. (Babendererde, S. 27 f.)

Ob Uwe Johnson im Jahr 1953 nun exakt 14 Mark für das Anfertigen eines Armreifs bezahlt hat, war nicht zu ermitteln. Wohl aber, daß seine Freundin aus Rostocker Tagen noch heute jenen silbernen Armreif trägt, dessen Herstellung im obigen Zitat, es erhält dadurch den Status eines Dokuments, geschildert wurde. Das Schmuckstück trägt die Gravur: »November twelfth«. Am 12. November 1953 hatte ein politisch wie persönlich denkwürdiges Treffen stattgefunden, auf das noch näher einzugehen sein wird und das eine Vertrautheit annahm, die den Verehrer jenen besagten Armreif schmieden ließ, den er ihr mit ausgesucht symbolischen Formen erst 1954/55 im berühmten Hörsaal 40 des Professors Hans Mayer überreichte.

Angefangen aber hatte ihre Bekanntschaft bereits im ersten Rostocker Semester, eben 1952. Ein Photo zeigt das »Waldgesicht« artig lernend, sonnenbebrillt, im Liegestuhl im Garten hinter dem Hensanschen Haus. Ein kissenwerfender Johnson bemüht sich derweil, ihre Aufmerksamkeit zu erringen. Und er erregte Aufmerksamkeit bei ihr:

Uwe fiel von Anfang an auf als etwas Besonderes, er war sicher den Professoren interessanter als den meisten anderen von uns. Ich fand ihn sicher auch interessant, aber zu eigenbrötlerisch in seinem Wesen und – was bei mir sicher auch eine Rolle spielte – leider häßlich.

Kein Zweifel, Johnson war der Begabteste seines Jahrgangs. Aber das half ihm nur wenig beim »Waldgesicht«. Der Güstrower gerierte sich als Bohemien und Außenseiter, legitimiert durch das Versprechen künftiger schriftstellerischer Leistung. Wer sich mit ihm einließ, mußte damit einverstanden sein.

Das »Waldgesicht« dagegen war von lockerem und gewandtem Auftreten, intelligent und hübsch, allerdings eher unselbständig und eine »Schülerin« immer noch, ausdrücklich um soziale Akzeptanz bemüht. Als »die Schönste von uns« (so Käthe Walter, die Frau des späteren Güstrower Superintendenten) machte sie die berauschende Erfahrung des Umworbenseins. Das »Waldgesicht« als norddeutsche Aphrodite: Die junge Frau trug auf Rostocks sommerlichem Pflaster die gleichen – griechischen – Sandalen, von denen in der Babendererde später geschwärmt werden wird. »Die Sandalen waren nichts weiter als Ledersohlen, die von kunstreich verbundenen Riemen an den Fuss gehalten wurden.« (S. 37) Gern und ausgiebig macht sich diese Studentin »schön«, achtete auf ihre Kleidung, den Blicken der Bewunderer zu gefallen. Unter diesen befanden sich auch – so später Hans Mayer – die »seltsamen Augen« des Kommilitonen aus Güstrow. Dieser war möglicherweise, das »Waldgesicht« betrachtend, ebenso hochgestimmt wie der Autor der »Ingrid«, die Zentralperson seines Buches beschreibend. Ingrids Mutter wird Zeugin, wie ihr Kind sich ankleidet:

Ingrid hatte sich mittlerweile ihre blaue Tapete über den Kopf gestülpt und arbeitete schweigend ihre Arme daraus hervor. Das war eine Art weites Hemd mit drei Löchern, das »Tapete« hiess wegen des unaufhörlichen Musters von sandfarbenem Grasgewächs in dem Blau. Sie stand jetzt vor Katina und schnürte die Sandalenriemen um ihre Füsse [...] Die Haut ihrer Stirn war ganz braun und fest von Sonne und Wind, das Hemd unter ihren wirren Haaren sah aus nach freundlicher Jahreszeit und lustigem Betrieb, das passte sehr fremd zu ihren schwierig erfüllten Augen und zu ihren mühsamen Lippen. (Babendererde, S. 190 f.)

Wenn das »Waldgesicht« sich die Lippen geschminkt hatte, konnte Johnson dessen kosmetische Taten seiner Hauswirtin Hensan, mit dem Hinweis auch auf »Deeries« rotlackierte Fingernägel, mit den Worten vorführen: »Sieh doch mal, was dieses Kind gemacht hat.« Von biegsamer Gestalt wie die Ingrid im Text, trug das »Waldgesicht« auch gern jene engen Hosen, die dann die Babendererde als Eva Maus bevorzugtes Kleidungsstück erwähnt. Gewiß also mußte »Liebe« heißen, was hier vor sich ging – jedenfalls von der Seite des Güstrowers her gesehen. Es hätte sich womöglich eine Affäre ergeben können nach dem Muster von Aldous Huxleys Das Genie und die Göttin? Doch die Verhältnisse im Rostock der Jahre 1952 bis 1954 und noch 1955 in Leipzig, sie waren nicht so. Allem gelegentlichen Spott über deren allzu simple Bürgerlichkeit zum Trotz, wie ihn die Briefe aus späteren Jahren verraten, gilt dennoch, was Uwe Johnson noch am 3. März 1976 an Erika Klemm (die Frau des Leipziger Freundes »Béla«) geschrieben hat: Das »Waldgesicht« sei seine »unglückliche Liebe« gewesen.

Wie Klaus und Ingrid in der Babendererde werden auch Johnson und das »Waldgesicht« ihre Flirtrituale gehabt haben:

Klaus liess sich vor dem Mädchen nieder auf seine Beine, und während er das Leinen verschnürte an Ingrids Füssen, waren seine Mienen die eines nachsichtigen aber ungeduldigen Vaters, der seiner jüngeren Tochter beim Anziehen hilft. Das Mädchen sah ihm zu mit schüchternen und ängstlichen Mundwinkeln, und als er die letzte Schleife verknotet hatte, sprach das Kind mit kindlichem Nicken und damenhaft obenhin: Danke. Wollen Sie mir, bitte, beim Aufstehn behilflich sein? [...] –

Ik hew all dacht du keemst nich: sagte das braune Gesicht vor ihm mit der herzstockenden Ingridschönheit; es ist unglaublich anzuhören wie sie das gesagt hat aus ihrer Kehle, diese Göre, dies Frauenzimmer, dessen Arme er um seine Schultern fühlte, dem er nun vorsichtig an den Augen entlangstrich mit seinem ungeschlachten Zeigefinger, dessen Kopf er in seiner Hand hielt, während der Wind seine Finger streichelte, mit diesen Haaren. (Babendererde, S. 40)

Ingrid Babendererde erweist sich als ein Schülerroman auch darin, daß das Buch wesentlich als ein Wunscherfüllungstext geschrieben wurde. Unverbrüchlich gehört Ingrid zu Klaus, wobei sich allerdings nicht Klaus, sondern Jürgen als die realbiographische Spielfigur des Autors erweist. Jürgen fungiert als der FDJ-Funktionär, der Johnson auch in Rostock am Anfang noch immer war.

Ein Tatbestand, der eine erhebliche Rolle spielte in beider Beziehung. Uwe Johnson zeigte dem »Waldgesicht« seine Werbung mit Blicken. Daneben wählte er die Form eher ungeschickter Tanzstunden-Höflichkeiten, wie das obligate In-den-Mantel-Helfen oder das Angebot gemeinsamer Arbeit fürs Studium. Nie aber konnten die beiden so intim zusammensein, wie Uwe Johnson sich das von Anfang an gewünscht haben muß. Was er in der Hinterhand-Skizze für die etwas spätere Leipziger Zeit aufgeschrieben hat, galt es bereits in Rostock? Der junge Intellektuelle mit dem Erfahrungshunger des Künstlers und mit seinen damals noch nicht wesentlich gebrochenen sozialistischen Aufbauhoffnungen stellte sich die Liebe nach dem bekannten bohemischen Künstler- und Studentenmuster vor. Das wiederum gestattete die »uneheliche Hochzeit« (so Johnson und Bierwisch in ihren Briefen aneinander) mit der Freundin nicht nur, es prämiierte sie geradezu. Hier mögen sich gar noch die Vorstellungen von den bolschewistischen Berufsrevolutionären des beginnenden 20. Jahrhunderts hineingemischt haben, denen die Ehe als eine politische Aufgabe und Sex als ein Schluck erfrischendes Wasser gegolten haben soll. Ein Vorstellungskomplex, der durchaus das Element von »Erziehung« der Frau durch den politisch bewußteren Mann enthält. Dagegen stand auf seiten des »Waldgesichts« eine ungebrochene »Bürgerlichkeit«. Diese Ingrid meinte, was sie sagte. Nicht zuletzt zelebriert die Ingrid der Babendererde beim Abschied von Klaus die genau entgegengesetzte Geste zu jener der Mrs. Hinterhand aus der Skizze. Beide Armbewegungen erscheinen an der bekannten Geste der Ottilie aus den Wahlverwandtschaften orientiert, die wiederum laut Walter Benjamin dem »sprachlosen Trieb« entspricht. Ingrid aber ist der verpflichtenden Sprache durchaus mächtig. Das »Waldgesicht« wußte, was es wollte. Hielt auch, was es sagte. Leider ging ihr Wille in eine ziemlich andere Richtung als der des Freundes Uwe Johnson.

Dessen Wissen imponierte dem »Waldgesicht«. Doch seine körperliche Nähe mochte sie eigentlich von Anfang an nicht. Der Student hat das lange nicht realisieren können. Nach Art von erotisch eher unsicheren Jünglingen schrieb der 19jährige auf einer Postkarte vom 12. Mai 1954 an den Schulfreund Heinz Lehmbäcker, der seine »feste Beziehung« bereits gefunden hatte:

Im Liegestuhl neben mir dehnt sich die Göre, arbeitet für Zwischenprüfung, schläfrig in Vormittagssonne, wird unaufhörlich braun, legt Buch weg, schläft einfach ein. Sonne scheint gewichtig; [...] Amselpaar macht Lärm, der ganzen Garten ausfüllt.

Das klingt verlockend-vielversprechend. Doch bereits am 6. Mai 1954 deutete sich die Zurückweisung an: »Auf dem Fensterbrett Kaktus, in Vase Blumen, dies geschenkt. – Kleines Mädchen hat Angst vor mir, sagt dazu Liebe, ganz verrückte.« Abneigung und Angst vor dem Unbekannten mögen sich die Waage gehalten haben. Noch im 1955 einsetzenden Briefwechsel zwischen Uwe Johnson und Manfred Bierwisch spielt die junge Frau eine Rolle. Bierwisch fragte den Freund schon einmal, ob das »Waldgesicht« denn nun »frei« sei, freilich ohne eine Antwort darauf zu erhalten. In ruhiger Überzeugtheit vom eigenen Aussehen blickte das »Waldgesicht« in diesen Rostocker und Leipziger Tagen in die Linse der Photographierenden. Johnson dagegen grimassierte noch immer bei solcher Gelegenheit. Das schöne »Waldgesicht« geriet für ihn immer mehr zu einer zweiten Ingeborg Holm. Den Tonio Kröger hatte Uwe Johnson zum damaligen Zeitpunkt schon längst für sich entdeckt; bereits 1951 war ihm der zu einem Anstoß für die Babendererde-Novelle geworden.

Zunächst einmal trug Uwe Johnson seinem »Deerie« mehr oder minder die Ehe an. Sprach jedenfalls ihr und ihrer Mutter gegenüber von möglicher Heirat. Diese »bürgerlichen« Pläne erschienen zumindest so konkret, daß er der Freundin schon einmal versichern konnte, sein Augenfehler würde sich nicht auf beider Kinder vererben. Auch gehörte die Freundin, neben einigen Schulfreunden und der Hochschullehrerin Hildegard Emmel, zu den wenigen, die damals wußten, daß Uwe Johnson schrieb. Sie erinnert sich:

Uwe hat in Rostock schon immer geschrieben, vorgelesen hat er erst in Leipzig. Er hat meines Erachtens von Anfang an seinen Weg als Schriftsteller klar vor sich gesehen. Ich habe eigentlich nicht daran teilgenommen, außer vielleicht insofern, als ich ihm menschliche Erlebnisse vermittelte.

Zurückhaltung bestimmte ihr Verhalten gegenüber dem jungen Dichter. Zur Attraktivität Johnsons indes trug in den Augen des »Waldgesichts« die Tatsache, daß er schrieb, nur wenig bei.

Dennoch gab Uwe Johnson nicht auf. Der pädagogische Geist sollte richten, wozu die Neigung von sich aus nicht in der Lage war. Der Student Johnson war damals noch daran gewöhnt, aus seiner FDJ-Funktion heraus in Kategorien der politischen Erziehung zu denken. In der Skizze eines Verunglückten schreibt er später:

Marxistisch gesonnenen Freunden an der Universität habe er folgen können in ihrer Theorie, auch in der moralischen, jedoch jeweils gezögert an dem Punkt, da sie KALININ zitierten: Die Ehe ist eine politische Aufgabe. (Skizze eines Verunglückten, S. 20 f.)

Ein Wort, das im Fortgang der Beziehung zwischen den beiden Rostocker Studenten gleichsam seine ironische Erfüllung finden sollte. Denn die nähere, von ihm als intensiver empfundene Bekanntschaft mit dem »Waldgesicht« machte Johnson im unmittelbaren Gefolge einer FDJ-Sitzung, die sich im zweiten Studienjahr, also im Herbst 1953, ereignet haben muß. Dabei ging es zunächst einmal zu wie bei jedem Skat- oder Schachverein. Posten mußten besetzt werden. Und ausgerechnet das »Waldgesicht« – sie war mit Sicherheit lediglich erschienen, um nicht aufzufallen – sollte zur Vorsitzenden der FDJ-Gruppe Germanistik an der Universität Rostock gemacht werden. Es entspann sich eine Diskussion, in deren Verlauf auch Uwe Johnson das Wort ergriff. Alle Einwände des »Waldgesichts«, wie man sie imaginieren kann: Zeitmangel; Unerfahrenheit; eine Frau auf diesem Posten, der einen ganzen Mann erforderte; mangelnde Lust und Eignung – nichts verfing.

Auch Uwe Johnson, der ihr sonst immer tanzstundenartig den Mantel hielt, argumentierte jetzt nicht mehr für sie. Sie sollte nun partout Vorsitzende werden. Das ging allein schon deshalb nicht, weil sie es ihrer Mutter nie würde mitteilen können. Der lange Dialektiker aus Güstrow aber sah ihrer Argumentationsnot ganz und gar ungerührt zu. Was mochte in ihm vorgehen? Hatte er doch die Stirn gehabt, ihre aus vorübergehendem Selbstzweifel geborene Bemerkung: Am besten sei es wohl, sie breche das Studium ab und werde Sekretärin, mit dem allzu nüchternen Bemerken zu kommentieren, daß er solches nicht ungern sähe? Das in die Enge getriebene, verwirrte »Waldgesicht« verfiel schließlich darauf, ganz einfach die Wahrheit zu sagen: »Dieses Amt ist mit meiner politischen Überzeugung nicht zu vereinbaren.« Im Anschluß an diesen Satz verließ sie den Raum. Das Schweigen der anderen muß in der Stille, die nach dem Zuschlagen der Tür einsetzte, sehr hörbar gewesen sein. Was tun? Man entschloß sich dazu, ausgerechnet den »Jugendfreund« Johnson zu ihrem Erzieher zu ernennen. Daß wiederum Uwe Johnson selbst sich zum »Erziehungsleiter« der unbotmäßigen Kommilitonin bestimmen ließ, mochte durchaus dem Schutz dieses Bürgerkindes dienen, das sich in den revolutionären Umbruchszeiten so gefährlich unberaten aufgeführt hatte.

Uwe Johnson hat seine Studenten-Liebe unmittelbar nach Schluß der Sitzung aufgesucht, sich für den Verlauf der Sitzung entschuldigt und ihr gleichzeitig eröffnet, durch welche Funktion er nun der Angebeteten auch organisatorisch verbunden sei. (In der Babendererde ist es Jürgen, der den Diskussionsstil der FDJ mißbilligt, ohne sich zugleich von der gesamten Organisation zu trennen. Der aber, notabene, auf Überzeugen statt auf Terrorisieren des Andersdenkenden setzt.) Mit diesem späten Besuch Johnsons an besagtem 12. November 1953 beginnt die engere Bekanntschaft zwischen den beiden. Danach ließ der zum »Erziehungsleiter« bestimmte Verehrer den erwähnten Armreif schmieden.

Im Sommer 1954, am Ende des 2. Studienjahrs und kurz vor beider Wechsel nach Leipzig, schrieb Uwe Johnson, jetzt Praktikant beim Reclam Verlag, dem »Waldgesicht« Briefe von dort. Beider Beziehung lief nun bereits auf ihr Ende zu. Bei aller Liebe und Fürsorge, bei allen Einfällen und aller literarischen Produktivität: Er ist ihr nie näher gekommen als bis zu jener Zone, die sein erstes Werk als das Gebiet der besonderen, verzichtbestimmten, heiter-resignativen Fern-Liebe zwischen Ingrid Babendererde und Jürgen Petersen beschreibt:

Auch war niemals Hoffnung gewesen in seiner Liebe und niemals Zuversicht; es genügte übrigens vollständig zu wissen dass er den Spiegel in der Tat nicht zerbrochen hatte. (Babendererde, S. 183)

Auch bei Uwe Johnson ging kein Spiegel in Scherben.

Sie waren sich einig in einem gutwilligen gleich wieder verleugneten Lächeln. [...] Ingrid hatte Lust Jürgen zu küssen. Ja warum: für sein angestrengtes Reden und Dahocken, für die Jürgensche schwierige Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit? Nein, für nichts und wieder nichts, eben überhaupt. Das lässt sich nun nur machen ohne Vorbereitung und Umstände, Jürgen aber sass sehr entfernt von ihr; so ungeschickt ist dieses Leben. Als sie aufsah, war es vorüber, dafür stand die leidig vernünftige Einsicht: besser blieb es für Jürgen bei dem Vorhandenen. (Babendererde, S. 107)

Früher Verzicht hat auf diese Weise eine früh vollendete Literatur hervorgebracht. Im Grunde wußte der Verliebte bereits am Anfang der Beziehung, daß nicht alle seine Träume in Erfüllung gehen würden. Nachdem er die Begehrte mit einer verlockend saftigen Birne verglichen hatte, fuhr Johnson in dem erwähnten Brief an Frau Luthe (30. August 1952) fort:

Das Komische daran ist, daß die Sache nach platonischem Vorbild begann und sinnlich konkrete Veränderungen dieser Entwicklungshöhe sich bisher nicht ergeben haben und sich auch nicht ergeben werden. Erfreulich und bedauerlich.

Bedauerlich vor allem. Denn der Verfasser dieser Zeilen wollte sich in der Realität noch immer nicht in den Verzicht finden. Johnson hätte, mit seiner »schwierigen Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit«, doch allzu gern der »leidig vernünftigen Einsicht« seiner Freundin abgeholfen. Jürgen indes vermag in der Babendererde auf Ingrids Liebe zu verzichten. Er hat sein Alter ego Klaus neben sich, dem er die Geliebte zusprechen kann. Der Johnson der Rostocker Studentenjahre aber stand allein. Für den Sommer 1954 wünschte er sich, was später erst der junge Schriftsteller als Erfüllungserlebnis in Marthas Ferien hat aufschreiben können: Wasserfahrt und – implizit – »uneheliche Hochzeit«. Johnsons Rostocker »Jugendliebe« orientierte sich zudem an Arne Mattssons frühem Film Sie tanzte nur einen Sommer, den der Student just in diesen Tagen gesehen hatte und den er für die »Geschichte einer Liebe, erzählt in [...] wunderbarer Reinheit und realistischer Echtheit« befand. (Brief an Frau Luthe)

Auf der Höhe ist euer Zelt versteckt in einer Lichtung inmitten verflochtenen Laubgesträuchs und Nadelholzes. Nur nach Osten ist eine Schneise offen, abgesenkt, aber der See muss ganz frei gewesen sein von Fischerbooten, und auf der Insel seid ihr allein. (Marthas Ferien, S. 45)

Das »Waldgesicht« hatte glatt »Nein« gesagt zum Alleinsein mit Uwe Johnson. Wollte statt der Wasserfahrt lieber ihre Verwandten in Kassel besuchen. Worauf in dem enttäuschten jungen Mann dann doch der »Erziehungsleiter« erwachte, der der Schutzbefohlenen erregt vorwarf, dem »kapitalistischen Westen« nachzulaufen. So entstand, im Sommer 1954, ein quälender Bruch, von dem sich ihre Beziehung nie wieder erholen sollte. Nach dem entscheidenden Gespräch machte der Student sein Fahrrad unendlich langsam fahrbereit. Keine Tür öffnete sich mehr. Das »Waldgesicht« reiste statt dessen ins Hessische ab. Uwe Johnson aber sandte ihr, die sich ihm solcherart entzog, statt sich von ihm erziehen zu lassen, ein Telegramm in den kapitalistischen Westen nach. Das lautete: »Sofort zurückkommen, gez. Uwe Johnson« – und erfüllte seine Wirkung schon deshalb nicht, weil die Mutter es ihrem Kind gar nicht erst aushändigte. »Das Hin und Her unserer Trennung muß auch ihn ziemlich zermürbt haben, und er sagte einmal: ›Mach das nicht wieder!‹« Wozu es allerdings keine Veranlassung mehr geben sollte. Die Liebesaffäre mit »Gertie«, dem »Waldgesicht«, erkaltete zunehmend in diesem Sommer 1954. Zwar ging man noch zusammen nach Leipzig. Hier aber lernte, und das ist eine andere, die nächste Geschichte, Uwe Johnson Elisabeth Schmidt kennen. Und das »Waldgesicht« wird, nachdem nunmehr Uwe sich getrennt hatte, unter seinen Freunden das »Asphaltgesicht« heißen.

Die Trennung war endgültig. Was noch zu erzählen bleibt, ist die damalige Rückwirkung auf die Konzeption der Ingrid Babendererde. Die Briefe zwischen Manfred Bierwisch und Uwe Johnson, deren erste 1955 gewechselt wurden, kreisen auch um die erotischen Erfüllungswünsche ihrer Verfasser. Ohne Antwort war des Freundes Bierwisch direkte Erkundigung vom 6. Juni 1955 geblieben: »Ist G. Deine Geliebte?« »Ossian« (so Johnsons studentischer Übername in Leipzig) erwog zu dieser Zeit bereits, spätestens aber im September 1955, seine Ingrid Babendererde – ertrinken zu lassen. Ein Gedanke übrigens, der angesichts der Andeutung über »Ossians« nunmehrigen erotischen Erfolg bei der Nachfolgerin des »Waldgesichts«, Elisabeth Schmidt, auftrat. Bierwisch erwarb sich Meriten um die deutsche Literatur, indem er den Freund von solch mörderischem Ende seines Romanerstlings per Postkarte vom 4. Oktober 1956 abbrachte. »Lass Ingrid nicht zugrunde gehen!« So kam es dann auch. Ingrid mußte ihrem Vater nicht ins nasse Grab nachfolgen. Ihr Tod, unmotiviert, wie er nur hätte ausfallen können, würde die Qualität des Buches ernsthaft beeinträchtigt haben.

Die Liebesgeschichte war beendet. Nicht aber die Geschichte ihrer Bekanntschaft, ein biographisches Nachspiel, das literarische Erlebnisgrundlage werden sollte: Das »Waldgesicht« reiste gern, und das nicht nur nach Kassel. Sie war, damals bereits, in Schweden gewesen und kannte auch einen in der DDR arbeitenden schwedischen Journalisten. Eines Tages bekam die junge Frau Besuch vom Staatssicherheitsdienst. Ein deutscher und ein russischer Mitarbeiter der »Firma« standen vor ihrer Tür. Die beiden erklärten: Das »Waldgesicht« solle Kommilitonen, daneben auch skandinavische Besucher bespitzeln, bekam dafür Reisemöglichkeiten in Aussicht gestellt. Von niemand anderem als dem »Waldgesicht« ist die Rede, wenn es heißt:

Eine Studentin erzählte von ihrer Arbeit auf der leipziger Messe und deren Folgen. Sie betreute einen skandinavischen Stand. Als die Nordleute abgereist waren, bekam sie Besuch von drei schweren, höflichen Herren, die sprachen Deutsch mit russischem Akzent und boten an: gutes Geld für brauchbare Nachrichten über Skandinavien. [...] was ihr Fall einlud, war die Erwägung, dass eine weniger resolute Person, eine ältere Frau zumal, auf der Stelle davon gelaufen wäre, nach Westberlin, über die Grenze, so rasch wie möglich. (Begleitumstände, S. 120)

Die Erfahrung des »Waldgesichtes« wurde zum Vorbild für das, was in den Mutmassungen dann der Flucht der Frau Abs vorausgehen wird. Später, beide wohnten bereits in Westberlin, sah man sich noch zuweilen. Johnson fragte, entspannt, seine ehemalige Wunschfreundin, ob sie denn glücklich sei. Der Kontakt zwischen dem Dichter, seit 1959 war er berühmt, und seiner ersten unerreichbaren Liebe riß auch später nicht ab. Uwe Johnson fragte den Architekten-Ehemann des »Waldgesichts« schon einmal, ob der nicht eifersüchtig sei – wozu indes dieser keinen Grund sehen konnte, wie auch immer regelmäßig man sich sah. Bei einer Einladung in die Westberliner Stierstraße, das muß dann schon nach 1962 gewesen sein, wurde das Ehepaar sogar Zeuge, wie Johnson einen seiner Geheimdienstanrufe empfing: Statt einer Stimme nur das Röcheln gespielten Erstickens in der Leitung. Bis wenige Jahre vor Johnsons Tod gaben die beiden ein treues Besucherpaar bei Johnsons Lesungen ab. 1978, nach dem Vortrag des Martha-Textes in Hannover, hat der Dichter seiner Jugendliebe eröffnet, daß er diesen Text lediglich geschrieben habe, weil sein Arzt ihm »etwas Leichtes verordnet« habe. 1980 dann, im Herbst, war das »Waldgesicht« erneut unter den Hörern, als Uwe Johnson aus der Skizze eines Verunglückten las. Sie hörte aus dem Text die Geschichte seiner Trennung von Elisabeth samt der Vermutung bezüglich einer geheimdienstlichen Verschwörung heraus. Daraufhin schrieb sie ihm einen Brief des Inhalts, daß ihr ehemaliger Freund auch sie bereits, ebenfalls nach der Trennung, solcher Konspiration verdächtigt habe. Sie könne ihm also nicht glauben. Der Brief kam ungebeten, und keinerlei Antwort erfolgte mehr.

POLITISIERUNG DER »BABENDERERDE«.

UWE JOHNSON IN OPPOSITION ZUR FDJ

In die Rostocker Zeit fiel Uwe Johnsons entschiedenster Akt in Sachen politische Opposition. Er selbst hat seinen Konflikt mit der Rostocker FDJ-Leitung als die Keimzelle der Babendererde bezeichnet. In den Begleitumständen heißt es, und die Rede geht vom Frühjahr, vom April oder Mai 1953:

So bekam jemand seine ureigene Sache, seinen persönlichen Handel mit der Republik, seinen Streit mit der Welt darüber, wann etwas eine Wahrheit ist und bis wann eine Wahrheit eine Bestrafung verdient. Da ihm verwehrt ist, dies öffentlich auszutragen, wird er es schriftlich tun. (Begleitumstände, S. 69)

Dies meint nichts anderes, als daß die uns heute bekannte, also die »politische« Fassung der Babendererde, aus diesem Konflikt erwachsen sei. Mancher hat daraus gefolgert, Johnson hätte erst jetzt zu schreiben begonnen, die DDR hätte ihn auf diese Weise »zum Schriftsteller gemacht«. Das ist so nicht richtig. Ein erstes Babendererde-Manuskript existierte, wie erwähnt, seit 1951, Johnson brachte es aus Güstrow nach Rostock mit.

Allerdings, und darauf zielen die zitierten Passagen aus den Begleitumständen:Erst der Protestakt des Studenten politisierte den Stoff. Nun erst entstand wohl auch der unbedingte Wille, dieses Buch gedruckt zu sehen. Jetzt sollte es ein Buch werden in der »Demokratischen Republik«, gedacht als Unterstützung einer Reform, von deren Notwendigkeit der Schüler zunehmend überzeugt gewesen sein muß. So intensiv hat Uwe Johnson noch im Rückblick seinen Protestakt erlebt, daß dieser ihm die eher »privaten« Anfänge seines Erstlings gänzlich überlagerte. Erst jetzt wurde die Babendererde zum literarisch eingelegten Einspruch des Güstrowers gegen die stalinistischen Verkrüppelungen der Demokratie, wie sie in der DDR der fünfziger Jahre auf der Tagesordnung standen.

In Ingrid Babendererde hat Johnson die Auseinandersetzung zwischen der »Freien Deutschen Jugend«, dem Staatsjugendverband der DDR, und der christlich ausgerichteten »Jungen Gemeinde« zur Basis seines Erzählens gemacht, angesiedelt im Jahr 1953. Der Erstling verfährt in dieser Hinsicht historisch »korrekt«. Im ersten Halbjahr 1953 nämlich erreichte der Kirchenkampf in der DDR seinen Höhepunkt. Und zwar ziemlich genau in jenen Monaten, in denen auch der Roman sich abspielt. Im April und Mai kam es zu einer größeren Zahl von Verhaftungen. Einige christliche Lehrer und Schüler wurden von den Schulen verwiesen, einzelne Angehörige der Studentengemeinden exmatrikuliert, mehrere christliche Heime unter Vorwänden geschlossen. In den Begleitumständen hat Johnson jenes Zeitungsblatt der »Jungen Welt« zitiert, das die »Junge Gemeinde« als »Tarnorganisation für Kriegshetze, Sabotage und Spionage im USA-Auftrag« entlarvt zu haben meinte. Der Zeitungsartikel setzte damals das öffentliche, staatlicherseits gewünschte Signal für eine spontan auch einsetzende Hatz auf die »Kugelkreuzler« (so benannt nach ihrem Symbol: der Weltkugel mit dem Kreuz darauf).

Im Rostock jener Jahre, so erinnert sich Pastor Traugott Holz, hatte immer noch die LDPD (Liberaldemokratische Partei Deutschlands) das Sagen. SED und FDJ richteten ihren Kampf weniger gegen die Blockparteien als gegen die Kirche. Vor allem galt ihr Kampf der »Jungen Gemeinde« als einer Konkurrenzorganisation. Am Anfang der Eigenstaatlichkeit der DDR bestanden noch problemlose Doppelmitgliedschaften. Nachdem freilich zu Beginn der fünfziger Jahre die FDJ-Uniform eingeführt worden war, griff eine immer schärfer artikulierte Militarisierung Platz. Sie wurde noch einmal durch den Auftrag der II. Parteikonferenz der SED von 1952 verstärkt, wonach man in der FDJ die »Kampfreserve« der Kader- und Staatspartei zu erblicken habe. Diese Umdefinition fiel also ins Abiturjahr des FDJ-Mitglieds Uwe Johnson. Insbesondere die Rostocker FDJ hatte verschärft seit den Weltjugendspielen in Berlin 1951 (zu denen auch Johnson in Berlin gewesen war, wobei ihn der Redner Stephan Hermlin in seinen Bann schlug) vom Beginn der fünfziger Jahre an Schwierigkeiten mit ihrer Rekrutierung. Seit dieser Zeit auch nahm die Rostocker FDJ die »Kugelkreuzler« offen ins Visier.

Die einzige Tatsache, die zählte und auf die es ankam, war die Entschiedenheit der Regierung, mit der »Jungen Gemeinde« eine vermeintliche Konkurrenz für die eigene Jugendorganisation abzuschaffen. Hier sprach noch einmal der Grosse Genosse Stalin. Seit Januar 1953 waren Pfarrer verhaftet und kirchliche Wohlfahrtseinrichtungen beschlagnahmt worden; nun hatte die Kampagne folgerichtig die Hochschulen erreicht. Den Arbeitern hatte man die Fahrpreisermässigungen per Dekret weggenommen; hier scheute die Regierung vor dem Weg, den sie sonst den administrativen zu nennen beliebte. Bei den Studenten sollte es demokratisch zugehen. (Begleitumstände, S. 63 f.)

In dieser Situation, im Mai des Jahres 1953, setzte die FDJ-Gruppe der Fachrichtung Germanistik an Rostocks Universität zum entscheidenden Schlag gegen die christliche Konkurrenz an. Anfang März 1953 war Stalin gestorben. Warnow- und Neptun-Werft erwiesen sich als zunehmend unruhig. Der Arbeiter- und Bauernaufstand des Juni 1953 bereitete sich vor. Am 28. April erklärte das Innenministerium der DDR die »Junge Gemeinde« zur »illegalen Organisation«. Als Folge dieser Kampagne wurden Hunderte von Oberschülern der Schule verwiesen und etwa fünfzig Pastoren und kirchliche Mitarbeiter verhaftet. Auch der Güstrower »Jugendfreund« Johnson war aufgefordert, das Seine beizutragen zur Sicherung der jungen demokratischen Republik.

Die Instruktion lautete, zusammengefasst, so: Du bist doch der Jugendfreund aus Güstrow. Du bist Org.-Leiter gewesen. Da weisst du ja Bescheid. Du meldest dich zu Wort. Du sprichst zunächst über den Kampf der »Jungen Gemeinde« gegen den Frieden, danach konkret über die drei evangelischen Banditen von der »Jungen Gemeinde«, die am vorigen Sonnabend einen Rekruten der Roten Armee mit einem Taschenmesser überfallen und schwer verletzt haben, in der Bahnhofstrasse von Güstrow.

Der Jugendfreund aus Güstrow bestritt das. Wenn so etwas da vorgekommen sei, fünfzig Meter von der Wache der Volkspolizei, dann wüsste man das in Güstrow. Ihm wurde bedeutet, die Zeit des Funktionärs sei zu schade für fruchtlose Diskussionen. Als er weiterhin sich wehrte gegen den Auftrag, bekam er gesagt: Das ist ein Befehl. (Begleitumstände, S. 64)

Das alles, samt den Vorwürfen über die angebliche Mißhandlung Jugendlicher in christlichen Heimen; und die behaupteten Überfälle der Christen auf Andersdenkende kehrt in der Babendererde wieder – in Gestalt der Auseinandersetzung des FDJ-Präsidiums mit Peter Beetz:

Dann stritten sie: Ob es die Regel sei dass in christlichen Heimen Körperbehinderte misshandelt wurden, aber sie blieben uneinig. Und das Präsidium sagte: Die Junge Gemeinde lasse sich von den Amerikanern bezahlen für Sabotage und Spionage, und als Peter Beetz das nicht glauben wollte, sagten sie: Neulich sei ein Funktionär der Freien Deutschen Jugend nachts in der Eisenbahnstrasse von Angehörigen der Jungen Gemeinde mit Messern überfallen worden, das sei von einem amerikanischen Offizier so bestellt gewesen, und Peter Beetz sagte: Es sei nicht wahr. (Babendererde, S. 143)

Auch Uwe Johnson hatte gesagt: »Es ist nicht wahr.« In den FDJ-Leitungsbeschlüssen der Universität Rostock von 1953–1959 steht auf Seite 22, leider ohne genaueres Datum, jener Beschluß verzeichnet, der den Studenten Johnson als Befehl erreichen wird:

Die Studentengemeinde betrachteten sie als eine Organisation, als eine Zusammenfassung von Mitgliedern, die gegen den Aufbau des Sozialismus und gegen die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik auftreten. Die »Freunde« forderten, die Rädelsführer von der Universität zu entfernen und die Mitläufer von den verbrecherischen Machenschaften der Studentengemeinde [zu] überzeugen, um sie für unseren Verband [...] zu gewinnen.

Ein Beschluß, der auch für Johnson Dienstverpflichtungscharakter hatte. – Doch er verweigerte den Befehl. Führte vielmehr aus, was er selbst in den Begleitumständen dokumentiert hat:

Sodann stellte er seinen Auftrag dar, bis hin zum evangelischen Taschenmesser. Er erklärte sich für ausserstande, über irgend eine andere »Junge Gemeinde« zu reden als die ihm bekannte; das sei die in Güstrow. Im Gegensatz zu der Meinung des Vorredners sei das weder eine illegale noch überhaupt eine Organisation; ihr fehle eine Befehlsstruktur wie ein Mitgliedsbeitrag. Ihr Zeichen, das Kreuz auf dem Kreis der Erdkugel, diene lediglich der Erkennung, wie das Abzeichen für den Fünfjahresplan. [...] Von öffentlichen Überfällen sei in Güstrow nur der bekannt auf zwei Oberschüler, Angehörige der Jungen Gemeinde und mit eben dieser Begründung von der Schule verwiesen, in einer Vollversammlung. Zum Schluss kam der Jugendfreund aus Güstrow mit der Feststellung, die Hetze und die Schikanen gegen eine Religionsgemeinschaft konstituiere einen mehrfachen Bruch der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, ausgeführt durch die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik: Artikel 9 gewährleiste die Freiheit der Meinungsäusserung, Artikel 41 die Glaubensfreiheit und ungestörte Ausübung der Religion, und so fort bis zum Artikel 45. Wenn das eine Verschwörung sei, so wolle er, gerade als einstiger Org.-Leiter, da austreten. Kein Beifall. (Begleitumstände, S. 65 f.)

Nach der Erinnerung anwesender Kommilitonen fiel die Abrechnung Johnsons wesentlich harscher und pointierter aus. Der Protestant Uwe Johnson, Schüler einer ehemals evangelisch-reformatorischen Pflanzschule, riskierte Kopf und Kragen. Selbstverständlich wird er auch gewußt haben, daß zu seinen ca. 150 Zuhörern im restlos besetzten abendlichen Hörsaal 10 der Rostocker Alma mater auch das bürgerliche »Waldgesicht« gehörte. Wir sehen nun Tonio Kröger als einen Protestanten vor uns. Als einen rednerischen Täter, den Überwinder des Hamlet-Komplexes. Ein Teil der Zuhörer, darunter die Delinquenten und der, dem das rhetorische Henkeramt zugedacht war, der Student aus Güstrow, saßen erhöht auf der den halben Saal umlaufenden Galerie in antik-erhabener Umgebung: Szenen aus dem Parthenon schmücken noch heute die Wände. Das Rednerpult, an das der lange Blonde treten sollte, muß auch damals direkt rechts neben der Eingangstür gestanden haben. Wer durch den Eingang kommt, sieht sich sofort mit dem gesamten Auditorium konfrontiert.

Die Atmosphäre war äußerst gespannt. Die Kommilitonin Christa Trenschel, ein Studienjahr über Uwe Johnson und selbst kein Mitglied der »Jungen Gemeinde«, sah auffallend viele fremde Gesichter im Saal und konstatierte das coram publico, was große Unruhe bewirkte und zu einer Rüge der Sitzungsleitung führte. Die Fremden wurden den Studenten daraufhin als die »Freunde von der Kreisleitung« vorgestellt. Angeklagt waren mehrere Studentinnen, u. a. Renate Fründt und Ilse Rahnenführer, die beide später als Germanistinnen in Halle bzw. Rostock arbeiten würden. Sie saßen, roten Kopfes und deutlich verängstigt, gut sichtbar auf der Galerie. Die Sitzungsleitung wiederum, man erinnert das Aula-Tribunal in Ingrid Babendererde, saß an einem langen Extratisch vor dem Auditorium. Zügig ging die Leitung zur Sache über. Der als Ankläger Vorgesehene, Uwe Johnson, schritt zum Rednerplatz. Begann, langsam und gleichmäßig, mit leiser Stimme und aus gebeugter Haltung heraus sehr konzentriert zu sprechen. Die Unterarme schauten aus der Jacke wie fremd hervor. Wenn er den Kopf bewegte, funkelte die Brille. Die gutturale Stimme füllte den Raum vom ersten Wort an. Uwe Johnson äußerte sich nicht nur über die Verfassung der »Demokratischen Republik«, sondern berichtete, er wird es aufgreifen im letzten Band der Jahrestage, zusätzlich über die Praxis des Geheimdienstes an den Schulen; weiterhin, daß man auch ihn schon gezwungen habe, Beurteilungen und »Tatsachen« zu liefern, die dann teilweise bei der strafrechtlichen Verurteilung von Mitschülern Verwendung gefunden hätten. Uwe Johnson wies auf die im Hörsaal anwesenden einzelnen FDJ-Größen. Referierte, was sie ihm abverlangt hatten: Er sei dazu aufgefordert worden, heute abend, so wörtlich, »ein Schwein zu schlachten«. Der bäuerliche Hintergrund dieser stalinistischen Chargen war noch intakt. Im Saal herrschte lautlose Stille.

Auch nachdem der »Jugendfreund« aus Güstrow sein Werk verrichtet hatte, erhoben sich keinerlei Proteste oder Gegendarstellungen der Angegriffenen. Die Mehrheit der Zuhörer hielt Johnson, so ein anderer Zeuge des damaligen Auftritts, entweder für einen Selbstmörder oder für einen Narren. Johnson setzte sich wieder. Die Apparatschiks fingen sich rasch. Die Verurteilung der Mitglieder der »Jungen Gemeinde« kam am Ende im Sinn der gewünschten Geschäftsordnung und ganz »demokratisch« zustande. Lediglich fünf Stimmen ergaben sich gegen ihren Ausschluß. Eine davon war die Uwe Johnsons. Seine unmittelbare Umgebung bis hin zu seiner bürgerlichen Freundin wagte ihm diesen Entschluß nicht nachzutun. Schweigend verließ der Rotblonde mit den zu kurzen Ärmeln den Hörsaal 10. Ein Schriftsteller auf dem Weg zum Thema seines ersten Romans. Den Studenten der Philosophischen Fakultät galt er nach seinem Protest als ein Stigmatisierter, fand sich zunehmend isoliert. Der Beifall, den der Güstrower nicht erhielt, er hat ihn dann seiner Romanfigur Ingrid Babendererde zugeschrieben. Nach deren Protestauftritt in der Aula heißt es:

Sie betrachtete ohne Verständnis die gleichmässig aufruckenden Rükken, überall flackerten die aufspringenden klatschenden Hände; unter ihr der Fussboden bebte gefährlich von dem unaufhörlichen Trampeln. Und Söten klatschte, und Dicken Bormann klatschte, und Pummelchen klatschte, und Eva Mau klatschte, und Itsche klaschte, und Hannes klatschte, und Marianne schlug ihre Hände aufeinander in einer lauten Art, und unablässig klingelte der Wecker.

Als Ingrid auf dem Flur war, schlug die Stille über ihr zusammen wie ein anderer Regen von Lärm. (Babendererde, S. 175)

Über die möglichen politischen Veränderungen, die sein Auftritt bewirken konnte, wird Uwe Johnson sich kaum Illusionen gemacht haben. Obwohl der Protestauftritt einen politischen Akt dargestellt hatte, muß er doch zuallererst als existentielle Selbstbefreiung aus alten Verstrickungen gelten. Am wenigsten ging es dem Güstrower »Jugendfreund« dabei um die Kirche. Allein ihre in der Verfassung verbrieften Rechte sollten unversehrt bleiben. Nach seiner Rede galt für Uwe Johnson, was er in bezug auf die Ingrid-Figur schreiben wird: »Sie mag verhaftet sein. Vielleicht ist sie auch nicht verhaftet. Aber der Fragebogen ist ihr verdorben, jetzt hat sie einen Knoten in ihrem Lebenslauf, oh verflucht.« (ebd., S. 213) Daß auch der Kommilitone aus Güstrow einen Knoten in seinem Lebenslauf hatte, wußten im Frühjahr 1953 an Rostocks Universität alle ganz schnell. Gerüchte entstanden. Er sei bereits verhaftet, denn er kam nicht mehr regelmäßig zu den Lehrveranstaltungen. Andere wollten wissen, er sei von der Stasi »umgedreht« worden. Wie anders könne er sonst weiterhin frei umhergehen? Im Mai, so hat Johnson es selbst beschrieben, wurde er dann in die Partei-Zentrale bestellt, wo man ihn zweimal verhörte. Er hatte die Mitgliedsbücher für die FDJ und für die Deutsch-Sowjetische Freundschaftsgesellschaft mitzubringen – »auffälliger Weise keine Zahnbürste. Offenbar sollte es demokratisch zugehen«.

Die Anklagen lauteten auf: Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen. Diversion. Bündnis mit dem Klassenfeind. Agitation gegen den Fünfjahresplan. Missbrauch der Geschichtswissenschaften. Bruch der Befehlsdisziplin. Ausführung eines Agentenauftrags. Verächtlichmachung der demokratischen Presse. Provokatorisches Austreten. (Begleitumstände, S. 66)

»Ausgetreten« aber war Johnson nicht. Lediglich provokatorisch aufgetreten mit der Behauptung, er wolle austreten – ein nicht unerheblicher Unterschied. Am Ende wurde der Güstrower »Jugendfreund« exmatrikuliert. Erhielt Studienverbot für das Gebiet der »Demokratischen Republik«.

Die politische Entwicklung innerhalb der DDR erwies sich jedoch als vorteilhaft für Uwe Johnson: Die Streichung wurde ihrerseits gestrichen. Die SED sah ein, daß sie sich in diesem Kirchenkampf übernommen hatte. Auf den 10. Juni 1953 fiel die erneute Anerkennung der »Jungen Gemeinde« durch das Innenministerium, vollzogen vom Ministerpräsidenten Grotewohl. Stalin war tot. Berija würde ihm bald folgen. Und niemand wußte so recht, wie es weitergehen würde. Die Regierung versuchte eine Frontbegradigung. Schloß ihren Frieden mit der Kirche und ließ auf diese Weise auch wieder den exmatrikulierten Johnson zum Studium zu.

Die Regierung bedauert ihre Massnahmen. [...] Alle Schüler, die wegen ihrer Zugehörigkeit zur Jungen Gemeinde von den Oberschulen gewiesen wurden, müssen wieder aufgenommen werden. Wegen Eintretens für solche Schüler entlassene Lehrer dürfen ihre Tätigkeit wieder aufnehmen. (Begleitumstände, S. 67)

Johnson war, als man ihm die Streichung der Streichung eröffnete, bereits entschlossen, an die Universität Leipzig zu gehen. Auch wird er aufschreiben, worüber er in Rostock nicht mehr reden konnte. So konsequent wie subtil unterstand der angehende Schriftsteller dabei dem Denken jenes Literaturtheoretikers, der Literatur stets als gesellschaftliche Veranstaltung begriffen hatte: Walter Benjamin.

So wird er zum Lehrling in diesem Beruf, den er sich selber beizubringen hat. Flugs erfindet er für sich noch einmal Walter Benjamins IV. These über die Technik des Schriftstellers:

Meide beliebiges Handwerkszeug. Pedantisches Beharren bei gewissen Papieren, Federn, Tinten ist von Nutzen. Nicht Luxus, aber Fülle dieser Utensilien ist unerlässlich. (Begleitumstände, S. 69)

Johnson begann die Babendererde in der postum veröffentlichten Form zu verfassen.

HILDEGARD EMMEL – ERSTE LESERIN DER »BABENDERERDE«

Hildegard Emmel, Anfang der vierziger Jahre universitäre Lehrkraft, spätere Professorin für Deutsche Literatur, war die erste »berufene« Leserin der Ingrid Babendererde. Sie stand damals am Anfang ihrer wissenschaftlichen Karriere, die in Rostock begann und die sie über Oslo, Ankara und die USA in die Schweiz führen würde. Das erste persönliche Zusammentreffen datiert auf das Jahr 1953, genauer auf einen Montagabend im September. Im Anschluß an Hildegard Emmels Spezialseminar Goethe als Rezensent findet sich der Student Johnson, es ist kurz nach acht Uhr abends, vor dem »Professoren-Zimmer« des Rostocker Germanistik-Seminars ein. Linkisch, aber auch bestimmt und mit bemüht tadellosen Formen, in merkwürdig immergleichem Rhythmus sprechend, steht ein sehr junger Dichter vor einer wenig älteren Literatur-Lehrerin:

Es war einmal ein 19jähriger Student. Er hatte eine Novelle geschrieben. Diese Novelle musste mit der Schreibmaschine geschrieben werden und zu diesem Zweck musste sie in eine andere Stadt geschickt werden.

Es handelte sich um einen schreibmaschinegeschriebenen Text, offenbar in Güstrow abgetippt, der dreißig bis vierzig Seiten umfaßte.

Der Student wünschte sich, von der Lehrkraft als Autor entdeckt, »erkannt« zu werden. Johnson drang geradezu auf die Beurteilung des Textes durch Hildegard Emmel: Wenige Wochen später erschien er, das Urteil einzufordern. Die erklärte, es sei unmöglich, zu sagen, ob aus dem Autor dieser Novelle einmal ein bedeutender Schriftsteller werden könnte, mochte dies andererseits aber auch nicht ausschließen. Johnson mag dennoch nicht unzufrieden gewesen sein. Zielte sein Interesse doch, wie von Hildegard Emmel selbst angenommen, in gleichem Maße auf die Person der Lehrerin wie auf deren literarische Beurteilung. Zudem muß Uwe Johnson damals ein weiteres literaturwissenschaftliches Arbeiten als mögliche Berufsperspektive erwogen haben. Hier konnte die Dozentin ihm womöglich hilfreich sein.

Johnson legte die Zwischenprüfung bei Hildegard Emmel ab. Vor die freie Figurenwahl in Goethes Wilhelm Meister gestellt, entschied er sich bei dieser Gelegenheit für die »schöne Seele«, das Fräulein von Klettenberg. Ganze Passagen der Wahlverwandtschaften wußte er auswendig herzusagen. Auf die Vorbereitung zu dieser Prüfung geht denn auch seine habituelle Vertrautheit mit dem Goetheschen Text zurück, dessen Ottilie er mehrfach noch in seinem späteren Werk herbeizitieren wird. Auch mit Eduard Mörikes Texten, dessen Orplid-Lied die Mutmassungen anklingen lassen, wurde der Student womöglich bei Hildegard Emmel bekannt, die sich im Rahmen einer Lehrveranstaltung mit dem schwäbischen Dichter beschäftigt hatte. Nach abgelegtem Examen in Leipzig, 1956 dann, hat Uwe Johnson die Lehrerin eindringlich und durchaus in der Hoffnung auf eine Zusammenarbeit nach den Möglichkeiten einer Assistenz befragt. Doch Hildegard Emmel hatte sich bereits für einen anderen Kandidaten entschieden. Der Leipziger Praktikant und Student Johnson hatte seiner Professorin im Sommer und Herbst 1954 eine Flut persönlicher Briefe geschrieben. Hildegard Emmel sah diese Briefe als Liebesbriefe an und ließ sie unbeantwortet, hat sie später in einem Akt der Diskretion vernichtet. Beachtlich erscheint immerhin, daß seine Beziehung zum »Waldgesicht« den Studenten keineswegs daran hinderte, diese Briefe zu verfassen. Solche gelegentliche bohemienhafte Lockerkeit ist bemerkenswert an einem Mann, der später die Ausschließlichkeit der Zweierbeziehung in geradezu fundamentalistischer Unbedingtheit proklamieren sollte.

Hildegard Emmel und Uwe Johnson sind einander später nicht mehr begegnet. Zwar nahm Uwe Johnson in den Jahren 1967/68, als beide sich zufällig in den USA aufhielten, den Kontakt wieder auf. Ein Treffen scheiterte jedoch an der allzu zeitraubenden Postzustellung. Hildegard Emmel meint mit Bestimmtheit, daß Johnson in Rostock von der Staatssicherheit überwacht wurde. Beide seien sie bei ihren Spaziergängen in der Nähe der Rostocker Universität von der »Firma« beobachtet worden. Außerdem saßen, wie bereits erwähnt, auch im Germanistik-Seminar zwei, die man der Spitzeltätigkeit verdächtigte. In diesem Sinn erweisen sich »Mesewinkel« und »Fabian«, so nennt sich der Hauptmann des SSD Rohlfs in den Mutmassungen zuweilen, als Rostocker Autochthone.

DER STUDENT ALS MARXIST.

ZWISCHENPRÜFUNG IN LEIPZIG

Auch die zweite Zwischenprüfung vom 21. September 1954, der Student stand unmittelbar vor seinem Wechsel nach Leipzig, wurde mit Bravour bewältigt. Johnson schloß sein zweites Studienjahr mit einem »Sehr Gut« in fast allen Fächern ab. Lediglich was die Hpt.-Probleme der dtsch. Wortbildungs- und Satzlehre betraf, reichte es nur zum »Gut«.

Im letzten Rostocker Semester hatte der Kommilitone Johnson eine Seminargruppe ausgerechnet zu Stalins Text Neue Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR geleitet. Am 15. April 1954 schließlich schrieb er seine – erhaltene und in Entwöhnung von einem Arbeitsplatz publizierte – Zwischenprüfungs-Klausur in Marxismus-Leninismus: Wesen und Funktionen des Staates in der Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus.

Diese Klausur liegt, und das ist wert, bedacht zu werden, zeitlich nach Johnsons spektakulärem Auftritt anläßlich der Verfolgung von Mitgliedern der »Jungen Gemeinde«. Allenfalls indirekt ist der dabei markierte Bruch. Der Student spielte vielmehr »business as usual«. Ging mit hoher interpretatorischer Intelligenz seinen Gegenstand an. Und sprachlich, in der Souveränität der teilweise exquisiten Formulierungen, auf beinahe schon schriftstellerischem Niveau. Hier schrieb einer, dessen ideologische Linie, gemessen an der rechten Lehre der damaligen DDR, fast als »linksradikal« begriffen werden könnte. Johnson forderte nämlich, und das galt seit dem Stalinschen »Sieg des Sozialismus in einem Land« als große Trotzkistische Abweichung, die Internationalität der Revolution. Zudem die Bewaffnung des ganzen Volkes, die utopisch gedachte Überführung des Staates in einen Verwalter bloß noch von Sachen und Produktionsprozessen. Johnsons Konzept in dieser Klausur zielte, so scheint es, auf alles andere als die Einführung des Sozialismus auf Filzsohlen ab, wie sie seit dem 17. Juni von der verunsicherten Führung der DDR propagiert wurde. Hier schrieb bereits der Autor der Babendererde, der die Republik verbessern wollte.

Auch wenn sich der Student am Ende salvatorisch auf den Realpolitiker Lenin beruft, so erscheint sein Konzept doch als eines, das wesentlich utopisch-sozialistisch ausgerichtet war. (Johnsons Kritik des »Revisionismus«, man kann diese so auch bei Brecht finden, mit eingeschlossen.) Der »marxistische« Student Johnson kritisierte im übrigen die Bürokratie in der Sprache des jungen Marx, der sich ja noch an junghegelianischer Religionskritik orientierte. So, wenn er die »isolierte Heiligkeit« der Bürokratie als »Scheinheiligkeit« und weiterhin durch die Feststellung entlarvte, daß der »Verwaltungsaufwand in seinen Löhnen das Niveau der Produktionsarbeit« durchaus überschreiten würde. Schließlich gipfelt die Kritik des Staates als eines bürokratischen Leviathan in der Utopie vom menschlichen Staat, der darin, daß er nur noch Produktionsprozesse und Sachen verwalte, zum überhaupt ersten Mal in der Geschichte den Namen »Gemeinwesen« sich verdienen könne.

Damit nicht genug. Zum ersten Mal unternimmt der Schriftsteller als Student es auch, das als »Parteilichkeit« Geforderte zu konterkarieren. Daß Johnson sich in diesen Jahren seine Spielart sozialistischer Utopie bewahrt hatte (im kommenden Semester würde er Ernst Bloch hören), bedeutete keinesfalls, daß er im selben Maße noch Verständnis für die »Kulturförderung« seines Staates gehabt hätte. Die DDR-spezifische Existenz des »Amtes für Literatur« wird nicht toleriert. Mit sprachlicher List artikuliert der Prüfling Widerspruch, schlitzohrig prägt er die Formel vom Preis des »über das ganze Land verzweigten sensiblen und zähen Verwaltungsmechanismus«, die am Ende denn auch ein Fragezeichen des Korrektors provoziert. Johnson schreibt von »kulturell-erzieherischer Funktion«. Diese »hat sich zu beschäftigen mit bourgeoisen Rückständen an Individualismus und Begriffsstutzigkeit sowie mit der Angleichung des Bewusstseins an sozialistische Verhältnisse«. Ein Opfer solcher »Angleichung« war er durch die »Junge Gemeinde«-Affäre selbst bereits geworden. Dort wie in der Klausur hatte er öffentlich gemacht, was die im verborgenen arbeitende Anpassung forderte.

Der Beifall, der den Studenten für seine Arbeit erwartete, erwies sich als pflichtgemäße Anerkennung bewiesener Belesenheit. Bemängelt wurde vom Marxismus-Lehrer Scheithauer am Schluß der Arbeit, daß »praktische Beispiele aus SU und DDR« fehlten. Die Klausur wurde dennoch mit »1–2« bewertet.

Diese Entwicklung ist um so beachtlicher, wenn man bedenkt, daß Uwe Johnson als ein doch recht überzeugter FDJ-Funktionär nach Rostock gekommen war. Jetzt steht er als leicht donquichottesker Herold der Umgestaltung vor uns. Noch immer charakterisiert durch sein rotblondes, abstehendes Haar, sein schüchtern-hölzernes Auftreten und den leichten Silberblick hinter Billigbrillen, die bei Regen schon einmal Rostspuren im Gesicht hinterließen, gekleidet in Jacketts, deren Ärmel auf halber Unterarmlänge auszulaufen pflegten, ist er den Rostocker Kommilitoninnen, neben dem »Waldgesicht« auch Christa Trenschel und Getrude Harlaß, durchaus im Gedächtnis geblieben. Ein wenig ansprechendes Äußeres sollte kompensiert werden durch betonte geistige Überlegenheit. Momente gleichsam der Epiphanie schienen sich ereignet zu haben: wenn dieser junge Mann in den Lehrveranstaltungen das Wort ergriff – mit rhetorischer Brillanz und der Ironie englischen Understatements ausgestattet.

Stets sei von ihm, erinnert sich das »Waldgesicht«, die »vollkommene Antwort« zu erwarten gewesen. Was übrigens auch für die sprachwissenschaftlichen Disziplinen galt. Johnson sprach allerdings erst, wenn andere offenbar nichts mehr zu sagen wußten, und dann oft erst auf Aufforderung des Dozenten. Ein Primus also ohne die Allüren eines solchen. In just diesem Herbstsemester 1953 hielt in Rostock Professor Sielaff in den Hörsälen 1 und 12 seine Vorlesung Literatur des demokratischen Deutschland Vier Stunden wöchentlich. Sich an sein Auditorium wendend, in dem sich auch Johnson und seine Freundin befanden, fragte Professor Sielaff einmal nach der Meinung seiner Hörer. Große Stille. Dann die gaumige Stimme des Güstrowers, die nichts als einen Namen sagte: »Pablo Neruda«. Was meinte dieser Student damit? Sielaff galt als Genosse. Seine Ausführungen, schon deren Titel weist daraufhin, müssen den Geist der Linientreue geatmet haben. Der Spanisch Schreibende hatte gewiß wenig verloren in einer Vorlesung zur Literatur des demokratischen Deutschland Doch hatte er das entscheidende Problem gelöst, das für Johnson die gesamten Ausführungen des Professors überschattet haben mußte: das Dilemma nämlich, wie man poetisch schreiben und dennoch ein guter Kommunist sein konnte. Der Autor der Babendererde mag sich daher selber als einer verstanden haben, der sich als Ziel die Synthese aus Politik und Poesie gesetzt hat. Seine lakonische Opposition indes ging noch einher mit eher einverstandenen Elementen. Denn im Vorjahr 1952 hatte Neruda in seine chilenische Heimat heimkehren können, was man in der DDR durchaus gewürdigt hatte.

Wie auch immer: Johnsons Antwort war geeignet, Aufmerksamkeit auf den Sprecher zu ziehen. Ähnliches galt auch andernorts. So für die Anwesenheit Johnsons auf Universitätspartys, zu denen die Lehrkräfte den offenbar ebenso begabten wie merkwürdigen Studenten einluden. Auch im englischen Konversationskurs hatte er Aufmerksamkeit erweckt, indem er einmal den Hamlet-Monolog »losließ«. Der Erinnerung einer Kommilitonin zufolge sprach Johnson laut und artikuliert, ohne akustische Deckung hinter verschliffener Aussprache zu suchen.

Auf einer Party bei Vietinghoff spielte der lange Blonde dann durch, wie sich einer verhalten müßte, der wie sein Schulfreund Lehmbäcker und später wie Rohlfs in den Mutmassungen ein steifes Bein hatte. Uwe Johnson hinkte den gesamten Abend und gab, befragt, an, er wolle in Erfahrung bringen, wie sich das Leben für einen mit steifem Bein gestalte. Tagelang ging Johnson danach hinkend durch das akademische Revier in Rostock. Im Bewußtsein der Rostocker Mitstudenten damals als einer, der

regelmässig Verabredungen im ehemaligen ›Volkshaus‹ [hat] schräg gegenüber der Universität, am Stalinplatz, da residiert der Staatssicherheitsdienst und führt Buch über die Äusserungen der Studenten. (Begleitumstände, S. 71)

Wenn Johnson bereits 1953 in der Rostocker Stasi-Dienststelle das Urbild des Stasi-Mannes Rohlfs aus den Mutmassungen kennengelernt hat, dann hat dieser in der Realität ebenso gehumpelt wie später im Roman. In den Begleitumständen heißt es weiter, die staatliche Überwachung machte

reiselustig: wenn die Kommilitonen in Rostock fremd tun, wird einer für das nächste Studienjahr welche aussuchen in Leipzig, die haben keine Ursache, ihn zu kennen. (Begleitumstände, S. 71)

Seine beiden Freundinnen, das »Waldgesicht« und die Ahrenshooperin Ella Löber, gingen zusammen mit Johnson nach Leipzig. Am 17. August 1954 hatte er die Erlaubnis zum Studienplatzwechsel erhalten, am 6. September wurde er in Rostock exmatrikuliert. Mit seinen persönlichen Dingen und mit einer Truhe voll Bücher, die er zum Schreiben benötigte, reiste der Student nach Leipzig. Mit der Reichsbahn wechselte er in das Gebiet der »unklaren südlich singenden Sprache« über.

Uwe Johnson

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